Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Kultura Liberalna · 25 February 2014

[русская версия]

[wersja polska]

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Putins Inferno“, so nannte „The Economist“ letzte Woche freiheraus das Massaker auf dem Euromaidan [1]. Die britische Wochenzeitung bezeichnete den Präsidenten Russlands als den „Architekten“ der tragischen Ereignisse in Kiew. Gleichzeitig schrieb die Weltpresse allen Ernstes von der „Demütigung“ der russischen Seele durch das simple Ausscheiden der Eishockey-Männermannschaft bei Olympia [2]. Da möchte man doch gleich Nikolai Gogol zitieren: „Russland, wohin fliegst du? Gib Antwort! Es gibt keine Antwort. Wunderbar klingen die Schellen; es dröhnt die in Stücke gerissene Luft und wird zu Wind; alles auf Erden fliegt vorbei, und alle anderen Völker und Staaten treten zur Seite und weichen ihr aus.“ [3]

Der Klassiker der russischen Literatur (der selbst aus der Ukraine stammte) verglich das Imperium mit einer „troika“, dem im unwegsamen Russland seinerzeit beliebten Dreispänner. Vor zweihundert Jahren konnte es in einer poetischen Vision so scheinen, als würde Russland vorwärtsfliegen. Heute bleibt die Richtung, die der Nachbar im Osten einschlägt, ein Rätsel.

Die gerade zu Ende gegangenen Winterspiele spiegelten im Kleinen die wichtigsten Fragen zu Russland wider. Schließlich war Sotschi nicht nur ein Sportereignis, sondern Sozialingenieurwesen im großen Stil. Die Olympischen Spiele sollten den Beweis für die wachsende Macht des Landes erbringen und Wladimir Putin ein sportlich-mediales Denkmal setzen. Sotschi, das sich von einem grauen postsowjetischen Kurort in ein internationales Wintersportzentrum verwandelte, sollte zeigen, dass Russland den Vereinigten Staaten und China auf Augenhöhe begegnet.

Der Wunsch, die Natur zu besiegen, erinnerte an die Sowjetmacht zu ihren besten Zeiten. Als es dann ernst wurde, fand wieder einmal die alte Redensart „wie bei Gogol“ Anwendung. Da man die Empfehlungen der Experten ignoriert hatte, bemerkte man erst im letzten Augenblick, dass nicht genügend Spezialsalz zur Verfügung stand, um die Wettkämpfe auszutragen. Die mehrjährige Vorbereitung der Sportler wäre so fast zunichtegemacht worden. In aller Eile fahndete man nach der kostbaren „Ware“. Fündig wurde man nicht in Russland, sondern … in Zürich! Flüge wurden umgeleitet, und ohne Zollabfertigung importierte man hastig zwanzig Tonnen Salz aus der Schweiz [4].

Es gibt viele mythische und faszinierende Gesichter unseres östlichen Nachbarn, mittels derer wir diverse aktuelle Ereignisse interpretieren können. Russland „in den Augen des Westens“; Russland – „das Völkergefängnis“; das allmächtige Russland, das die Vorherrschaft im postsowjetischen Raum für sich reklamiert; Russland „in der Krise“; das Russland der Geheimdienste oder das Russland der russischen Intelligenzija … Gibt es ein „wirkliches“ Russland A. D. 2014? Was haben wir durch die Olympischen Spiele in Sotschi, die nun ein für allemal mit den Ereignissen in Kiew assoziiert werden, Neues über Putins Imperium erfahren?

Diese und andere Fragen stellen sich die Autoren der ersten polnisch-russisch-deutschen Ausgabe von „Kultura Liberalna“, die gemeinsam mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit vorbereitet wurde. Die Autoren sind Deutsche, Polen und Russen, jeder von ihnen hat eine andere Perspektive auf Russland. Lilija Schewzowa widerspricht Iwan Krastews und Stephen Holmes’ These, nach der das russische Regime innovativer sei als die in Apathie und Dauerkrisen versunkenen Demokratien von heute. Ihrer Meinung nach unterscheidet sich Putins Staat nicht gravierend von der Sowjetunion, und Putin ähnelt Stalin, Breschnew und Chruschtschow. Und Sotschi? Das ist nur das nächste Potemkinsche Dorf, ein Märchen für Kinder und naive Sportkommentatoren.

Fundamental anderer Meinung ist Michael Stürmer, der im Gespräch mit „Kultura Liberalna“ argumentiert, die Russische Föderation sei weder eine Fortsetzung der UdSSR noch ein neuer, innovativer Staat, eher eine Art „Zwischenherrschaft“, eine Zwischenetappe mit unbestimmter Zukunft. Russland, wie Sotschi, müsse man realistisch betrachten, mit all seinen übertriebenen Ambitionen, seinem Größenwahn, seinem Kitsch und seinem Trauma nach dem Fall des Imperiums.

Während der Olympiade 1980 in Moskau konnte man den Eindruck haben, der Breschnew-Staat befände sich auf dem Zenit seiner Macht. Schnell kamen jedoch die Symptome einer tiefen Krise zum Vorschein. Man fing sogar an zu spekulieren, ob der Kassandraruf des legendären Dissidenten Andrei Amalrik („Erlebt die Sowjetunion das Jahr 1984?“) sich vielleicht nicht doch bewahrheiten sollte. Alicja Curanović vertritt die Ansicht, die heutige Situation ähnele in Vielem den späten Jahren der UdSSR. Die Autorin zieht Analogien anhand der Beziehung zwischen Politik und Sport. In Katarzyna Sareks und Błażej Popławskis Text kann man sich davon überzeugen, wie stark diese Verbindungen sind – nicht nur im russischen, sondern auch im chinesischen und brasilianischen Kontext. Dadurch können wir die russische Problematik im Zeitalter von Sotschi aus etwas größerer Distanz betrachten.

Fragt sich, ob das Putin’sche System ähnlich in sich zusammenfällt wie das Breschnew’sche? Diese Frage bleibt offen. Genauso wie die Frage nach der weiteren Zukunft Russlands. Die Hoffnung, das nächste System in Russland werde ein demokratisches sein, könnte sich als trügerisch erweisen. Das Beispiel der Staaten Mittelosteuropas zeigt, dass der Prozess des Wandels ein langwieriger ist.

Jeder noch so kritische Blick auf Russland sollte uns jedoch nicht davon abhalten, die EU-Politik, und damit auch die Politik Polens, gegenüber dem Osten ständig zu hinterfragen. Wir empfehlen deshalb als Ergänzung zu unserem Themenschwerpunkt den Text „Die satten Polen schauen auf die Ukraine?“ [LINK].

Wir laden Sie ein zur Lektüre!

Łukasz Jasina, Jarosław Kuisz

 

Fußnoten:

[1] www.economist.com/news/leaders/21596941-west-must-take-tough-stand-government-ukraineand-russias-leader-putins

[2] K. Crouse, In Hockey Loss, Russian Pride Yields to Gloom, „New York Times“ vom 20.2.2014, S. 1 sowie B 13.

[3] N. Gogol, Tote Seelen, übersetzt von Alexander Eliasberg, Köln 1965.

[4] S. Dolnick, A Mad Dash for Salt Rescues Olympic Slopes, „New York Times“ vom 16.2.2014.

 


 

Impressum: 

Konzept des Themenschwerpunkts: Łukasz Jasina, Karolina Wigura.

Mitarbeit an dieser Nummer: Barbara Grodecka, Michał Jędrzejek, Kacper Szulecki, Błażej Popławski, Katarzyna Sarek, Emilia Kaczmarek.

Koordination seitens der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Joanna Czudec, Magdalena Przedmojska.

Koordination seitens „Kultura Liberalna“: Ewa Serzysko

Illustrationen: Magdalena Marcinkowska [marcinkowska.blogspot.com].

Die Ausgabe entstand dank der Bezuschussung durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.

FWPN_rgb