Special Reports / Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?

Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?

Kultura Liberalna · 5 May 2015

Am 24. April verlegte der Sejm der Republik Polen die Gedenkfeiern zum Ende des 2. Weltkriegs vom 9. auf den 8. Mai. Dieser Gesetzesbeschluss hatte offenkundig eine zweifache Motivation: Zum einen sollte ein Strich unter das kommunistische Erbe gezogen werden, wonach an das Kriegsende gemäß Moskauer Zeit gedacht wurde. Zum anderen handelte es sich um eine symbolische Distanzierung von der russischen Politik der Gegenwart. Gleichermaßen ist ganz Europa mit der Frage konfrontiert, welche Rolle das Jahr 1945 für die Gegenwart spielt. Mit der Datierung offizieller Gedenk- und Feiertage ist das Thema aber nicht erledigt. Im Laufe der vergangenen Jahre hat sich eine lebhafte wissenschaftliche und publizistische Debatte darüber entwickelt, welche Bedeutung Krieg und Nachkriegszeit für die Herausbildung gesellschaftlicher Identitäten und das kollektive Gedächtnis haben.

Die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft richtet sich dabei auf die spezifischen Bedingungen der Anfänge des kommunistischen Polens, aus dem schließlich die heutige Dritte Republik hervorgegangen ist. In den Jahren 1944 bis 1947 waren moralische Desorientierung, ein institutionelles Vakuum und verschiedenste Ängste das prägende Gefühl von Millionen von Menschen – obwohl die Front längst verschwunden war [1]. In der heutigen Diskussion kehrt zudem die Frage nach der gesellschaftlichen Revolution wieder, die sich unter brutalem äußeren Zwang auf dem Gebiet des heutigen Polens zwischen 1939 und 1956 vollzog [2]. Rechtskonservative Kreise glorifizieren seit einigen Jahren den antikommunistischen Widerstand, der in politischer und militärischer Hinsicht eine vollständige Niederlage davontrug, sich aber in der Gegenwart zur Kreation eines Mythos von moralisch standfesten Soldaten eignet.

Das Verdienst der jüngeren Debatte besteht in einer Ausdifferenzierung und Hinterfragung überkommener und vereinfachender Interpretationen des Zweiten Weltkriegs sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dies hat die Redaktion des Online-Wochenmagazins „Kultura Liberalna“ dazu bewogen, eine Ausgabe unter dem Titel „Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?“ (Nr. 330 vom 5. Mai 2015) zu veröffentlichen. Um die polnischen Dilemmata mit diesem Thema in einen breiteren Kontext einzubetten, kommen darin bekannte Intellektuelle wie der britisch-niederländische Historiker Ian Buruma zu Wort. Zugleich sind die herausragenden Protagonistinnen und Protagonisten der polnischen Debatte vertreten: Der mehrfach ausgezeichnete Historiker Marcin Zaremba, die Soziologin Weronika Grzebalska und der Historiker und Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig Paweł Machcewicz.

Aus den genannten Beiträgen sticht die Position des Soziologen Michał Łuczewski hervor. Der Autor, einer der originellsten polnischen Intellektuellen der jüngeren Generation, geht in seiner Studie mit dem Titel „Odwieczny naród” [3] der Frage nach, wie aus einer bäuerlichen Landbevölkerung ohne jegliches Nationalbewusstsein Polen wurden, die zudem davon überzeugt waren, seit Jahrhunderten das Polentum zu verkörpern. Łuczewski argumentiert, dass der Zweite Weltkrieg für diese Entwicklung eine Schlüsselrolle gespielt hat. Diesem Problem widmet sich das Gespräch, das Iza Mrzygłód und Łukasz Bertram von der Online-Wochenzeitschrift „Kultura Liberalna” mit ihm geführt haben.

Literatur:

[1] Marcin Zaremba, „Wielka Trwoga. Polska 1944-1947. Ludowa reakcja na kryzys” [Die große Furcht. Polen 1944-1947. Die Reaktion des Volkes auf die Krise], Kraków: Znak 2014.

[2] Andrzej Leder, „Prześniona rewolucja. Ćwiczenie z logiki historycznej“ [Verschlafene Revolution. Eine Übung in historischer Logik], Warszawa : Wydawnictwo Krytyki Politycznej 2014.

[3] Michał Łuczewski, „Odwieczny naród. Polak i katolik w Żmiącej” [Ewige Nation. Pole und Katholik in Żmiąca], Toruń : Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 2012.

Link zur vollständigen Ausgabe der „Kultura Liberalna”: HIER