Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Sotschi existiert nicht

Karolina Wigura und Michał Jędrzejek im Gespräch mit Lilija Schewzowa · 25 February 2014
Sotschi ist nichts weiter als ein Potemkinsches Dorf, das vorgibt das achte Weltwunder zu sein. Währenddessen dauert die demographische Katastrophe der Überalterung Russlands an. Es ist ein Märchen für Kinder und naive Auslandskorrespondenten, versichert die Expertin der Moskauer Denkfabrik „Carnegie Endowment for International Peace“.

Karolina Wigura, Michał Jędrzejek: Was sagen die Olympischen Spiele über Putins Russland aus? Wladimir Putin reiste persönlich zur Sitzung des IOK nach Guatemala, um für die Ausrichtung der Olympischen Spiele am Fuße des Kaukasus zu werben.

Lilija Schewzowa: Putins verzweifelter Versuch, die Spiele nach Russland zu holen, ist nichts Ungewöhnliches. Genauso haben sich auch andere Staaten verhalten, angefangen von Großbritannien bis zu China. Die Staatsführer setzen sich dem Vorwurf des Lobbyings aus, bekommen durch die Spiele aber weltweite Publicity. Putin ist sich dessen bestens bewusst. Bei autoritären Regimes, insbesondere bei Staaten wie Russland oder China, hat der Wunsch, Gastgeber der Spiele zu sein, jedoch einen anderen Charakter als in demokratischen Ländern. Die Olympiade in Sotschi erhält eine völlig andere Symbolik als die Spiele in London. Sotschi ist für Putin mehr als nur die Befriedigung seines Größenwahns. Es soll die Visitenkarte Russlands sein und für fehlende Erfolge in anderen Bereichen entschädigen. Sotschi ist das, was früher die Sputnik-Satelliten und die Flüge ins All waren. Man kann in die Rolle des Giganten schlüpfen und gleichzeitig von den wirklichen Problemen ablenken. Olympia dient dazu, die nationale Euphorie zu befeuern.

Sotschi ist für Putin mehr als nur die Befriedigung seines Größenwahns. Es soll die Visitenkarte Russlands sein und für fehlende Erfolge in anderen Bereichen entschädigen. Sotschi ist das, was früher die Sputnik-Satelliten und die Flüge ins All waren.

Lilija Schewzowa

Das heißt, Sie glauben nicht an den von den russischen Medien beschworenen „Modernisierungsimpuls für den Nordkaukasus“?

Ach woher, Sotschi ist höchstens eine exzellente Gelegenheit, etwas Geld zu stehlen. Diese Spiele entsprechen der Mentalität der russischen Oligarchen, ihrem Wunsch nach Größe, ihrem Bedürfnis, gesehen zu werden, und ihrer Schwäche für Protz und Prunk. Man hat eine – der Form nach interessante, dem Inhalt nach nicht überraschende – Eröffnungs- und Abschlusszeremonie vorbereitet, bei der man darauf geachtet hat, dass sie spektakulärer als im Westen ausfällt. Aber im Grunde ist Sotschi nichts weiter als ein Potemkinsches Dorf, das vorgibt das achte Weltwunder zu sein. Währenddessen dauert die demographische Katastrophe der Überalterung Russlands an. Es ist ein Märchen für Kinder und naive Auslandskorrespondenten. Sotschi existiert nicht.

Könnten die Spiele zu einer Art Wendepunkt für dieses Regime werden – da sie für den aufmerksamen Beobachter eher seine Schwächen als seine Stärken offenbaren?

Es ist schwer zu sagen, was Russlands Stärke und was seine Schwäche ist. Putins Stärke ist zweifelsohne, dass er in der Lage ist, das Land zu kontrollieren. Ein Unterdrückungsapparat steht bereit, tritt aber nicht offen in Erscheinung. Putin gelingt es auch ohne diesen, jeden Protest im Keim zu ersticken – wir dürfen nicht vergessen, dass ständig neue Kreml-Gegner im Gefängnis landen. Olympia hat daran nichts geändert. Die Geheimdienste spielen eine immer größere Rolle, die Kontrolle über das Internet wird ausgeweitet, unabhängige Fernsehsender geschlossen, Nichtregierungsorganisationen werden als „fremde“ Interessenvertretungen gebrandmarkt. Die Mitglieder von Pussy Riot wurden wenige Monate vor dem Ende ihrer Haftstrafen freigelassen. Ihre Freilassung war eine reine PR-Aktion. Putin zeigte sich nicht so sehr als gnädiger Herrscher, sondern vielmehr als jemand, der sich alles erlauben kann. Die erneute Verhaftung zweier Bandmitglieder bestätigt nur meine These.

Und die Schwächen des Kreml?

Putins Schwäche ist vor allem seine Eitelkeit. Er benimmt sich wie ein typischer russischer Staatsführer, von den Bedürfnissen der Gesellschaft vollkommen losgelöst. Das hat Putin mit Stalin, Chruschtschow und Breschnew gemein.

Russland soll nun den Westen zivilisieren, statt sich in eine „degenerierte, demoralisierte und gefährliche“ Kultur zu integrieren.

Lilija Schewzowa

Iwan Krastew und Stephen Holmes haben vor kurzem im „Journal of Democracy“ behauptet, dass autoritäre Regime wie Russland heute wesentlich innovativer sind, wenn es um Machtausübung oder politische PR geht, als die Demokratien, die ständig mit neuen Problemen zu kämpfen haben und sich in einer Dauerkrise befinden. Stimmen Sie mit dieser These überein?

Ich schätze beide Autoren sehr, aber in diesem Punkt stimme ich nicht mit ihnen überein. Putin errichtet ein „neues Regime“ – aber nur in dem Sinne, dass es sich von dem Regime unterscheidet, dass wir vor den Wahlen und den gesellschaftlichen Protesten 2011/2012 hatten. Die Mittel aber, die Putin einsetzt, sind keineswegs innovativ. Er weiß ganz genau, dass er angesichts fehlender innenpolitischer Erfolge andere, „neue“ Triumphe benötigt. Deshalb ist Putin außenpolitisch sehr aktiv. Sotschi ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für diese Art Erfolgspropaganda – die nichts mit den wirklichen Problemen des Landes zu tun hat.

Ist das auch eine gute Gelegenheit, den schönen Schein zu entlarven?

In gewissem Sinne ja. Ich habe mir die Eröffnungszeremonie angeschaut. Tolstoi, Mussorgski, Tschaikowski – sämtliche entliehene Symbole haben Russland als ein Imperium der Kunst und der Hochkultur gezeigt. Das war die Umsetzung von Putins neuer Idee – nach der Russland nun den Westen zivilisieren soll, statt sich in eine „degenerierte, demoralisierte und gefährliche“ Kultur zu integrieren. In dieser Vision ist Russland das Zentrum einer neuen Euroasiatischen Union, und die Europäische Union kann sich bestenfalls um die Mitgliedschaft bewerben.

Deutsch von Andreas Volk