Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Die wichtigsten Wahlen in Europa

Karolina Wigura · 17 September 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

kann es sein, dass den Bundestagswahlen mehr Bedeutung beigemessen wird als den Wahlen zum Europaparlament? Da scheint viel Wahres dran zu sein, denn nur wenige Themen haben in den vergangenen Wochen derartige Aufregung bei den internationalen Kommentatoren erzeugt, wie das Ergebnis der am kommenden Sonntag bevorstehenden Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Kein Wunder, denn auf das Land, das vor noch genau einem Jahrzehnt Katinka Barysch vom Centre for European Reform als „kranken Menschen Europas“ bezeichnet hatte, und das – wie einer der bekanntesten Ökonomen vom Rhein, Hans-Werner Sinn, nahelegte – kaum zu retten sei, schaut man heute mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Seit der Krise der Eurozone wird die deutsche Wirtschaft immer häufiger als Vorbild für Europa genannt, wobei empfohlen wird, Gerhard Schröders Reformen aus den Jahren 2003-2006 zu kopieren. Man denke nur an den bezeichnenden Titel der Studie von The Economist aus dem vergangenen Jahr: „Modell Deutschland über alles“.

Diese Atmosphäre begünstigt die großen Hoffnungen, die in Deutschland gesetzt werden. Dass – um mit den Worten Timothy Garton Ashs zu sprechen – das mächtigste Land Europas nicht nur zur Schaffung einer stabilen und für ausländische Märkte wettbewerbsfähigen Eurozone führt, sondern sich auch an die Spitze einer starken und glaubwürdigen Europäischen Union stellt. Derartige Erwartungen haben sogar polnische Politiker verlauten lassen, so zum Beispiel Radosław Sikorski in seiner Berliner Ansprache im Jahr 2011.

Vieles deutet darauf hin, dass die großen Hoffnungen vergeblich sein werden. Warum? Einige unserer heutigen Autoren sind der Meinung, dass Angela Merkel nicht in der Lage sein wird, Europa dorthin zu führen, selbst wenn sie – worauf vieles hindeutet – zum dritten Mal als Kanzlerin wiedergewählt wird. Judy Dempsey scheint darauf hinzudeuten, die Abneigung Deutschlands gegen die Übernahme der europäischen Führung ist mit dem unverwechselbaren Stil von Merkel als Leader verbunden. Dieser sei ihrer Meinung nach anhand der Ausweichmanöver zu sehen, die die Kanzlerin in zentralen Bereichen der Politik macht, wie beispielsweise im Bereich Sicherheit und Verteidigungsbereitschaft. Würde also jemand neues an der Spitze der Bundesrepublik Deutschlands reale Veränderungen und eine weniger zurückhaltende und stärker visionäre Herangehensweise an die Politik bringen?

Es gibt nicht viele Gründe dafür, warum man davon ausgehen sollte. Kürzlich hat Ulrike Guérot von European Council on Foreign Relations darauf hingewiesen, dass Deutschland von seinen eigenen Probleme blockiert ist: angefangen bei der wachsenden Armut innerhalb der drastisch größer werdenden Gruppe älterer Menschen bis hin zur gewaltigen Ungleichheit der Löhne. Genau diese Probleme stehen im Zentrum der Debatten vor den Wahlen, was im Übrigen zu den Vorwürfen eines langweiligen Wahlkampfes geführt hat.

Zweitens lässt sich aus soziologischer Sicht sagen – und dazu neigen Piotr Buras und Claus Leggewie – dass Deutschland selbst nicht zu radikalen Veränderungen bereit ist. Laut Buras bringt es nichts, darüber nachzusinnen, ob die verbreitete Bewertung Merkels als postpolitische Teflon-Politikerin gerecht ist. Es sei nämlich kein Zufall, dass gerade jemand mit ihrem Profil alle Beliebtheitsrekorde bricht. Deutschland selbst sei nicht dazu bereit, in einigen Bereichen der Politik die Weichen umzulegen. Ähnlich denkt Leggewie. Schade, denn in der Bundesrepublik Deutschland sind andere als die heutige Koalition möglich, und sie könnten dazu führen, dass beispielsweise in Europa ein Programm der ausgeglichenen Energiepolitik entsteht, die für die Integration genauso wichtig ist, wie für die Länder im Süden, damit diese aus der Rezession herauskommen. Leggewie spart hier nicht mit Kritik an der polnischen Regierung und ihrer Energiepolitik.

Kann eine Energiepolitik im Sinne der Energiewende die Europäische Union retten? Bei all ihren Vorteilen (die wir in der Ausgabe „Freiheit, Klima, Elektrizität“ diskutiert haben), lässt sich daran zweifeln. Man kann auch Vorbehalte bezüglich der Frage haben, ob es für die Gemeinschaft gut ist, sich ausschließlich auf die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bereitschaft oder ihren Unwillen, die führende Rolle zu übernehmen, zu konzentrieren – diese Frage bespricht Marek Prawda. Je schneller wir zur Normalität zurückkehren, umso besser, so Prawda. Die erste positive Auswirkung der Bundestagswahlen wird seiner Meinung nach die Beendigung einer Reihe fruchtloser Streitigkeiten sein, so dass man sich wieder dem Kern der europäischen Debatte widmen könne. Was die Stimmungen der Wähler betrifft werde „diese Gesellschaft den wahren Ausdauertest erst wesentlich später durchlaufen, wenn Berlin gezwungen sein wird, eine eventuelle Restrukturierung der Schulden der Länder vorzunehmen, die unter die Hilfsprogramme fallen, das bedeutet: reale Ausgaben, und nicht nur Kredite.“

Abgeschlossen wird diese Ausgabe von zwei Analysen, die die Diskussion über die Rolle Deutschlands in Europa erweitern. Die Debatte über die Führungsrolle Deutschlands hat in den Europäern steckende Ressentiments aufgeweckt, die im Internet, in der Presse und auf Demonstrationen symbolisch verkörpert werden von Bildern mit Angela Merkel in SS-Uniform. Diese Bilder haben selbst in Berlin einen Schock ausgelöst. Jarosław Kuisz regt dazu an, in der Zeit der Krise und der wiederkehrenden Ressentiments wieder über den Geschichtsunterricht nachzudenken. Er spricht davon in einer Zeit, da die Gelder für Bildung in ganz Europa gekürzt werden (ebensolche Kürzungen waren in Deutschland im Rahmen der erwähnten Reformen von Gerhard Schröder vorgenommen worden). Małgorzata Ławrowska hingegen stellt Überlegungen über die deutschen Institutionen, die über Demokratie debattieren, an und fragt sich, ob, wenn in Internetportalen zum Star des Fernsehduells zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück die dreifarbige Halskette der Bundeskanzlerin erklärt wird, die debattierenden Institutionen stark genug sein werden, um die Zeit der Krise zu überstehen? Und wo sollte man diese Institutionen, außerhalb des Internets, suchen?

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Das Thema der Woche gehört zu einem Ausgaben-Zyklus, der gemeinsam von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und der Kultura Liberalna im Rahmen eines Projektes über die Zukunft der Europäischen Union erarbeitetet wurde.

Bisher sind in diesem Zyklus erschienen: „Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?“ mit Texten von Ivan Krastev, Clyde Prestowitz, Karolina Wigura und Gertrud Höhler; „Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien“ – das in den vergangenen Jahren einzige Interview mit Peter Sloterdijk für die polnische Presse; „Der Traum vom Wohlfahrtsstaat“ mit Texten von Wolfgang Streeck, Richard Sennett, Jacek Saryusz-Wolski und Łukasz Pawłowski; „Freiheit, Klima, Elektrizität!“ mit Texten von Claudia Kemfert, Wojciech Jakóbik, Grzegorz Wiśniewski und Jakub Patočki; „Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?“ mit Texten von Necla Kelek, Saskia Sassen, András L. Pap und Katarzyna Kubin. Schon bald erscheinen weitere Ausgaben.

Viel Freude bei der Lektüre!

Karolina Wigura


 

Autorinnen des Konzeptes für diese Ausgabe: Małgorzata Ławrowska und Karolina Wigura
Mitarbeit: Kacper Szulecki, Jakub Stańczyk, Hubert Czyżewski, Emilia Kaczmarek
Koordination des Projektes bei Kultura Liberalna: Ewa Serzysko
Koordination des Projektes bei der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Magdalena Przedmojska
Illustrationen: Krzysztof Niemyski

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