Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Mehr Brot, weniger Spiele

Alicja Curanović · 25 February 2014
Brot und Spiele! Im alten Rom waren Sportwettkämpfe ein Ventil für gesellschaftliche Spannungen. Die heutigen Olympischen Spiele sind vor allem ein Kampf um internationales Prestige. Aber kann man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Sieg sprechen?, fragt sich die Politologin Alicja Curanović.

Als Wladimir Putin 2007 beim Internationalen Olympischen Komitee dafür warb (er hielt seine Rede ausnahmsweise auf Englisch!), die Olympischen Winterspiele an Sotschi zu vergeben, betonte er, der Welt das neue, edlere Gesicht Russlands zeigen zu wollen. Man würde die Stereotype aus der Zeit des Kalten Krieges überwinden, wenn Millionen Zuschauer die russische Gastfreundschaft und Herzlichkeit erleben. Die Spiele in Russland, die erste internationale Veranstaltung dieser Größenordnung nach dem Zusammenbruch der UdSSR, sollte ein modernes und sicheres Russland zeigen. Einfach ein „normales“ Land.

Mit der Wahl des Ferien- und Kurortes Sotschi, eines der wärmsten Orte in Russland, als Austragungsort der Spiele, wollte man demonstrieren, dass es nichts gibt, was für die Russische Föderation unmöglich ist. Schon allein während der Wettkämpfe für ausreichende Mengen an Schnee zu sorgen, war eine Riesenherausforderung. Eine noch größere war es die Sicherheit einer Massenveranstaltung im instabilen Nordkaukasus zu garantieren. Diese Region, die von hoher Arbeitslosigkeit geplagt wird, bringt man in Russland vor allem mit Armut und Terroranschlägen in Verbindung. Olympia sollte zeigen, dass der Nordkaukasus sicher ist, und die Regierung wollte dort eine strategische Infrastruktur aufbauen, die Impulse für die weitere Entwicklung geben sollte. Putin riskierte einiges, frei nach der Maxime von Frank Sinatra If I can make it there, I will make it anywhere [Wenn ich es dort schaffe, werde ich es überall schaffen]. Je größer das Risiko desto süßer der Sieg. Aber kann man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Sieg sprechen?

Die Amtsträger auf Lebenszeit und die prominenten Abwesenden

Das neue, edlere Gesicht Russlands bekam die Weltöffentlichkeit während der Eröffnungszeremonie der Spiele zu sehen. Die von Konstantin Ernst inszenierte Show wartete mit dem Besten auf, was die russische Kultur zu bieten hat. Es gab das Dreigespann (trojka), das bei Gogol ein Symbol für Russland ist, ein Ballett nach Motiven aus Lew Tolstois „Krieg und Frieden“ und zum Schluss die Revolution von 1917, dargestellt in Kasimir Malewitschs Bildästhetik. Dieses subtile, betörende Bild der komplizierten russischen Vergangenheit hat viele positiv überrascht. Das Schauspiel folgte nicht dem normalen Schema großer Feierlichkeiten à la russe – es kam ohne ostentative Demonstration der Stärke, ohne Militärparade, ohne Panzer, Sputniks und Weltraumraketen aus. [Siehe auch den Text von Łukasz Jasina über die Eröffnungszeremonie der Spiele – HIER]

Die Schönheit der Form konnte jedoch nicht hinwegtäuschen über den mangelnden Inhalt, sprich die Probleme Russlands mit der eigenen Identität. Zweiundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR wissen die Russen immer noch nicht, was sie von der Sowjetvergangenheit halten und wie sie über sie sprechen sollen. Aber noch schwerer fällt es ihnen etwas zum Thema „Russische Föderation“ zu sagen. Wer die Eröffnungsfeier der 21. Winterspiele gesehen hat, dem ist nicht entgangen, dass die siebziger Jahre, die Breschnew-Ära, für Fortschritt und Modernität standen. Nicht eine Szene bezog sich dagegen auf die jüngste Vergangenheit, das postsowjetische Russland. „Was hätte man da den Gästen auch zeigen sollen, etwa den Beschuss des Weißen Hauses, den Tschetschenienkrieg, die Blutfehden der Mafia oder die Wirtschaftskrise von 1997?“, entgegnen die Russen, die man darauf anspricht.

Die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen verwandelten Sotschi in eine Festung, aber sie haben die russischen Bürger nicht überzeugt, dass der Nordkaukasus sicher ist.

Alicja Curanović

Falls es das Ziel der Spiele in Sotschi gewesen sein sollte, für ein neues, positives Bild Russlands in der Welt zu werben, dann fehlte es an einer schlüssigen Botschaft, was Russland im 21. Jahrhundert ist und sein will. Zudem fehlten bei der Eröffnungsfeier viele der einflussreichsten Staatsoberhäupter – die wichtigsten Adressaten der Veranstaltung. Außer den Präsidenten Chinas und der Türkei waren vor allem die „auf Lebenszeit“ amtierenden Präsidenten der ehemaligen Sowjetrepubliken anwesend. Außenminister Sergei Lawrow deutete das in einen Erfolg um, Staatsführer aus „sage und schreibe“ 44 Ländern seien Wladimir Putins Einladung gefolgt. Aber die Abwesenheit von Staatsführern der EU sowie der USA sprach Bände.

Der Westen glaubt nicht an ein „neues“ Russland. Bereits vor Beginn der Spiele überschlugen sich die Medienberichte über Pfuschereien beim Bau der olympischen Infrastruktur. Man hörte von braunem Wasser, das aus den Wasserhähnen kommt, von kaputten Skilift-Kabinen, und das berühmte Bild von der Doppel-Toilette wurde zu einem Renner im Internet. Unter PR-Gesichtspunkten kann man, was die Olympiade in Sotschi betrifft, kaum von einer mission accomplished sprechen.

Der Ehrlichkeit halber muss jedoch gesagt werden, dass in der Flut an Informationen über Pfuschereien in Sotschi oft Kleinigkeiten aufgebauscht wurden, um die Gastgeber der Spiele zu blamieren. Das ist kein Wunder angesichts der angespannten Beziehungen Russlands zu den USA und der EU. Schwarze PR in den Medien ist ein durchaus übliches Instrument der Außenpolitik, auf das die russische Diplomatie besser hätte vorbereitet sein müssen. Auffallend sind vor allem die häufigen Vergleiche in der westlichen Presse zwischen den Wettkämpfen in Sotschi und der Olympiade in Moskau 1980 und zwischen Russland und der UdSSR – heute wie damals herrscht volkswirtschaftliche Stagnation, man ist im Konflikt mit dem Westen, und die Rüstungsausgaben sind zu hoch. Daraus wird gefolgert, dass Russland im 21. Jahrhundert immer noch kein moderner, sondern weiterhin ein postsowjetischer Staat ist. Olympia in Sotschi hat zwar das Bild Russlands im Ausland nicht verbessert, aber feiert „das russische Volk“ wenigstens entsprechend enthusiastisch die Spiele?

Infrastruktur, Sicherheit, Schmiergelder

Die Russen haben sich von Sotschi nicht blenden lassen. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada halten nur 23 % der Befragten die Spiele für wichtig, während 17 % Wladimir Putin und das politische Establishment als Hauptnutznießer der Olympiade sehen. Noch vor Beginn der Wettkämpfe gab es viele kritische Stimmen, die darauf verwiesen, dass die Kosten in Rekordhöhe von 51 Mrd. Dollar dreimal so hoch wie der russische Bildungsetat und zweimal so hoch wie der Haushalt für das Gesundheitswesen seien.

Solche Unsummen, die größtenteils aus Steuergeldern finanziert wurden, stoßen bei Teilen der Gesellschaft, die mit den Folgen einer deutlichen Verlangsamung der Wirtschaft zu kämpfen haben, auf Unverständnis. Die Kosten sind aber nicht der einzige Kritikpunkt im Zusammenhang mit Sotschi. Die Ökologen protestierten gegen die Zerstörung des regionalen Nationalparks; die tscherkessische Diaspora äußerte die Ansicht, die Wettkämpfe würden das Andenken an ihre durch die russische Armee ermordeten beziehungsweise vertriebenen Vorfahren beschmutzen; zahlreiche Arbeitsmigranten, die auf den Olympiabaustellen beschäftigt waren, klagten, um ihre Löhne betrogen worden zu sein; Bewohner Sotschis, die ihre Häuser beim Bau von Olympiaprojekten verloren, erhielten keine oder nur sehr verspätet Entschädigungen; für Unmut sorgten Korruptionsskandale (die Opposition schätzt, dass ein Drittel der Olympiaausgaben für Bestechungszahlungen aufgewandt wurden), die schlechte Qualität der neuen Infrastruktur und die empfindlichen Preiserhöhungen in Sotschi selbst.

Die Russen haben sich von Sotschi nicht blenden lassen. 23 % halten die Spiele für wichtig, während 17 % Wladimir Putin als Hauptnutznießer der Olympiade sehen.

Alicja Curanović

Die Sicherheitsmaßnahmen, die fast 10 Mrd. Dollar kosteten (so viel wie die gesamten Spiele in Vancouver) und Sotschi in eine Festung verwandelten, konnten die russischen Bürger nicht überzeugen, dass der Nordkaukasus sicher ist – nur wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele kam es zu Anschlägen in Pjatigorsk und Wolgograd, die erfolgreich neue Angst vor Terror schürten. 66 % der Russen glauben, dass es in ihrem Land zu weiteren Anschlägen kommen wird.

Die Spiele in Sotschi offenbaren die größte Schwäche des jetzigen Regimes: seine Ineffektivität. Weder das persönliche Engagement von Wladimir Putin noch die vom Präsidenten geschaffene wertikal wlasti, ein System des Mikromanagements, bei dem der Präsident selbst auf den untersten Entscheidungsebenen interveniert, sind in einem großen Staat langfristig aufrechtzuerhalten. Die allgemeine Korruption und schwache Selbstverwaltungen sind die Haupthindernisse für eine Modernisierung. Das politische Ziel der Spiele – das Bild Russlands zu verbessern – wurde nur unzulänglich erreicht, zieht man den enormen Aufwand, der betrieben wurde, in Betracht. Der Westen glaubt nicht an das neue, edlere Russland, und die russischen Bürger wissen es eh besser. Immer mehr Russen verlangen eine Dezentralisierung und verstärkte gesellschaftliche Kontrolle der Macht. Die wachsende Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Situation lässt sich am besten an Putins deutlich gesunkenen Popularitätswerten ablesen (in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts VCIOM sprechen 48 % dem jetzigen Präsidenten das Vertrauen aus, im Vergleich zu über 80 % während seiner beiden ersten Amtszeiten).

Mehr Brot, weniger Spiele! Das wünschen sich die Bewohner Russlands im Jahr 2014. Nur schade um die Ukrainer, sagen die Moskauer, denn sobald Olympia vorbei ist, wird der Kreml sich ihrer annehmen. Oje, und wie.

Deutsch von Andreas Volk