Special Reports / Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Karolina Wigura · 30 October 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,

die „Krise“ war einst das täglich Brot östlich der Berliner Mauer – heute ist sie in Europa allgegenwärtig. Man könnte ironisch fragen: Ist nun auch das letzte Überbleibsel des kalten Krieges verschwunden? Haben wir uns an die permanente Krisen-Rhetorik gewöhnt?

Für den Anfang nehmen wir einmal an, dass in Europa eine dreifache Krise herrscht. Die erste war die internationale Rezession, mit der wir uns seit 2008 herumschlagen. Die zweite war die allgemeine Krise der politischen Führung in den demokratischen Staaten, die sich nicht nur in der Vereinten Gemeinschaft wahrnehmen lässt. Die dritte Krise sind die gewaltigen Probleme, mit der die Eurozone heute zu kämpfen hat.

Obwohl der Lebensstandard in vielen europäischen Ländern auf einem hohen Niveau geblieben ist, gibt es Stimmen, die behaupten, dass das Leben in der Europäischen Union immer mehr an einen Alptraum erinnert. Es genügt mit den Einwohnern der Länder zu sprechen, die von englischsprachigen Ländern beleidigend „PIGS“ (für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien) genannt werden, um sich davon zu überzeugen, dass an dieser Behauptung eine Menge dran ist.

Als Heilmittel für diese Probleme werden verschiedene Lösungen vorgeschlagen, die zumeist in irgendeiner Form den wirtschaftlich und politisch sicherlich mächtigsten Staat in Europa betreffen, sprich Deutschland. Einer dieser Lösungsvorschläge wurde kürzlich von George Soros in dem Magazin „The New York Review of Books” [http://www.nybooks.com/articles/archives/2012/sep/27/tragedy-european-union-and-how-resolve-it/] beschrieben. Laut Soros soll sich Deutschland für einen von zwei Wegen entscheiden. Jeder dieser Wege kann seiner Meinung nach die Eurozone retten, und auf längere Sicht somit auch die Europäische Union.

Der erste Weg besteht darin, die Eurozone zu verlassen. Zwar wäre das für Deutschland sehr kostspielig, aber die Länder, die die gemeinsame Währung beibehalten würden, wären dadurch gezwungen, sich gegenseitig eiserne finanzielle Disziplin aufzuerlegen – das könnte unter dem Strich die EU retten. Die zweite Lösungsvariante würde darin bestehen, dass Deutschland die Rolle, die ihm durch die internationale Situation sowieso nahegelegt wird, annimmt: die Vormachtstellung in der Europäischen Union.

Es ist offensichtlich, dass Soros’ Vorschlag kontrovers ist. Sowohl das Verlassen der festen Bindungen, die die Europäische Union zusammenschweißt, als auch die Übernahme der Vormachtstellung durch einen Staat, dessen zweimaliger Angriff im 20. Jahrhundert noch immer im europäischen kulturellen Gedächtnis präsent ist, sind Lösungsvorschläge, die für viele nicht annehmbar sind. Deshalb fragen wir heute nach der Rolle Deutschlands in der EU. Kann und will Deutschland die Vormachtstellung annehmen? Ist einer von Soros’ Lösungsvorschlägen für die übrigen 26 Staaten akzeptabel? Oder gibt es vielleicht andere sicherere, bessere und weitsichtigere Möglichkeiten?

Ivan Krastev, Leiter des Zentrums für liberale Strategie in Sofia, ist der Meinung, dass keiner der eingebrachten Vorschläge Zukunft hat, weil Deutschland sich einfach nicht auf sie einlassen wird. Krastev erläutert, inwiefern das Verhältnis Deutschlands zur Transformation der Wirtschaften in Mittelosteuropa diesen Standpunkt beeinflusst. Clyde Prestowitz, Gründer und Präsident des „Economic Strategy Institute“ (ESI) in Washington, wirft Deutschland vor, dass es nicht bereit ist, eine bedeutsamere Rolle in der EU zu übernehmen. Er schlägt vor, dass Deutschland unter anderem sein Verhältnis zur Bankenunion und den EU-Anleihen ändern soll. Karolina Wigura von der Redaktion „Kultura Liberalna“ hingegen zeigt, dass die Europäische Union heute wesentlich dringender als eine Vormacht Demokratisierung und das Engagement der jungen Menschen braucht, die gegen die ACTA protestieren und sich für die Occupy-Bewegung engagieren. Dazu jedoch, so Krastev, braucht es nicht die Zustimmung Deutschlands.

In dieser Ausgabe spricht Jakub Stańczyk mit Gertrud Höhler über das kontroverse Buch „Die Patin“. Höhler versucht, die These zu untermauern, dass Angela Merkel in Deutschland ein immer autoritäreres Regierungsmodell etabliert.

Das vorliegende Thema der Woche eröffnet eine Reihe, die gemeinsam mit derStiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und der Kultura Liberalna im Rahmen eines deutsch-polnischen Projektes über die Zukunft der Europäischen Union erarbeitet wurde. Schon bald folgen weitere Ausgaben!

Viel Freude bei der Lektüre!

Karolina Wigura

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