Special Reports / Zynischer Nationalismus

Nationalismus: ein Dietrich für jede Tür?

Łukasz Jasina · 13 May 2014
Die Furcht vor dem ukrainischen Nationalismus und dem russischen Imperialismus ist historisch begründet. Aber wie in jeder Angst spiegeln sich auch in dieser Komplexe, Einbildungen und lediglich teilweise begründete Beweise für einen Verlust an Sicherheit.

Die zweite ukrainische Revolution und die Errungenschaften des Euromaidan hatten die Chance, den Topos des Ostens als barbarischer Orient, als Wiege der Bedrohung für das Bollwerk des christlichen Europas aufzulösen. Auf dem Maidan wurde geradezu eine Bürgergesellschaft zusammengeschweißt, der Diktator zu Fall gebracht – die Morgenröte der Demokratisierung leuchtete am Himmelsgewölbe. Die tragischen Begebenheiten der letzten Wochen, insbesondere die geopolitische Destabilisierung der Ukraine als Folge der russischen Aggression, lassen die Perspektive eines friedlichen Nebeneinanders der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas in weite Ferne rücken.

Phantasie der Massen entzündet

Die Europäer haben mit nationalistischer Ideologie ein ernstes Problem. In einer Reihe von Ländern koexistieren Nation und Gesellschaft bereits jahrzehntelang in einem ständigen Spannungsverhältnis, ist die Erinnerung an die Grauen des Totalitarismus noch lebendig. Seit einigen Wochen entzündet sich die Phantasie der Massen wie in der Zeit nach dem Kalten Krieg wieder an der Vision eines Zusammenstoßes der „Imperien des Guten und des Bösen“. Das gemeinsame Auftreten dreier Diskurse – des nationalistischen, des totalitären und des imperialen – ist gefährlich. Es erschwert die objektive Beurteilung des politischen Wandels, verringert die gesellschaftliche Sensibilität und schafft eine künstliche kulturelle Distanz zwischen Russen, Ukrainern und dem restlichen Europa.

Der Vergleich von prorussischen paramilitärischen Einheiten mit Politikern, die vor der Europawahl um Stimmen kämpfen, ist eine Verdrehung der Wirklichkeit nach Moskauer Art

Łukasz Jasina

Die Geschichte der ukrainischen Krise als außergewöhnlich, verrückt, anarchisch zu erzählen ist sinnlos und zeugt nur von Eurozentrismus. Es ist schließlich schwer, Wladimir Putins Entscheidungen die Schlüssigkeit abzusprechen. Bei seinem Agieren in der Ukraine zog er bewusst nationale und imperiale Register, schürte die Sprache des Hasses, im vollen Bewusstsein, dass Brüssel Schwierigkeiten mit dem Verständnis der spezifischen Kreml-Diplomatie haben würde. Und dass die EU-Herrscher nicht wirksam würden reagieren können.

Vielen Analytikern ist eine recht entscheidende Tatsache entgangen. Der Anstieg der Bedeutung radikaler Gruppierungen in Westeuropa verläuft, trotz allem, innerhalb der demokratischen Regeln eines Rechtsstaates. Prorussische paramilitärische Einheiten, die ukrainische Ämter besetzen, mit Politikern zu vergleichen, die vor der Europawahl um Stimmen kämpfen, ist ein katastrophaler Fehler, eine Verdrehung der Wirklichkeit nach Moskauer Art.

Können die Erfolge der Nationalisten, das Erstarken radikaler Gruppierungen in Westeuropa somit irgendeinen Hinweis zum Verständnis des politischen Wandels in der Ukraine geben? Reicht die Konzentration auf das nationale Element für eine Diagnose zu den Ereignissen von Sewastopol und Donezk?

Politisches Labor in Kiew

Die unabhängige Ukraine konstruierte nach 1991 ihre Identität nicht auf der Grundlage einer nationalistischen Ideologie. Der Gründungsmythos des neuen Staates stützte sich auf die Vermischung fremder, postsowjetischer und im Kern patriotischer Modelle. Auf den Hauptplätzen der Städte (mit Ausnahme von Galizien und Wolhynien) standen weiterhin Denkmäler von Lenin und der Roten Armee. Die weiß-blaue Flagge, der Trisub oder der – von vielen Polen mit der UPA assoziierte – Ausruf „Ruhm der Ukraine!” fungierten als dekoratives Element, als eine auf der Achtung vor der Tradition basierende Verzierung. Bei der Wahl ihrer Staatssymbole dachten die Ukrainer nicht an Feinde des Staates, sondern an historische, gesellschaftlich wiedererkennbare und akzeptable Werte.

Putin ist den ukrainischen Nationalisten zur Hilfe gekommen. Sie erhielten eine hervorragende Gelegenheit, Scharen von Anhängern zu gewinnen. Sie machten sich das Konzept des Feindes zu eigen, und den russischen Präsidenten zu ihrem Feind

Łukasz Jasina

Sicherlich, der Nationalismus war in der Ukraine stets gegenwärtig – allerdings grundsätzlich nur im Westen des Landes. Nationalistische Ansichten verkündeten auch die Vertreter der ukrainischen Diaspora in Kanada und den Vereinigten Staaten. Die Parlamentswahlen zeigten jedoch immer wieder, dass die Stimmen der Nationalisten die Gesellschaft nicht überzeugten. Keine der extremen Parteien erreichte je einen bedeutenden Platz im Höchsten Rat der Ukraine. Dieser Erfolg kam erst Oleh Tjahnyboks „Swoboda“ zu – notwendig war dafür allerdings ein entscheidendes Image-„Lifting“ der Gruppierung, eine Änderung des Tonfalls ihrer Äußerungen, besonders zum Thema ukrainisch-polnische Beziehungen. Die Revolutionszeit war reich an Extremen aller Art, aber außer „Prawyj Sektor“ (Rechter Sektor) ist keine dieser Erscheinungen breiter bekannt. Der „Prawyj Sektor“ selbst ist eine verdächtige Organisation: Nach einer Erklärung verlangen zumindest seine Anfänge, Finanzierungsquellen und Verbindungen zu Russland. Dennoch ist er schwerlich als „leibhaftiges Böses“ zu bezeichnen, wie es die Kreml-Propaganda gern hätte. Warum?

Die ukrainischen Nationalisten haben – im Gegensatz zu ähnlichen Gruppierungen aus Westeuropa, wie beispielsweise die Partei der Wahren Finnen oder die französische Front National – nie eine Widerstandsbewegung gegen reife Demokratien gebildet. Ihr Diskurs war schlimmstenfalls vernebelnd. Es gelang ihm zwar, viele Maidan-Teilnehmer vorübergehend zu verführen. Das war jedoch kein Beweis für eine dauerhafte Entwicklung der politischen Einstellung der ganzen Gesellschaft, sondern zeugte eher vom Außergewöhnlichen der Revolutionserfahrung, davon, wie das politische Labor in Kiew die Menschen zur Suche nach einer neuen Identität inspirierte. In dieser Hinsicht ist Putin den ukrainischen Nationalisten – möglicherweise unbewusst – zur Hilfe gekommen. Die Nationalisten erhielten eine hervorragende Gelegenheit, Scharen von Anhängern zu gewinnen. Sie machten sich das Konzept des Feindes zu eigen, und den russischen Präsidenten zu ihrem Feind.

Ebendieses Phänomen, das auf der Entzweiung von Russen und Ukrainern beruht, kann zum wahren Nährboden für extreme und nationale Bewegungen werden. Die Rhetorik der imperialen Nationalität, derer Putin sich hervorragend bedient, weckt die Geister der  ukrainischen Vergangenheit – nationalistische, stellenweise ethnische und sogar totalitäre Diskurse.

Mitarbeit: Błażej Popławski