Special Reports / Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?

Wir werden Polen sein

Michał Łuczewski im Gespräch mit Iza Mrzygłód und Łukasz Bertram · 5 May 2015
Der Zweite Weltkrieg bedeutete für Polen materielle Zerstörung und das Zerbrechen des zuvor gewachsenen sozialen Gefüges. Aber auch schöpferische Kräfte wurden durch ihn freigesetzt. Obgleich dabei längerfristige historische Entwicklungen nicht vergessen werden dürfen, spielte der Krieg eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung dessen, was heute die polnische Nation ausmacht.

Iza Mrzygłód: Żmiąca ist ein Dorf in den Bergen im Süden Polens, das Sie über viele Jahre hinweg erforscht und später in ihrem Buch mit dem Titel „Ewige Nation“ beschrieben haben. Wie hat man sich in der Gegend um Limanowa an den Zweiten Weltkrieg erinnert?

Michał Łuczewski: Im kollektiven Gedächtnis wiegt der Zweite Weltkrieg ungeheuer schwer, er überschattet alles, was davor und danach geschehen ist. Vor allem für den Prozess der Nationsbildung war der Krieg außerordentlich wichtig. Damals entwickelten die polnischsprachigen Bürger das Bewusstsein, dass sie Polen sind. Ein Prozess der „Verinnerlichung der Nation“ trat ein – die Nation hörte auf, eine Kategorie zu sein, über die man in Büchern las, sie wurde stattdessen zu einem emotionalen Konzept, das sich unseren Körpern einprägte. Du kannst schließlich dafür getötet werden, dass du ein Pole bist, und du tötest, weil du Pole bist. In diesem Sinne holte der 2. Weltkrieg diesen Begriff aus dem Himmel der Abstraktionen auf die Erde ins Konkrete.

Iza Mrzygłód: Die Lektüre ihres Buches legt allerdings die etwas im Widerspruch zu dem Gesagten stehende Schlussfolgerung nahe, dass die unmittelbare Nachkriegszeit viel bedeutsamer und ausschlaggebender für die Gestaltung der nationalen Gemeinschaft war. Einer Ihrer Gesprächspartner in dem Buch sagt: „Hier begann der Krieg eigentlich erst nach dem Krieg.“ Was also geschah im Jahr 1945?

Tatsächlich, in Żmiąca selbstbegann der Krieg nach dem Krieg. Niemand aus dem Dorf war damals gestorben. Die Deutschen hatten Angst, dorthin vorzudringen, weil in der Gegend starke Partisanenverbände aktiv waren. Für die Dorfbewohnerinnen und -bewohner waren sie deshalb weniger real. Die Kommunisten dagegen – die Staatssicherheit, der Interne Sicherheitskorps KBW [1] und die Miliz – drangen überall ein, betraten die Wälder und Häuser und in diesem Sinne waren sie wesentlich realer als die Deutschen. Das hinterließ ein viel größeres Trauma als die deutsche Besatzung. Es hat sich herausgestellt, dass die „Große Furcht“, von der Marcin Zaremba in seinem Buch [2] mit demselben Titel schreibt, in Żmiąca und vielen Dörfern im Vorgebirgsland erst nach dem eigentlichen Krieg begann – zusammen mit dem antikommunistischen Widerstand und den Verfolgungen von Seiten des stalinistischen Regimes, die bis 1953 und sogar bis 1956 andauerten.

Nur, dass in den Erzählungen derjenigen Generationen, die diese Ereignisse nicht selbst miterlebt haben, der Krieg und die Nachkriegsgeschichtemiteinander verschwimmen. Beispielsweise erinnerte sich eine Großmutter, wie der Interne Sicherheitskorpsihrem Ehemann Glassplitter in die Schuhe kippte und ihn zwang, darin umherzurennen, weil er den Partisanen geholfen hatte. Ihre Enkelin behauptete, die Deutschen hätten das getan.

Łukasz Bertram: Die Menschen verknüpfen das zu einem Ganzen?

Die Trennung ist klar für die Großvätergeneration, die all das erfahren hat, auch für die Generation ihrer Töchter und Söhne, aber bereits nicht mehr für die Enkelkinder. Der Kampf polnischer Kommunisten mit polnischen Antikommunisten ist schwer zu begreifen. Irgendwo im Hintergrund waren die „Sowjets“, aber in Wirklichkeit kämpften Polen mit Polen – für die jüngste Generation etwas Unvorstellbares. Zusätzlich war die Erinnerung an diesen Konflikt in der Volksrepublik zum Verstummen gebracht worden. Man sieht, wie jene Große Furcht, der Kampf zwischen Antikommunismus und Kommunismus, von der Erinnerung an den 2. Weltkrieg verdrängt wird. Im Resultat wird der Krieg für die nachfolgenden Generationen zum hauptsächlichen Gegenstand des Erinnerns, obwohl er ganz am Anfang weniger wichtig war.

Iza Mrzygłód: Wurde die Erfahrung des Krieges der bäuerlich-ruralen Erinnerungskultur etwa erst später aufgezwungen – durch die Geschichtspolitik der Volksrepublik?

Nein, so stimmt das nicht ganz. Der Krieg war mit Sicherheit ein patriotisches Ereignis. In Żmiąca war der Widerstand gegen die deutschen Besatzer sehr ausgeprägt, es gab dort eine große Formation der Heimatarmee, auch Bauernbataillone [3]. Die Menschen nahmen am Krieg teil, indem sie heimlich Polnisch lehrten und lernten – sogar die Kinder wussten, dass ihnen deshalb die Todesstrafe drohte. Das musste man später nicht erst durch Geschichtspolitik konstruieren, es wurde allerhöchstens verstärkt – und gleichzeitig die frühe Phase des Kommunismus zum Schweigen gebracht. Im Allgemeinen ist die Anfangsphase des Kommunismus in Polen in der Erinnerung verblasst. Es existiert kein Museum des Antikommunismus, kein Museum, das an die Verfolgungen als solche erinnert, wie zum Beispiel die Topographie des Terrors in Deutschland.

Der Zweite Weltkrieg löscht alle inneren Konflikte und setzt den Kampf gegen den gemeinsame Feind an ihre Stelle. Es bildet sich eine Nation. Wir gegen sie.

Michał Łuczewski

Łukasz Bertram: Wenn sich während des Krieges der Abschluss eines Nationsbildungsprozesses vollzog, der bereits länger andauerte, gab der Krieg dem Gemeinschaftsbewusstsein überhaupt einen neuen Gehalt – und stellte historische Weichen um?

Ich bin Gegner einer Geschichtsschreibung „bis zum Jahr 1945“, und später „nach 1945“. Hinter solch einer Konstruktion steht eine verborgene Wertung. Auf Geschichte sollten wir in Kategorien der Longue durée blicken, aus deren Sicht der Krieg weder Anfang noch Ende ist, sondern ein Element längerfristiger Entwicklungen. Aber selbstverständlich hat der Krieg in deren Rahmen etwas umgestellt. Die Menschen wurden auch vorher schon zu Polen, interessant ist allerdings, welche Polen sie nach Kriegsende wurden.

Łukasz Bertram: Wie kann man diese charakterisieren?

Die Zwischenkriegszeit ist ein Kampf aller gegen alle – darum, was es bedeutet, eine Nation zu sein und wer ihr angehört: Der massive Antiklerikalismus der Bauernparteien und das dezidierte Auftreten der Kirche gegen die Bauernbewegung, die anti-kirchliche und antibäuerliche Haltung des Sanacja-Regimes [4]. Heutzutage sind wir kaum in der Lage, uns die Intensität dieser Konflikte vorzustellen, die bisweilen sogar Familien spalteten. Der Zweite Weltkrieg löscht sie aus und setzt den Kampf gegen den gemeinsamen Feind an ihre Stelle. Es bildet sich eine Nation. „Wir“ gegen „Sie“. Diese Gemeinschaft darf nicht antiklerikal sein, weil Geistliche dieser Nation angehören müssen. Sie darf nicht antibäuerlich sein, weil auch die Bauern dabei sein müssen. Sie darf nicht gegen den Staat gerichtet sein, weil wir später gemeinsam einen Staat aufbauen wollen. Und diese Gemeinschaft stößt dann mit einer anderen Gemeinschaft zusammen – der kommunistischen.

Iza Mrzygłód: Das ist eine sehr idealistische Sichtweise. Die Forschung unterstreicht, dass sowohl der Krieg als auch die unmittelbare Nachkriegszeit für die polnische Gesellschaft ein Übergangszustand waren, der alle bis dato geltenden Normen außer Kraft setzte. Die nationale Gemeinschaft ging in die Brüche, verschiedene gesellschaftliche Gruppen – der Landadel, die Intelligenz, die Juden – wurden vernichtet oder in ihrer Zahl weitgehend dezimiert. In diesem Rahmen sieht man auf den ersten Blick eher Zerfall und Zerrüttung, aber keinen Vergemeinschaftungsprozess.

Selbstverständlich hat der Krieg verschiedene Konflikte erst hervorgebracht oder verschärft, wie z.B. den Klassenkonflikt, was heute ebenfalls gerne vergessen wird. Es gab beispielsweise die Ortsvorsteher (poln. sołtys), also reiche Landwirte, die sich de facto zu Elementen der Besatzungsmacht machten, indem sie für das Einziehen ganzer Kontingente von Menschen und Naturalien verantwortlich waren. Und wen schickte man am einfachsten zur Arbeit ins Reich? Diejenigen, die keine Felder besitzen und überflüssig sind. Im Moment der Machtübernahme nutzten die Kommunisten diese Antagonismen aus, ihre Propaganda blies schließlich zum Marsch gegen die „Kulaken“ – die wohlhabenden Bauern. Es gab diesen Konflikt tatsächlich, nur überwog während des Krieges die Überzeugung, dass „später abgerechnet wird“.

Iza Mrzygłód: Es fällt mir noch immer schwer, die beiden Erzählungen von Zerfall und Gemeinschaftsbildung miteinander zu verbinden.

Ich überlege, ob es nicht möglich wäre, sie mithilfe der biblischen Formel des Katechon zusammenzufügen. Im Brief an die Thessalonicher erklärt der Heilige Paulus, dass die Apokalypse nicht eintritt, weil etwas oder jemand existiert, der sie aufhält (Katechon). Was den Zerfall der polnischen Gesellschaft während des 2. Weltkrieges betrifft, hat die Idee der Nation ihn aufgehalten. Das bedeutet bei Weitem nicht, dass es sich deshalb um eine reine, erhabene und friedliche Idee gehandelt hat. Im Gegenteil, sie beinhaltete und erstickte zugleich tiefgreifende politische, regionale und klassenbedingte Konflikte. Sie stellte eine Ordnung her, oder besser eine Illusion von Ordnung, unter deren Oberfläche sich Chaos und Zerfall verbargen. In dem Moment, da die deutsche Bedrohung wegfiel, konnten diese Konflikte in verstärkter Intensität wieder hervorbrechen.

Łukasz Bertram: Worin bestanden diese Konflikte im größeren nationalen Maßstab? Die Niederlage im September 1939 gegen den Polenfeldzug der Wehrmacht war schließlich ein gigantisches Beben, die vorherige Ordnung wurde grundlegend in Frage gestellt. Allerorts wuchs die Überzeugung, dass nach dem Krieg nichts mehr so sein kann wie zuvor, dass wirtschaftliche, politische und soziale Beziehungen von Grund auf neu aufgebaut werden müssen.

Richtig, die Kommunisten waren nicht die einzigen Verfechter des Wandels. Die Soldaten der Bauernbatallione sagten zum Beispiel: Wir kämpfen für ein Polen der Landbevölkerung. Sie wussten bereits vor dem Krieg, dass die Zweite Polnische Republik nicht ihr Polen war. Damals waren sie damit die einzige demokratische Bewegung, die sich zu dem Prinzip bekannte, dass der Staat allen Mitgliedern der polnischen Gesellschaft gehört und nicht nur den Eliten. Und es waren die Bauernaktivisten, die mit der Organisationmassiver Streiks 1937 [5] die größte soziale Bewegung in Polen bis zur Solidarność ins Leben riefen.

Auch die Kommunisten kamen keineswegs aus dem Nichts, es handelte sich um polnische Kommunisten. Ihre volksnahe Ideologie war attraktiv –selbst der berühmte Józef Kuraś „Ogień“ [6] trat anfangs der kommunistischen Sicherheitspolizei bei. Erst später, als sich Gewalttätigkeit und Bewusstsein der sowjetischen Herrschaft offenbarten, kam es zu einer Ernüchterung und man ging in die Wälder zum Widerstand.

Łukasz Bertram: Hierbei handelt es sich – allgemein gesagt – wohl um eine weitere vergessene Narration: Mitte 1944 hatte die polnische Arbeiterpartei PPR [7] einige Tausend Mitglieder, ein Jahr später mehrere Hunderttausend. Was waren das für Menschen, die gesellschaftlich aufstiegen und zur Basis der neuen Ordnung wurden?

Im Kontext, den ich erforscht habe, hat es keine Polen gegeben, die sich zur kommunistischen Ideologie bekannten und an die UdSSR als leuchtende Zukunft oder an höhere Werte, die etwa die Sicherheitspolizei verkörpern sollte, glaubten. Ich würde dazu tendieren, ihre damalige Haltung nicht „kommunistisch“, sondern „anti-antikommunistisch“ zu nennen – was die Leute verband, war die Ablehnung sowohl der Kulaken als auch der so genannten „Waldmenschen“ [8].

Der Unterschied zwischen der kommunistischen Ideologie und den Bauern bestand in der Haltung zur Kirche. Vor dem Krieg war die Bauernbewegung stark antiklerikal. Die Landwirte gingen zur Kirche, aber sie blieben draußen vor dem Portal; sie traten nicht vor den Pfarrer, der stets auf der Seite des Gutsherrn stand [9]. Nach 1945 waren sie hingegen die Ersten in der Kirche. Den Kommunisten ist es zu verdanken, dass die Bauern nicht nur Polen, sondern auch Katholiken wurden.

Łukasz Bertram: Über diese Umwälzungen in der polnischen Gesellschaft hat jüngst ebenfalls Andrzej Leder[10] in seinem Buch „Verschlafene Revolution“ geschrieben. Diese Revolution, die von der deutschen und sowjetischen Besatzung ausgelöst wurde und das Entstehen einer polnischen Mittelschicht ermöglicht hat, begann ihm zufolge 1939 und dauerte eigentlich bis 1989, am intensivsten jedoch bis 1956. Allerdings betont er vor allem den Bruch, das Fehlen einer Kontinuität: Er schreibt, dass es vor dem Krieg keine Möglichkeit gab, den „rachsüchtigen Fantasien der einfachen Menschen“ im Verhältnis zu den Juden – als der einzig existierenden Mittelschicht – und dem Landadel Ausdruck zu geben. Der Krieg eröffnete diese Möglichkeit.

Ich halte es für unzulässig, aus der polnischen Geschichte einzelne Phasen herauszuschneiden, wie Andrzej Leder es mit dem Krieg und der Nachkriegszeit tut. Wenn wir diese historischen Abschnitte mit den Kategorien der Longue durée betrachten, bekommen wir ähnliche Traumata und Gewalt während des von der habsburgischen Teilungsmacht angestifteten galizischen Bauernaufstandes 1846 gegen den patriotischen polnischen Landadel oder während der Pogrome im Jahr 1898, als die österreichisch-habsburgische Regierung zum Schutz der Juden den Ausnahmezustand ausrufen musste, ebenso in den Blick. Nach dieser Auffassung führt der Zweite Weltkrieg bereits vorher ansetzende Prozesse und Erfahrungen zusammen.

Die polnisch-polnischen Beziehungen gilt es dabei wie die polnisch-jüdischen zu behandeln. Innerhalb der polnischen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Gruppen, die ein mehr oder minder großes Gefühl kollektiver Subjektivität besitzen. So, wie man sagt, dass Polen sich jüdisches Eigentum angeeignet haben, so muss man auch sagen, dass Polen Eigentum anderer Polen übernommen haben, und zwar von Landbesitzern und Gutsherren. Es handelt sich dabei um hektarweise parzelliertes Land. Mit dem Unterschied, dass die polnischen Landbesitzer im Unterschied zu Deutschen und Juden mehrheitlich weiterhin dort lebten und aus nächster Nähe sahen, was geschah. Das ist ein äußerst interessanter Prozess, den wir noch nicht zu beschreiben vermögen, weil wir voneinander getrennte Nationen immer noch in „gruppistischen“ Kategorien denken. Wir haben die Deutschen vor Augen, die Juden, aber nicht, dass sie wie auch die Polen eine Ansammlung verschiedener, miteinander rivalisierender Gruppen sind – daher in den nachfolgenden Generationen das Unvermögen, sich den Konflikt zwischen Polen-Kommunisten und Polen-Antikommunisten vorzustellen. Es handelt sich um unbewusste Erkenntnisprozesse, die später von Historikern, Politikern und Ideologen reproduziert und verstärkt werden.

In Żmiąca stellte der Krieg keinen Bruch dar. Die größeren Veränderungen vollzogen sich dort während der Nordischen Kriege – und heute, da in der Gegend ganze Dörfer aussterben.

Michał Łuczewski

Łukasz Bertram: Wir verfügen auch über eine Narration, die ganz Polen zum Opfer erklärt. Im Vorwort zu dem historischen Sammelband „Knoten der Erinnerung“ [Originaltitel: „Węzły pamięci niepodległej Polski“, 2014] mit Beiträgen führender polnischer Historikerinnen und Historiker schreiben die Herausgeber, dass die Jahre 1939 bis 1945 eine allgemeine Katastrophe, die schärfste historische und irreversible Zäsur innerhalb des tausendjährigen Kontinuums der polnischen Geschichte darstellen. Inwiefern bestimmt diese Erzählung gegenwärtig noch das polnische Nachdenken über die Bedeutung des 2. Weltkriegs?

Ich habe den Vorteil, einen konkreten Fall besonders gut zu kennen – das Dorf Żmiąca. Dort bedeutete der 2. Weltkrieg keinen Abbruch in der biologischen Substanz der Dorfbevölkerung. Größere Veränderungen vollzogen sich während der Nordischen Kriege im 17. und 18. Jahrhundert – und heute, da in der Gegend ganze Dörfer aussterben. Jahrzehntelang war auch die Erinnerung an die Verheerungen während der Zeit der Konföderation von Bar [11] sehr präsent. Lebhafte Erinnerung über mehr als 150 Jahre! Ich weiß nicht, ob wir uns so lange an den 2. Weltkrieg erinnern werden. Deshalb scheint mir auch die Narration großer Zäsuren stark überzogen.

Łukasz Bertram: Sie wird aber beständig reproduziert, zum Beispiel in Form der Auffassung, die echte polnische Intelligenz sei 1939 ausgelöscht und danach durch eine von den Kommunisten rekrutierte Einfältigkeit ersetzt worden.

So hat Ryszard Legutko [12] es in seinem „Essay über die polnische Seele“ dargestellt –zwischen 1939 und 1945 wurde alles, was gut war, zugrunde gerichtet, und anschließend setzte sich ein Regime von Banditen und Einfaltspinseln durch. In der Tat wurde die polnische Intelligenz in Warschau und Katyń vernichtet. Nur wurde sie relativ schnell wiederbelebt. Unsere Geschichte verläuft auf sehr unterschiedlichen Ebenen und wenn wir einzelne Abschnitte herausschneiden, wie es Ryszard Legutko oder der bereits erwähnte Andrzej Leder tun, beginnen wir sie zu ideologisieren. Das Ideal wäre aus meiner Sicht eine integrale Geschichtsschreibung, die auf vielen verschiedenen Ebenen operiert, verschiedene Zäsuren, verschiedene Kontinuitäten, Politik, Geschichte, Ökonomie kennt. Dann erst können wir die Fehler der ideologisch verzerrten Narrationen aufzeigen. Haben wir es paradoxerweise gleichzeitig mit dem Zerfall sozialer Bindungen und ihrer Festigung zu tun? In einer solchen Situation versuche ich ein paar Schritte zurückzutreten und beides zu verbinden.

Iza Mrzygłód: Wie könnte man in diesem Fall die skizzierte bäuerliche Erinnerung ins allgemeine kollektive Gedächtnis integrieren?

Das ist eine schwierige Frage. Ich fürchte mich vor Operationen am kollektiven Gedächtnis, die der Lösung gegenwärtiger Probleme dienen sollen. Mindestens so wichtig wie die Erinnerung sind dabei doch unsere heutigen Erfahrungen. Ich hätte Angst, über das Polen der Bauern und ihre Erinnerung an die galizischen Bauernaufstände zu sprechen, wenn wir nicht zugleich wissen wollen, wer diese Menschen hier und heute sind und wie wir mit ihnen eine Gemeinschaft bilden können. Es gibt Studien, die zeigen, dass Erinnerung sich vergemeinschaftet, wenn sie mit einer gemeinsamen Praxis einhergeht. Wenn wir gesellschaftlich gespalten sind, werden wir die Differenzen in den Erinnerungsnarrativen betonen, um die heutigen Konflikte zu verschärfen. Ich kann mir durchaus eine Narration aus der Perspektive der Opfer vorstellen. Dies müssten hier die adeligen Opfer sein – wie bei den galizischen Bauernaufständen –und dort die jüdischen, schließlich die bäuerlichen.

Iza Mrzygłód: Möglicherweise führt der Weg ja über die Popkultur?

Ich wünsche mir nicht, dass die Entdeckung der Erinnerung der Landbevölkerung die Form einer Mode, einer neuen Verherrlichung von Bäuerlichkeit annimmt. Versuche von Intellektuellen, eine bäuerliche Narration der polnischen Geschichte zu kreieren, wie der Theaterregisseurin Monika Strzepka, des Dramaturgs Pawel Demirski oder der Rockgruppe RUTA, die alte aufständische Lieder aus der Volkstradition aufgreift, halte ich für künstlich. Persönlich gefällt mir das sogar, aber mir ist klar, dass ich nie einer vom Volk sein werde. Obwohl ich seit mehr als einem Dutzend Jahren regelmäßig aufs Dorf fahre, werde ich nie von dort sein. Ich sehe anders aus, ich arbeite anders, rede anders. Ich habe sogar andere Hände.

 

[1] Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego (KBW) – Militäreinheit, die dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit unterstellt war und primär für den Kampf mit dem antikommunistischen Widerstand nach 1945 vorgesehen war.

[2] Marcin Zaremba: Wielka Trwoga. Polska 1944-1947. Ludowa reakcja na kryzys, Kraków: Znak 2014.

[3] Die Bauernbatallione (Bataliony Chłopskie, BCh) – zweitgrößte bewaffnete Untergrundorganisation im besetzten Polen, eng verbunden mit der polnischen Bauernpartei.

[4] Gängige umgangssprachliche Bezeichnung des politischen Lagers, das in der Zweiten Polnischen Republik nach dem Staatsstreich Józef Piłsudskis im Mai 1926 die Macht übernahm.

[5] An diesen Streiks, die eine ökonomische und politische Demokratisierung einforderten, beteiligten sich mehrere Millionen Bauern. Als Folge des Einschreitens der Polizei starben 44 Menschen.

[6] Kämpfer der Heimatarmee (Armia Krajowa) und der Bauernbatallione, der nach dem Krieg im Süden Polens die separate antikommunistische Untergrundformation gründete. Er starb im Kampf mit dem KBW im Februar 1947. Seine Aktivitäten sind bis heute umstritten, u.a. aufgrund von Zeugenberichten, die der Gruppe „Ogień” die Beteiligung an Judenermordungen zuschreiben.

[7] Von den polnischen Kommunisten während der deutschen Besatzung geschaffene Organisation. Ab 1944/45 die dominierende politische Kraft in Polen, die sich im Dezember 1948 mit der Polnischen Sozialistischen Partei zur Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei verband.

[8] Die Formulierung „leśni ludzie“ (Waldmenschen) war die umgangssprachliche Bezeichnung für die Partisanen, die sich in Wäldern versteckten.

[9] Anspielung auf das Gedicht „Kurze Auseinandersetzung zwischen einem Edelmann, Schulzen und Pfarrer“ (1548) des Renaissance-Dichters Mikołaj Rej, in dem die Konflikte zwischen den drei Ständen – Adel, Klerus und Bauernschaft – dargestellt werden.

[10] Kulturphilosoph, außerordentlicher Professor am Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

[11] Konfederacja Barska – Bund polnischer Adliger während der Jahre 1768–1772, der einen bewaffneten Kampf sowohl gegen die zunehmende zaristische Dominanz über die polnisch-litauische Rzeczpospolita als auch gegen Versuche,  das politische System der Adelsprivilegien und -freiheiten zu reformieren, führte.

[12] Professor der Philosophie, im Jahr  2007 Bildungsminister im Kabinett von Premierminister Jarosław Kaczyński.

Übersetzung: Lukas Becht