Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Wie weiter nach der Merkel-Ära?

Piotr Buras · 17 September 2013
Der beinahe sichere Erfolg von Angela Merkel bei den Bundestagswahlen am 22. September wird die außergewöhnliche Symbiose bestätigen, die die seit acht Jahren regierende Kanzlerin mit der deutschen Gesellschaft eingegangen ist. Vermutlich hatte seit Willy Brandt kein deutscher Kanzler so viel Feingefühl für gesellschaftliche Stimmungen und keiner hat so gut den Zeitgeist seiner politischen Epoche symbolisiert.

Es ist in Deutschland üblich geworden, die Regierungszeit einzelner Kanzler als Ära zu bezeichnen, unabhängig von dem Rang ihrer tatsächlichen Errungenschaften. Die Soziologen sind sich heute darüber einig, dass es in Deutschland keine Wechselstimmung gibt. Das bedeutet, die Bürger wollen, dass die „Merkel-Ära“ weitergeht. Zweifelsohne gibt es viele Gründe, für die dieser Wunsch verständlich ist. Aber vieles deutet auch darauf hin, dass das Faustsche Begehren „oh, Augenblick verweile doch, du bist so schön“ auf der im hohen Maße falschen Überzeugung beruht, die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes sei die beste Garantie für eine rosige Zukunft. Schließlich kann sich die „Merkel-Ära“, die vor allem in den vergangenen vier Jahren ein Synonym für Gelassenheit und prosperity an Rhein und Spree war, lediglich als einen Übergangszeitraum zwischen dem Jahrzehnt der Turbulenzen und des Verzichtes nach der Wiedervereinigung und der Deutschland erst bevorstehenden Notwendigkeit, die Weichen in mehreren bedeutsamen Bereichen der Politik umzulegen, entpuppen. Als einen Zeitraum, der eher viele offene Fragen und unerledigte Angelegenheiten zu bieten hat, als dass er eine Zäsur setzt, die den Weg zu einer neuen Etappe in der Geschichte der Bundesrepublik bereiten würde.

Die Teflon-Kanzlerin

Merkel gilt allgemein als postpolitische Teflon-Politikerin, die keine entschiedenen Ansichten und klaren Visionen hat. Hier ist kein Raum für Überlegungen darüber, ob diese Bewertung gerecht ist. Es ist jedoch kein Zufall, dass jemand mit genau diesem Profil alle Beliebtheitsrekorde bricht und sich gesellschaftlichen Vertrauens erfreut. Man könnte im Grunde argumentieren, dass dies der europäische Standard ist und mit ähnlichen Worten viele aktuelle Staatsmänner und -frauen beschreiben, auch in Polen. Aber in Deutschland haben die Postpolitik und Postideologie des vergangenen Jahrzehnts einen doppelten Boden, der mit der Besonderheit des Landes zusammenhängt, das sich nach dem Jahr 1990 unter zahlreichen Gesichtspunkten neu definieren musste. Viele gesellschaftliche und politische Konflikte, die beispielsweise die Frage der nationalen Identität betreffen, die Rolle Deutschlands in der internationalen Politik oder das Verhältnis zwischen dem Osten und dem Westen des Landes, entstammen dem Gefrierschrank des Kalten Krieges. Andere, wie die Frage der Atomenergie, der Ökologie, des Umgangs mit Homosexualität, mit Multikulturalität, haben sich mit dem späten Generationswechsel in der Politik angehäuft – durch den Abgang der „langen Generation“ Helmut Kohls und die Übernahme des Ruders durch die machthungrige Generation der 68er mit der Regierungsbildung durch Gerhard Schröder 1998.

Angela Merkel ist 2005 an die Macht gekommen, als die Mehrheit dieser Konflikte gelöst war. Schröders Reformen (Änderung der Prinzipien für die Staatsbürgerschaft, Rückzug aus der Atomenergie, Gleichstellung von homosexuellen Ehen) waren eine politische Genugtuung für die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft in den vorangegangenen Jahrzehnten. Die Reformen des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems (Agenda 2010) waren eine notwendige, wenn auch schmerzhafte, Anpassung des deutschen Wirtschaftsmodells an die neue Realität der globalisierten Ökonomie. Die hitzigen Debatten über die Teilnahme deutscher Soldaten an den Einsätzen im Kosovo, im Irak und in Afghanistan brachen so manches Tabu und bereiteten den Weg zu einem neuen, aber labilen Konsens in der Frage des internationalen Engagements Berlins. Fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands war die Teilung in Ost und West innerhalb Deutschlands in der deutschen politischen Wirklichkeit noch immer ein wichtiges Thema, aber nicht mehr vordergründig. So gesehen übernahm Merkel die Regierung über eine Gesellschaft, die so miteinander im Einklang war, wie wohl nie zuvor, und die nach der Zeit der heftigen Umbrüche Stabilisierung erwartete. Zweifelsohne war es der Verdienst der Bundeskanzlerin (und das Geheimnis ihres Erfolgs), dass sie perfekt auf diesen Bedarf reagieren konnte. Und auch, dass sie trotz parteiinterner Widerstände die konservative CDU zur Modernisierung geführt hat, und damit aus ihr einen Pfeiler des neuen gesellschaftlichen Konsensus gemacht hat (die Änderungen der Einstellung in Fragen zur Rolle der Frau, der Energiepolitik und der Familienpolitik).

Merkel war in den vergangenen Jahren nicht etwa Autorin bahnbrechender Reformen, abgesehen von der Aufhebung der Wehrdienstpflicht sowie der Kehrtwende in der Energiepolitik (die gegen vorherige Entscheidungen und unter dem Druck gesellschaftlicher Stimmungen vollzogen wurde) [mehr über die Energiewende auf: kulturaliberalna.pl/2013/05/28/kemfert-jakobik-wisniewski-patocka-freiheit-klima-elektrizitat/]. Noch in der großen Koalition mit der SPD (2005-2009) hatte sie geschickt – mithilfe der Konjunkturpakete und der Einführung von Kurzarbeit – einem langwierigen Kollaps in der deutschen Gesellschaft in Krisenzeiten vorgebeugt. Deutschland ist unter ihrer Regierung und dadurch, dass es günstige Konstellationen nutzt (geringe Verzinsung von Anleihen und Wettbewerbsvorteile) in der europäischen Krise regelrecht aufgeblüht. In der Europapolitik hat Merkel auf den gesellschaftlichen Bedarf reagiert, indem sie in der EU erzwungen hat, sich an die deutschen Prinzipien (Sparsamkeit, Reformen) zu halten, bei gleichzeitiger schrittweiser und für die Bürger kaum wahrnehmbarer Abkehr von ihnen – im Interesse der EU und Deutschlands. Diese „merkiavellistische“ (Ulrich Beck) Politik macht sich bezahlt, denn dank der Haltung ihrer Regierung in der Krise bricht Merkel in Deutschland Beliebtheitsrekorde, und das Vertrauen in den Euro und in die EU ist in den vergangenen Monaten wieder gewachsen.

Die Zukunft ist nicht so rosig

Betrachtet man die gesellschaftlichen Erwartungen und den Zeitgeist, hat sich Merkel als ideale Politikerin erwiesen. Doch ihr lavierender politischer Stil, der Konflikte und weitreichende Pläne vermeidet, kann sich als belastende Hypothek für die Zukunft entpuppen. Im Grunde genommen nämlich nährt sich die Merkel-Ära der Gelassenheit und Selbstzufriedenheit, an der sich die Deutschen gern laben, aus zahlreichen Täuschungen. Deutschland hört gerne Lob auf sein Wirtschaftsmodell, und vergisst dabei die Defizite, die es in der nahen Zukunft viel kosten können: schlechte Bildung, zu geringe Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und ein Defizit an qualifizierten Arbeitskräften.

Der heutige gesellschaftliche Frieden beruht auf bisher guten wirtschaftlichen Ergebnissen, deren Fortsetzung aus genannten Gründen gar nicht sicher ist. Und an gesellschaftlichen Spannungen fehlt es nicht: materielle Ungleichheit und blockierte Aufstiegschancen für einen Großteil der Gesellschaft sind wohl die deutlichsten Merkmale des einstigen rhein’schen Kapitalismusmodells. Merkel hat die Deutschen beruhigt, indem sie sie davon überzeugt hat, dass eine Rückkehr der D-Mark keine gute Lösung wäre, aber sie hat sie nicht auf die Kosten für die Rettung der gemeinsamen Währung vorbereitet, die in Kürze das deutsche Konto belasten werden (der neue Rettungsschirm für Griechenland, und vielleicht sogar die Reduktion der Schulden der Südstaaten Europas). In Merkels Zeiten ist die Debatte über internationale Einsätze Deutschlands zurückgegangen – dabei geht es nicht nur um die Abneigung gegen bewaffnete Auslandseinsätze, sondern vor allem um fehlende strategische Überlegungen zur Rolle Deutschlands in der Welt in einer Situation, in der gerade im vergangenen Jahrzehnt die Erwartungen an Berlin, besonders in Europa, dramatisch gestiegen sind.

Entgegen allem Anschein besteht Deutschland eine Zeit der nicht leichten Entscheidungen bevor – unabhängig davon, wer ab dem 22. September regieren wird. Die Oppositionsparteien, die SPD und die Grünen, haben es gewagt, in diesem Wahlkampf ein Tabu zu brechen und im Namen öffentlicher Investitionen und Nivellierung von Ungleichheit, Steueranhebungen für die Reichsten gefordert. Es gibt noch mehr Themen, über die man sich streiten könnte. Doch die Parteien der gegenwärtigen Koalitionen (CDU/CSU und FDP) bevorzugen eine Politik der Beruhigung („Deutschland ist stark. Und soll es bleiben.“), die Opposition aber hat nicht genügend Kraft, die Bürger davon zu überzeugen, dass eine Alternative zur gegenwärtigen Politik nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist. Wenn Angela Merkel ausreichend Entschlossenheit und Glück hat, geht die Rettung des Euro in die Geschichte als Markenzeichen ihrer Ära ein. Das wäre nicht wenig. Aber im Interesse ganz Europas liegt ein Deutschland, das nach dem beruhigenden Jahrzehnt des „zweiten Wirtschaftswunders“ neue Kraft schöpft und sich den Herausforderungen stellt, die über seine Kondition in 10 bis 15 Jahren entscheiden.