Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Putin braucht uns, nicht wir ihn

Bernard-Henri Lévy im Gespräch mit Łukasz Pawłowski · 27 May 2014
Nur Europas entschlossenes Vorgehen gegen Wladimir Putins Politik kann der russischen Aggression ein Ende setzen. Putin braucht unser Geld und unsere Technologien viel mehr als wir sein Erdgas und Erdöl, argumentiert der französische Philosoph.

Łukasz Pawłowski: Glauben Sie an eine rasche Demokratisierung der Ukraine? Wie sieht das beste und wie das schlechteste Szenario für das Land nach der Präsidentschaftswahl aus?
Bernard-Henri Lévy: Im schlechtesten Fall wird der Ablauf der Wahlen gestört oder in bestimmten Regionen die Möglichkeit zur Stimmabgabe ernsthaft erschwert. Ich fürchte eher die Folgen einer negativen Wahlbeteiligung. Wenn nur wenige Ukrainer zu den Urnen gehen, werden Wladimir Putin und die Separatisten im Osten der Ukraine zweifellos die Wahl nicht anerkennen, was die Legitimation des neu gewählten Präsidenten schwächen würde.
Im besten Fall verläuft die Wahl verhältnismäßig ruhig und einer der Kandidaten siegt im ersten Wahlgang, womit er das starke gesellschaftliche Mandat für seine Regierung bekräftigt.

Sie sind der Berater Petro Poroschenkos, der wahrscheinlich die Wahl gewinnen wird. Was sollten die ersten Schritte des neuen Präsidenten sein?

Er sollte sich an das ukrainische Volk als Ganzes wenden, an die Ukrainer in allen Landesteilen, die Angehörigen aller verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und die Sprecher aller unterschiedlichen Sprachen. Das sollte die erste Geste sein – eine symbolisch äußerst wichtige Geste.
Dann muss der Präsident alle, die das Vertrauen in die Kiewer Regierung verloren haben, davon überzeugen, dass ein Verbleib innerhalb der Staatsgrenzen in ihrem eigenen Interesse ist. Sie sollten verstehen, dass momentan die einzige Alternative zur Ukraine die Diktatur Putins ist – eines Menschen, der in seinem Amtszimmer über dem Schreibtisch ein Portrait des schlimmsten Zaren der Geschichte Russlands hängen hat, Nikolaus I. Dieser Herrscher fing im 19. Jh. den ersten Krimkrieg an, einen Kreuzzug zur Verteidigung der Interessen Russlands und seiner Bewohner – es sieht ganz danach aus, als wollte Putin heute das Testament Nikolaus’ I. erfüllen und den Krimkonflikt auf seine eigene Weise austragen…

Ich sehe, Sie mögen historische Analogien. In Ihren Aussagen vergleichen Sie das Handeln des russischen Präsidenten häufig mit der Politik Adolf Hitlers. Ist das nicht aber ein Missbrauch und eine Vereinfachung?

Putin verhält sich nicht wie ein zivilisierter Mensch, sondern wie ein Bandit, der nicht nur lügt, sondern noch dazu Gangstermethoden anwendet. Ich bin mir bewusst, dass man das Handeln Putins und Hitlers nicht so einfach vergleichen kann, denn nichts lässt sich mit dem Verbrechen des Holocaust vergleichen. Dennoch lassen sich in Putins Vorgehen bestimmte Muster erkennen, die es auch in der Vergangenheit gab.

Das, was Putin zuerst in Abchasien und Ossetien und später auf der Krim getan hat und was er jetzt im Ostteil der Ukraine versucht, ist eine Abfolge von Ereignissen, die Hitlers Vorgangsweise in den 1930er Jahren erstaunlich ähnelt – erst die Remilitarisierung des Rheinlands, dann der Anschluss Österreichs, dann die Äußerung von Gebietsansprüchen in einem Teil der Tschechoslowakei, begründet mit einer angeblichen Verletzung von Rechten der lokalen deutschen Minderheit. Das ist ein ähnlicher Prozess, das sind ähnliche Argumente und Methoden.

Putin wird von einem bedeutenden Teil der extremen Rechten in vielen europäischen Ländern unterstützt. Aber z.B. in Deutschland billigt auch die linksextreme Partei Die Linke Russlands Vorgehen. Wie lässt sich das erklären?

Die Quelle für Putins Unterstützung durch die deutsche Linke ist deren unreflektierter Antiamerikanismus, automatisch wie ein Pawlowscher Reflex. Als Verbündeter erscheint ihnen jeder, der gegen die USA ist. Die Unterstützung durch die extreme Linke ist jedoch nicht so wesentlich. Eine viel größere Bedeutung hat die Unterstützung, die Putin vonseiten der rechten Gruppierungen bekommt.

Diese Parteien sind nicht nur ein Problem Westeuropas. In der Ukraine gibt es auch eine radikale Rechte, vor der die russischen Medien seit Langem warnen. Wenn wir den bevorstehenden Erfolg der Demokratie in der Ukraine prophezeien, vergessen wir dann nicht, dass Mitte-Rechts mehr auf dem Euromaidan erreicht hat?

Ich bin mir bewusst, dass Vorurteile und auch Antisemitismus in der Ukraine existieren, und ich bin ein entschiedener Gegner extremer Gruppierungen wie Prawyj Sektor. Aber zugleich glaube ich, dass die beste Methode, diese zu schwächen, eine demokratische und liberale, dem Westen zugewandte Ukraine ist, und nicht der Putinismus – der schließlich dieselben Werte repräsentiert wie der Prawyj Sektor. Parteien ähnlich der ukrainischen extremen Rechten sind in Russland viel stärker. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Prawyj Sektor sich in der Ukraine einer sehr geringen Unterstützung von wenigen Prozent erfreut. Die Mitte-Rechts-Parteien Swoboda und Batkiwschtschyna sind da schon viel eher zur überparteilichen Zusammenarbeit bereit. Wenn die Front National in Frankreich sich derselben Unterstützung erfreuen würde wie der Prawyj Sektor in der Ukraine, wäre ich froh.

Vor drei Jahren haben Sie die westlichen Länder zur bewaffneten Intervention in Libyen aufgerufen. Heute sieht man jedoch, dass wir uns bei unserer Entscheidung für die Unterstützung der Gegner Muammar Gaddafis nicht dafür interessiert haben, wer die politische Lücke nach ihm füllen würde. Heute ist Libyen noch immer im Chaos versunken. Wiederholt die Ukraine nicht diesen Weg des Niedergangs?

Die Ukraine und Libyen lassen sich nicht vergleichen, und sei es nur, weil im Fall Ukraine keine Rede von einer militärischen Intervention sein kann. Es gibt zahlreiche effektivere Arten, Putin zu besiegen, als mit Hilfe militärischer Truppen.
Wirtschaftliche Sanktionen?

Ja. Anders als Bernard Kouchner bin ich der Meinung, dass richtig bemessene Sanktionen wirken, was beispielsweise die Gespräche mit Iran über dessen Rückzug aus dem Atomprogramm beweisen. Das iranische Regime wurde infolge der Sanktionen in die Knie gezwungen und fleht im Grunde um Verhandlungen in dieser Sache. Ähnliche Mittel würden auch bei Russland Wirkung zeigen. Stellen wir uns einmal vor, morgen träfen sich die obersten Stellvertreter der europäischen Länder und begännen eine Diskussion über neue Pläne der europäischen Energiepolitik für die nächsten 5-10 Jahre, die den gemeinsamen Ankauf und eine Diversifizierung der Lieferungen voraussetzen würden. Das allein würde reichen, um den Kreml die Botschaft verstehen zu lassen. Putin braucht unser Geld und unsere Technologien viel mehr als wir sein Erdgas und Erdöl.
Die Gegner von Sanktionen meinen, diese träfen vor allem die gewöhnlichen Russen, würden die russische Gesellschaft noch zusätzlich spalten und Putins Popularität ansteigen lassen.

Wir müssen den Russen begreiflich machen, dass wir mit einer Sperrung der Konten von Oligarchen nicht Russland und die russische Gesellschaft treffen, sondern Menschen, die ihre Mitbürger bestehlen. Was aber Putins Popularität betrifft, so sollte man bedenken, dass Politiker in der heutigen Welt leicht zu Ruhm kommen, diesen aber ebenso leicht wieder verlieren können. Der russische Präsident ist da keine Ausnahme.
Ganz sicher aber schadet es seiner Popularität nicht, dass er von der französischen Regierung zum Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie eingeladen wurde. War es richtig, Putin einzuladen?

Ich denke, dass diese Einladung ein politischer und moralischer Fehler war. Putin ist nicht der rechtskräftige Vertreter derjenigen, die gegen Hitler gekämpft haben. Er eignet sich das gesellschaftliche Gedenken an und nutzt es für seine Ziele.
Wie lässt sich dieser Fehler beheben?

Die einzige Methode bestünde darin, auch den neuen ukrainischen Präsidenten zu den Feierlichkeiten einzuladen. Erstens wäre das ein Signal für die Anerkennung der Legalität der Wahlen in der Ukraine. Zweitens wäre es eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern, dass in der Roten Armee nicht nur Russen, sondern auch u.a. Ukrainer gedient haben. Die Opfer unter den sog. sowjetischen Völkern betrafen nicht allein die Russen. Die Einladung des ukrainischen Präsidenten wäre eine Anerkennung der historischen Wahrheit und eine dem Gedenken der Ukrainer zustehende Ehrerbietung.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes