Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Die Krisenpädagogik

Marek Prawda · 17 September 2013
Die heutigen widersprüchlichen Erwartungen an Deutschland und die extremen Bewertungen Deutschlands bestätigen seinen besonderen Status in Europa.

Die Bundeskanzlerin beteuert ihre pro-europäischen Instinkte, aber auch die entschiedene Verteidigung deutscher Interessen. Das wichtigste Ergebnis der deutschen Wahlen wird sein, dass der Grund zur Aufschiebung einer Entscheidung über die Umgestaltung der Eurozone wegfällt und die rege Diskussion über weitere Hilfspakete wieder aufgenommen werden kann.

Aus der Sicht Brüssels haben die Septemberwahlen im größten Land der Europäischen Union eine Art mythische Bedeutung angenommen. Alle legen ihre Hoffnungen in diese Wahlen – die einen hoffen auf die Freigabe der Reformen und die Beschleunigung der Integration, die anderen auf den Verzicht auf allzu ehrgeizige Projekte. Die einen: auf die Abkehr von der Politik des übermäßigen Sparens zugunsten des Wachstums, die anderen: auf eine tiefergehende Konsolidierung. Es gibt keine Chance, dass nach den Wahlen alle in Europa glücklich sein könnten. Das hat zur Folge, dass der Wahlkampf in der Bundesrepublik Deutschland uns mehr über uns selbst und unsere Zwiespalte in der EU sagt, als über Deutschland. Dort herrscht relative Entspanntheit und EU-Themen sind erst in der letzten Wahlkampfphase zur Sprache gekommen.

Eine Debatte unter dem Diktat der Nervosität

Wir sind im deutschen Wahljahr der Versuchung erlegen, alles, was Berlin tut oder nicht tut mit „Wahltaktik“ zu erklären. Viel Zeit wurde damit verbracht, doppelte Bedeutungen und wahre Intentionen aufzudecken, und mit Spekulationen darüber, was nach dem 22. September geschehen wird. Deutschland hat dies dementiert, aber keiner hat es geglaubt. Die erste positive Auswirkung der Wahlen wird also die Beendigung dieses fruchtlosen Streits sein, so dass man sich wieder dem Kern der europäischen Debatte widmen kann.
Diese Debatte findet unter Krisenbedingungen und in Begleitung allgemein üblicher Klagen über das „deutsche Diktat“ statt. Viel enttäuschter aber sind wir, wenn Deutschland sich aus der „Führungsrolle“ in der EU zurückzieht: Wenn es schon die meisten Instrumente hat, sollte es diese doch im Kampf gegen die Krise stärker einsetzen. Derartig gegensätzliche Erwartungen und die extremen Bewertungen bestätigen im Grunde den besonderen Status, den Deutschland heute in Europa hat. Staaten, die mit solchen Reaktionen konfrontiert sind, erfahren dadurch, dass sie als Großmacht behandelt werden – ob sie es wollen oder nicht. Die Bundeskanzlerin beteuert ihre pro-europäischen Instinkte, aber auch die entschlossene Verteidigung deutscher Interessen. Dieser zweite Aspekt wird sicherlich stärker betont als das ihr christdemokratischer Vorgänger Helmuth Kohl getan hatte, weil sich die Erwartungen der Wähler geändert haben. Im Zuge der Krise hat sich auch die Atmosphäre der Gespräche über die Zusammenarbeit in der EU geändert. Es ist gelungen, feste Instrumente zur Vorbeugung von Problemen in der Zukunft zu schaffen, wir müssen uns nicht mehr nur auf die Brandlöschung beschränken: nie hatten wir so viel „Europa“. Dennoch sind wir noch immer nicht guter Dinge. Zwar ist das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals und gegenseitiger Abhängigkeit gewachsen, also im Grunde genommen das Gefühl für Nähe. Nur ist das die kühle Nähe von Europäern, die mehr Groll gegeneinander hegen als Vertrauen und die die Krise unterschiedlich verstehen. „Mehr Europa“ bedeutet für die einen mehr Geld im Rahmen von Hilfspaketen, für die anderen: mehr Kontrolle und finanzielle Disziplin. Es wächst die Versuchung, in kleineren Kreisen Lösungen zu finden, ohne sich auf die gesamte EU zu verlassen. Es wird geteilt in Nehmer und Geber, Norden und Süden, in die Eurozone und die Nicht-Eurozone. Die nationalen Interessen werden mit – sagen wir einmal – mehr Direktheit ausgedrückt. Das mag verständlich sein, aber ohne tiefere Verwurzelung in dem Gemeinschaftsgefühl können sich die Teilungen in der EU leicht zuspitzen und sogar toxisch werden. Die Diskussion über ein Rezept für die Krise wird zu einer Jagd auf das Recht zur ausschließlichen Interpretation der Ursachen und zur Denunzierung der Schuldigen. In der Sprache der Politiker, die von Natur aus um eine differenzierte Wählerschaft werben müssen, können diese Interpretationen zu vereinfachten Motti führen. Und weil es den Menschen schwer fällt, sich in der objektiv komplexen Materie zurechtzufinden, und die EU aufgehört hat, ein automatisch akzeptierter positiver Bezugspunkt zu sein, kann das zu einer Art „geistiger Heimatlosigkeit“ führen. Es kommt zu Situationen wie der, dass beispielsweise die Boulevardpresse in einem Land im Norden den Finanzminister eines Landes im Süden mit der Titelzeile begrüßt: „Willkommen in einem Land, in dem die Menschen jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, um hart zu arbeiten und zwar bis zu ihrem 67. Lebensjahr“. Als Reaktion kommen Anschuldigungen, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen. Das ganze schaukelt sich hoch und es ist kein Ende in Sicht.

Das Wahlrätsel

Was erfahren wir bei diesen Wahlen über die Stimmungen in der deutschen Gesellschaft? Es scheint, dass diese Gesellschaft den wahren Ausdauertest erst wesentlich später durchlaufen wird, wenn Berlin gezwungen sein wird, eine eventuelle Restrukturierung der Schulden der Länder vorzunehmen, die unter die Hilfsprogramme fallen, das bedeutet: reale Ausgaben, und nicht nur Kredite. Jetzt hören die Wähler, dass Deutschland von der Krise profitiert hat, denn als sicherer Zufluchtsort für die Investoren zahlt es für seine Schulden außergewöhnlich niedrige Zinsen. Zwar werden populistische Stimmungen gemeldet, aber selbst wenn diese stärker sind als das mit bloßem Auge sichtbar ist, spielen die extremistischen Parteien bei diesen Wahlen keine wesentliche Rolle.

Aus der Sicht Brüssels sind die Folgen der Evolution der „Krisenpädagogik“ für Deutschland – von einer liberalen zu einer sozialen – wesentlich interessanter. Gemäß der ersten, die Berlin näher ist, ist allein der Druck des Marktes in der Lage, Politiker zu Reformen zu zwingen, und ohne strukturelle Reformen vertrauen ihnen die Märkte nicht. Seit einigen Monaten jedoch verstärkt sich in Europa die Kritik an der Kürzungspolitik und an der Reduktion der Schulden als ein Hauptkriterium. Mehr Verständnis hat man für Maßnahmen, die das Wachstum anregen. Obwohl das eher ein kommunikativer als realer Streit ist (jede Politik muss beide Elemente integrieren), hat er die Diskussion über ein europäisches Sozialmodell belebt, das immer schon populistische Bewegungen eingedämmt hat, und auch eine wichtige Quelle der demokratischen Legitimität ist. Die europäischen Staatsoberhäupter unterliegen heute den EU-Sanktionen der Sparpolitik und fühlen sich plötzlich ihrer eigenen Instrumente für diese Eindämmung und für die Stabilisierung der Demokratie entledigt. Bei dieser Gelegenheit werfen sie Deutschland vor, das Sozialmodell in Europa zu unterhöhlen, indem es ein niedriges Lohnniveau aufrecht erhält und Europa mit Billigwaren überschwemmt. Berlin aber wundert sich, weil es seine Reformen und das kooperative Modell des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als historischen Erfolg betrachtet.

Trotz der spektakulären Streitigkeiten aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktverteilung in der Wirtschaftspolitik verbindet die politischen Hauptkräfte in Deutschland mehr als sie trennt. Unabhängig davon, ob der Koalitionspartner der Christdemokraten die Liberalen oder die Sozialdemokraten sein werden – das sind die beiden wahrscheinlichsten Varianten – wird Bundeskanzlerin Merkel nicht stark von ihrem bisherigen Konsolidierungskurs abweichen. Das wichtigste Ergebnis der deutschen Wahlen wird sein, dass der Grund zur Aufschiebung einer Entscheidung über die Umgestaltung der Eurozone wegfällt und die rege Diskussion über weitere Hilfspakete wieder aufgenommen werden kann.