Politics

Die satten Polen schauen auf die Ukraine

Karolina Wigura, Kacper Szulecki, Łukasz Jasina · 18 February 2014
Die Polen sind so reich geworden, dass sie dabei glatt vergessen haben, wo sie vor 25 Jahren waren. Die Erinnerung an die eigene Misere ist bereits zu sehr verblasst, als dass wir mit den Ukrainern mitfühlen, obwohl es uns in Brüssel leicht fällt zu sagen, Polen lehrt seine europäischen Partner, in Kategorien gegenseitiger Solidarität zu denken.

Vorgestern noch verurteilte Donald Tusk beide Seiten des Konflikts in der Ukraine. Und Stefan Niesiołowski fügte hinzu: das ist ein innerer Konflikt der Ukraine, ich sehe keine Möglichkeit für eine polnische Initiative. Seit gestern reden Politiker – wie es scheint – in allen EU-Staaten Sanktionen das Wort, und Radosław Sikorski reist nach Kiew. Der Klang von Sanktionen ist jedoch häufig besser als ihre Wirkung. Die Aussage, Polen solle in der Europäischen Union die Rolle des Botschafters der Ukraine übernehmen, ist seit langem schon eine abgegriffene Redensart. Wie sollte also die polnische Politik der Ukraine gegenüber konkret aussehen?

Wie ein Echo ertönt immer wieder der Vorschlag, einen Runden Tisch zu organisieren. Das ist kein Zufall. Es ist ein wohlmeinender Vorschlag. Häufig zeugt er jedoch unbewusst von einem spezifischen Gedächtnisschwund, von postkolonialem Denken, wenn es um den Platz der Ukraine in der geopolitischen Ordnung geht, und von einer Unwissenheit, was die dortige Realität betrifft. 

Beginnen wir mit dem Gedächtnisschwund. Wir betonen in Polen gerne, wie außerordentlich wichtig für unser politisches Denken die mitteleuropäische Erfahrung ist. Zwei Totalitarismen, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, haben uns sowohl für ideologische Verblendungen wie auch für Menschenrechtsverletzungen sensibilisiert, heißt es. Unsere politischen Eliten entstammen größtenteils der demokratischen Opposition – den „Dissidentenbewegungen“. Ihre Vertreter heben das gerne hervor.

Angesichts der aktuellen Ereignisse in der Ukraine stellt sich leider heraus, dass Teile dieser Eliten, wenn es darum geht, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die demokratische Revolution weiter nach Osten zu „exportieren“, erstaunlich passiv und ohne jegliche Vision sind. Die letzten Wochen in der Ukraine haben deutlich gezeigt: das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und die Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ waren das eine, der Zusammenbruch des Kommunismus wurde aber erst durch Gorbatschow ermöglicht. Das ist eine bittere Pille für viele Politiker, aber eine bestens bekannte Tatsache unter Historikern (Andrzej Paczkowski bezeichnet das damalige Polen als einen „Spielplatz der Großmächte“).

Laut postkolonialem Denken ist die Ukraine so etwas wie unser jüngerer Bruder. Sie habe vielleicht auf der gesellschaftlichen Ebene demokratische Ambitionen, aber im Grunde genommen wisse sie nicht einmal, was Demokratie eigentlich heißt. Sie sei ein korruptes und demokratieunreifes Land, in dem es auf lange Sicht keine Chance für Rechtsstaatlichkeit und bürgerschaftliches Engagement gebe. Wenn die Ukrainer also nicht mündig genug sind, ihre Angelegenheiten mit Janukowitsch selbst zu regeln, kann es nicht unsere Aufgabe sein, ihnen bei der Demokratisierung des eigenen Landes zu helfen. Eine bequeme Ausflucht, denn sie schützt uns vor dem Vorwurf der Passivität und des Verrats unserer antitotalitären Werte.

Zudem wird oft argumentiert, die ukrainische Volkswirtschaft sei nicht überlebensfähig, werde sie von der Russischen Föderation abgetrennt. Bei dieser Rhetorik ist überraschenderweise nicht von einem Déjà-vu-Erlebnis die Rede, obwohl das gleiche Argument vor der Wende 1989 und direkt danach auch gegen uns eingesetzt wurde. Die Polen sind so reich geworden und in Gedanken fast nur noch bei den gigantischen EU-Zuschüssen, dass sie dabei glatt vergessen haben, wo sie vor 25 Jahren waren. Wir sind satt, und die Erinnerung an die eigene Misere ist bereits zu sehr verblasst, als dass wir mit den Ukrainern mitfühlen, obwohl es uns in Brüssel leicht fällt zu sagen, Polen lehrt seine europäischen Partner, in Kategorien gegenseitiger Solidarität zu denken.

Das dritte Element ist die völlige Unkenntnis, wie die ukrainische Realität aussieht. Jeder, der behauptet, man könne in Kiew die Erfolgsgeschichte des polnischen Runden Tischs wiederholen, übersieht einige grundsätzliche Dinge. Die Schüsse auf die Demonstranten sind nicht vor Jahren oder Monaten gefallen, sie fallen in diesem Augenblick. Konstruktive Gespräche sind in einer solchen Situation nur schwer vorstellbar – wenngleich natürlich der fehlende Dialog und der Wunsch, weiteres Blutvergießen zu verhindern, für einen Runden Tisch sprächen. Aber was die Teilnehmer einer solchen Gesprächsrunde betrifft, offenbart sich gleich die nächste Unkenntnis. Die Zusammensetzung der ukrainischen Opposition ist für viele polnische Beobachter zu kompliziert; sie behelfen sich daher mit Vereinfachungen und Verallgemeinerungen – sie sprechen einerseits von Euroenthusiasten und Freiheitskämpfern, andererseits von Faschisten und Hooligans. Entscheidend war beim polnischen Runden Tisch jedoch, dass die Parteireformer und die gemäßigte Opposition sich einigten – und dass letztere ein starkes gesellschaftliches Mandat hatten. Die Tendenz einer sich radikalisierenden ukrainischen Gesellschaft – was häufig mit einer Radikalisierung der politischen Gruppierungen verwechselt wird – geht in eine andere Richtung.

Was sollte die polnische Politik in dieser Situation tun? Als Liberale, die wir uns der Idee der bürgerlichen Freiheit verpflichtet fühlen, sind wir überzeugt, dass die bisherigen Bemühungen der polnischen Diplomatie, wiewohl sie der Politik der EU ähneln, nicht ausreichen. Als Mittdreißiger, die wir über zwei Drittel unseres Lebens in einem freien Polen verbracht haben, glauben wir fest daran, dass die Grundsätze, die laut der älteren Generation unserem demokratischen Staatswesen zugrunde gelegt wurden, nicht nur leere Phrasen sind. Wir können uns nicht vorstellen, dass diese Grundsätze uns mehr bedeuten als denjenigen, die sie durchgesetzt haben.

Wir sind nicht naiv. Wir wissen, dass Politik und Diplomatie auch die Kunst des bedachten und geduldigen Handelns sind. Wir wünschen uns jedoch, dass es nicht bei der Befürwortung von Sanktionen und Sikorskis Kiew-Besuch bleibt. Wir hoffen, dass Polen sich der Herausforderung stellt, in Brüssel (und den europäischen Hauptstädten) für eine veränderte Politik gegenüber Kiew und den anderen östlichen Nachbarländern – zum Beispiel Belarus – zu werben. Hinter der Schwäche der EU im Osten verbirgt sich ein ungeheurer Formalismus in Brüssel, wo die Demokratie tagtäglich gegen die Bürokratie und Technokratie verliert, sowie ein schwaches Anreizsystem für die östlichen Staaten, demokratische Reformen zu ergreifen.

Es fehlt jedoch vor allem an einem Staat, der die Verantwortung übernimmt, Fürsprecher der östlichen Staaten zu sein. Es gibt keinen Grund, wieso das von uns hochtrabend „Östliche Partnerschaft“ genannte Programm nicht zu einem echten europäischen Projekt werden sollte. Es gibt keinen Grund, wieso Polen im Verhältnis zur Ukraine nicht eine ähnliche Rolle spielen sollte, wie Deutschland gegenüber Polen bei der Aufnahme Warschaus in die EU. Und dabei geht es nicht um postkoloniales Denken, sondern um ein beharrliches Streben nach Partnerschaft.

Wir können jedoch nicht einfach historische Schemata in die Gegenwart übertragen. Es wird weder ein zweites 1989 noch ein zweites 2004 geben. Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Ukrainer wie Schüler zu behandeln, denen wir, die selbst ernannten Dozenten für Demokratie, erzählen, wie es damals bei uns war – zumal wir erst einmal vor unserer eigenen Tür kehren sollten. Überlegen wir uns lieber, wie wir die ukrainische Demokratie von unten stärken können, indem wir Lehren ziehen aus den Unzulänglichkeiten in den fünfundzwanzig Jahren unserer Transformation. Wir sollten auch nicht vergessen, dass unsere uns um die Jahrhundertwende ideal erscheinende EU heute in einer Wirtschafts- und Wertekrise steckt. Bevor wir also irgendjemanden mit hineinziehen, müssen wir uns die Frage stellen, was die EU konkret anzubieten hat. Denn trotz aller Probleme ist das immer noch einiges. Im grauen Alltag unserer Demokratie dürfen wir uns auf keinen Fall einreden lassen – wie einst Teile der westlichen Intellektuellen –, es gäbe keinen qualitativen Unterschied zwischen Demokratie und Autoritarismus. Wir können nicht gleichgültig zusehen, wie die Ukraine in den Autoritarismus abgleitet und wie ein Mantra wiederholen, das sei nicht unsere Angelegenheit und bei uns sei es auch nicht viel besser.

Es sei nur an die Worte Konstanty Geberts erinnert, der den westlichen Aktivisten einst sinngemäß ins Stammbuch schrieb: Euer Ausgangspunkt ist für uns das Ziel, von dem wir träumen. Es ist einfach, die Freiheit geringzuschätzen und sie für eine Selbstverständlichkeit zu halten, aber fragt einfach mal die Belarussen, die Russen und auch die Ukrainer, wie schwer es ist, ohne sie zu leben.

Deutsch von Andreas Volk