Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Der Präsentismus der Politik von Angela Merkel ist lähmend

Claus Leggewie · 17 September 2013
Mit Claus Leggewie spricht Jakub Stańczyk über den Zustand des Bewusstseins der deutschen Gesellschaft vor den Bundestagswahlen, über die amtierende Kanzlerin und die europäische Energiepolitik.

Jakub Stańczyk: Das endgültige Ergebnis der Bundestagswahl wird zweifellos von dem Zustand des Bewusstseins der deutschen Gesellschaft abhängen. Wie bewerten Sie diesen Zustand?

Claus Leggewie: Deutschland fühlt sich wie eine Insel der Glücksseligkeit in einem Meer von Krisen. Viele Deutsche bleiben gedanklich in der Gegenwart und versuchen, sich gegen eventuelle Risiken der Zukunft durch die Bestätigung eines vermeintlich bewährten Teams abzusichern. Sie werden am Sonntag die Partei wählen, die ihnen verspricht, diese Illusion der Glückseligkeit aufrechtzuerhalten. Sie schlagen einen ausgetretenen Weg ein, was uns und Europa künftig in noch größere Schwierigkeiten bringen könnte.

Die Situation in Deutschland wird allseits als gut beurteilt. Erst kürzlich war noch in aller Munde, dass die Wirtschaft der Bundesrepublik nach der Krise mit Volldampf losgelegt hat. Der Erfolg wird sowohl dem langfristigen Einfluss der Hartz-Reformen, als auch der stabilen Politik von Kanzlerin Merkel zugeschrieben …

Weder waren die Hartz-Reformen so erfolgreich, wie behauptet wird (weil sie die soziale Ungleichheit verschärft haben), noch kann man diese Reformen Merkel zurechnen. Und derzeit fehlt es an Reformen, die die Zukunft Europas sichern würden. Wirklich neu wäre, wenn Kanzlerin Merkel ein konsequentes Energiewendeprogramm vorlegen würde, das gesamteuropäisch abgesprochen ist und vor allem in Südeuropa Entwicklungsimpulse setzt. Wir belasten die Schultern künftiger Generationen mit gewaltigen Schulden und vor allem auch mit Treibhausgasemissionen, als gäbe es kein Morgen. Der Präsentismus dieser Politik ist lähmend.

Aber wer, wenn nicht Angela Merkel? Gibt es Parteien, die keine Illusionen schaffen, sondern ein Programm und eine Vision für das künftige Deutschlands haben?

Visionen zu haben, ist vielleicht zu viel verlangt. Rot-Grün-Rot würde eventuell die Revision und Erneuerung des Wohlfahrtsstaates betreiben, Schwarz-Grün könnte die Energiewende zur zentralen Achse der Politik machen. Energiepolitik ist heute keine Randbedingung der Entwicklung, eine Umstellung auf erneuerbare Energien erlaubt ein ganz anderes und besseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das stärker auf die Selbstorganisation lokaler Gemeinschaften setzt und einen alternativen und besseren Lebensstil in den Bereichen Mobilität, Ernährung und Raumplanung gestattet. Diese Themen sind zwar in Angela Merkels Rhetorik präsent, aber nicht in ihrer Politik, die durch die Gesetzgebung, Technologieentwicklung und durch ökonomische Anreizen gemacht wird. Das könnte eine schwarz-grüne Koalition am ehesten leisten, aber genau diese Option gefällt den Deutschen laut Umfragen am wenigsten.

Sie haben gesagt, dass die Energiepolitik Südeuropa helfen könnte. Welche Bedeutung hat die deutsche Energiewende für die Zukunft der europäischen Integration?

Die meisten Europäer warten darauf, dass Deutschland die Energiewende vermasselt, und dann alle weiter machen wie bisher. Dafür ist die Bundesregierung mit verantwortlich, weil sie die Energiewende nicht von Beginn an gesamteuropäisch koordiniert hat. Deutschland ist nicht das „Modell“, dem alle folgen sollen, sondern die Modifizierung der europäischen Industrie-, Energie- und Infrastrukturpolitik erfordert weit mehr supranationale Kooperation als bisher. Ein europäisches Stromnetz ließe eine enorme Autonomie der jeweiligen nationalen Strategien zu, aber dazu muss es erst einmal entstehen und zeigen, dass es funktioniert. Leider zerfällt Europa, nicht zuletzt wegen der konservativen, aus meiner Sicht verstockt-nationalistischen Obstruktion aus London und Warschau.

Erstens kann der Regierung von Donald Tusk wohl kaum Nationalismus vorgeworfen werden. Zweitens pflegt der polnische Ministerpräsident freundliche Beziehungen zur deutschen Regierung. Es ist deswegen schwer, Ihnen bezüglich Warschau zustimmen.

Am Willen zur Zusammenarbeit und der Ausrichtung auf Berlin habe ich bei Donald Tusk keinen Zweifel, wohl aber bei der polnischen Rechten, die Tusk stürzen möchte, und vor allem im Hinblick auf die Energie-, Klima- und Umweltpolitik, wo es einen anti-grünen Konsens gibt. Was tut Polens Regierung konkret für den Erfolg der COP in diesem Herbst? Inwieweit ist Polen bereit, seine Kohle- und Atompolitik auf den Prüfstand zu stellen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin ein Fan der deutsch-polnischen Kooperation und ein Kritiker der Rechten (und der Kommunisten), wo immer sie gegen Europa mobilisieren. Aber in der Umwelt- und Energiepolitik blockiert Polen leider – auch entgegen seinen eigenen Interessen.

Wir haben vieles über die Energiepolitik gesagt. Welche Fragen sind Ihrer Meinung nach im laufenden Wahlkampf noch wichtig? In ihrem Text zur heutigen Ausgabe von Kultura Liberalna meint Judy Dempsey, dass der diesjährige Wahlkampf so langweilig sei, weil die meisten besprochenen Themen demographische und mit der Integration von Migranten verbundene Fragen betreffen. Ihrer Meinung nach wäre es interessanter gewesen, die Fragen der Sicherheitspolitik und des Militärwesens in Betracht zu ziehen und beispielsweise über die europäischen Drohnen zu diskutieren.

Europa beginnt wieder, sich abzuschotten, statt proaktiv Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aufzunehmen und eine neue Willkommenskultur zu schaffen. Aber eine Wahl ist eine Wahl, und da wird die Machtfrage gestellt. Die Opposition stellt sie nicht, sie beharrt auf einer rot-grünen Koalition, obwohl diese rechnerisch keine Chance hat, statt die Alternativen zur konservativ-liberalen Stagnation klar zu machen: Entweder die Wiederherstellung des deutschen Sozialstaates in der Koalition unter Einschluss der Postkommunisten, oder – was mir persönlich lieber wäre – eine „schwarz-grüne Koalition“, die auf erneuerbare Energien setzt und die ökologischen Fragen ins Zentrum rückt. Das sind keine Nischenthemen mehr, sondern Zentralachsen einer Wiederherstellung des europäischen Einflusses in der ganzen Welt. Einwanderungspolitik funktioniert umso besser, je mehr nachhaltige und zukunftsfeste Arbeitsplätze ein Kontinent anbieten kann. Die dauerhafte Beruhigung der Konfliktzone an der südlichen Peripherie Europas ist auch nur durch eine gemeinsame Entwicklung zu gewährleisten. Der Vorschlag Polens und Österreichs, die C-Waffen-Lager in Syrien unter europäische Kontrolle zu stellen, war da ein guter Anstoß für eine gesamteuropäische Friedens- und Entwicklungspolitik.