Special Reports / Zynischer Nationalismus

Zynischer Nationalismus

Redakcja Kultury Liberalnej · 13 May 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

zum ersten Mal platziert sich mitten im Herzen der Europäischen Union eine euroskeptische Anti-EU-Gruppierung auf dem ersten Platz bei den Wahlen zum Europäischen Parlament: die Front National. Ähnliche Parteien gedeihen übrigens in ganz Europa prächtig, von Großbritannien über Ungarn bis hin zu Griechenland. Wahre Finnen, Freiheitliche Österreicher… Seit Langem stand der Wind auf dem Alten Kontinent nicht mehr so günstig für Nationalismen. Und das Tüpfelchen auf dem I: Fast 40% der Franzosen würden heutzutage gern aus der EU austreten!

Die nationale Ideologie ist somit nicht mehr nur eine Bezeichnung für die utopischen Annahmen radikaler politischer Randgruppen. Sie wird zu einer realen Bedrohung für die internationale Sicherheit und die Stabilität der EU. Auf der einen Seite kann der vereinte euroskeptische Block, gleich einem Trojanischen Pferd, zur dritten Kraft im Europäischen Parlament werden. Auf der anderen Seite hingegen sollten die Ereignisse in der Ukraine und die Wahlen am 25. Mai die Europäer daran gemahnen, dass es ein mindestens zweischneidiges Schwert ist, sich der Idee eines starken Nationalismus zu bedienen.    

Warum? Beginnen wir damit, dass der Großteil der EU-Diplomaten sich bis vor Kurzem bei der Unterstützung der neu gewählten ukrainischen Regierung automatisch mit den von Euromaidan verkörperten Werten identifizierte. Bis die Anti-Janukowitsch-Oppositionsführer hauptsächlich Worte wie Demokratisierung, Verteidigung von Würde und Freiheit oder soziale Gerechtigkeit verlauten ließen, war es leicht, sich diese Werte empathisch zu eigen zu machen. Der revolutionäre Maidan operierte jedoch nie mit einer gemeinsamen Sprache der Werte.

Neben universellen und erhabenen Postulaten entstand auch ein Diskurs, der sich weniger leicht gutheißen ließ – ein mit nationalistischen Werten durchsetzter und auf der Überzeugung fußender Diskurs, dass die Erneuerung des Staates um den Begriff der Nation herum konstruiert werden müsse. Als sie diese Meinungen vernahmen, prophezeiten einige europäische Publizisten das Wiederaufleben von Stepan Banderas Erbe, eine Eskalation der Gewalt unter dem Schlagwort „Ruhm der Ukraine“. Indem sie ein Gleichheitszeichen zwischen die Idee des Aufbaus einer ukrainischen Nation und Neonazismus, Russophobie und Antisemitismus setzten, spielten sie – unabhängig von ihrer Intention – Wladimir Putins Propagandamaschinerie in die Hände. Und von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Bezeichnung der russischen Aggressoren als „Separatisten“ oder zur Einwilligung in die Annektierung der Krim als Auswirkung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen.

Die meisten Europäer betrachten den Osten mit einer Mischung aus Ignoranz, Angst und Paternalismus. Indem sie jedoch in nationalistischen Bewegungen einzig und allein den Ausdruck von politischem Atavismus, einer Unreife der politischen Klasse und Fehlern von Ländern in Entwicklung sehen, belügen sie sich möglicherweise selbst. Aufnahmen von kahlrasierten Männern beim Angriff auf eine dunkelhäutigere Person kann man nicht nur auf Moskaus Straßen, sondern auch in Paris, London oder Neapel machen.

Das politische Labor, das der Euromaidan unzweifelhaft war und zu dem Simferopol, Donezk oder Slowjansk gerade werden, sollte Europa das Ausmaß des gegenwärtigen Nationalismus vor Augen führen – nicht nur des postsowjetischen Imperialismus, sondern auch dieses „gelifteten“ extremen Nationalismus direkt neben uns. Die Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Identität der ukrainischen oder russischen Nationalisten ist eng verknüpft mit unserer Sensibilität, unserer Beurteilung der Rolle, die die extreme Rechte im öffentlichen Leben einnimmt. Und schlussendlich auch mit der beunruhigenden Frage nach der Möglichkeit einer realen Zusammenarbeit europäischer rechtsextremer Führer mit dem Kreml.

Was unterscheidet denn in den Augen der Durchschnittsbürger die Nationalisten aus Osteuropa wirklich von den Vertretern nationalistischer Organisationen aus dem Westen, den Radikalen, die vor der Europawahl um Stimmen kämpfen? Wie sehen die Verbindungen zwischen diesen Milieus tatsächlich aus? Stecken der ukrainische und der russische Nationalismus in den Fesseln der Vergangenheit oder werden sie je nach Geschmack der politischen Elite stets wieder neu gestaltet und und demagogisch aktualisiert? Worin besteht die Attraktivität einer nationalistischen Ideologie für Tausende von Europäern, die sich vielleicht wieder einmal „vor der Freiheit fürchten“?

Zu diesem Thema äußern sich heute unsere Autoren:

Gleb Pawlowski, russischer Politologe, in der Zeit der Sowjetunion Dissident, heute Wladimir Putin nahe, erzählt Viktoria Zhuhan von den nationalistischen Bestandteilen der russischen Propaganda. Pawlowski lässt kein gutes Haar an der Regierung in Kiew, räumt aber ein, dass die Faschismus-Vorwürfe vonseiten des Kreml eine offensichtliche Übertreibung seien. Er erklärt auch, warum die Propaganda nicht vor Entlehnungen beim rechtsextremen Alexandr Dugin oder dem antisemitischen Dmitri Kisseljow zurückschreckt, obwohl in Wladimir Putins Russland ein eher imperialer als ethnischer Nationalismus herrscht.

Anton Schechowzow, ukrainischer Politologe vom University College London, nimmt im Gespräch mit Michał Jędrzejek eine Soziogenese der ukrainischen nationalistischen Gruppierungen vor. Gleichzeitig betont er, dass die ausschließende Rhetorik des ethnischen Nationalismus für die Ukrainer immer weniger attraktiv sei. Es entstehe die Sehnsucht nach einer anderen, eher bürgerlich-republikanischen Sprache, die zum Projekt der neuen Gesellschaft passe.

Nicht einverstanden mit dieser Perspektive ist Łukasz Jasina, Historiker aus der Redaktion der „Kultura Liberalna”. Er warnt, dass Russlands Aggression auf der Krim eher die nationalistischen Gruppierungen in der ukrainischen politischen Szene stärken könnte. Ihm zufolge weckt die Rhetorik des imperialen Nationalismus, derer sich Putin hervorragend bediene, die Geister der ukrainischen Vergangenheit: nationalistische, stellenweise ethnische und sogar totalitäre Diskurse.

Manfred Sapper wiederum, Chefredakteur der Monatszeitschrift „Osteuropa”, verfasste eine berührende Analyse der deutschen öffentlichen Debatte zum Thema „neue Ostpolitik”. Seiner Ansicht nach hat die ukrainische Krise zur schärfsten Polarisierung der deutschen Öffentlichkeit seit einem Vierteljahrhundert geführt. Der Punkt, an dem sich die Diskussion entzündet, ist aber nicht mehr die Zukunft der Ukraine, sondern die Neudefinition der deutsch-russischen Beziehungen.

Im Beiblatt Besonderer Kommentar finden Sie ein Interview von Jarosław Kuisz mit  Timothy Snyder über die Zukunft der ukrainischen Politik und den Kongress „Ukraine: Thinking Together” vom 15.-19. Mai in Kiew.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Błażej Popławski

Impressum der Ausgabe:


 

Das Thema der Woche wurde dieses Mal in Kooperation mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit erstellt.

Konzeption des Themas der Woche: Łukasz Jasina, Karolina Wigura.

Mitarbeit: Kacper Szulecki, Błażej Popławski, Viktoria Zhuhan.

Koordination vonseiten der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Joanna Czudec, Magdalena Przedmojska.

Koordination vonseiten der „Kultura Liberalna”: Ula Jurgiel.

Deutsche Übersetzung: Lisa Palmes, Antje Ritter-Jasińska (Gleb Pawlowski)

Illustrationen: Marta Zawierucha.