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Die Deutschen wollen seit Jahrzehnten keine Atomkraft, so finden sie also Polens Pläne überraschend

Ein Gespräch mit Oldag Caspar. Von Aleksandra Sawa · 25 January 2022

„Entscheidungen über die Energiepolitik werden in Polen zum großen Teil kulturbedingt getroffen – es wird konservativ, in das Altbewährte, investiert. Bekanntlich funktioniert die Atom- und Kohleenergie, logischerweise wird es auch in Polen funktionieren. Diese Logik ist jedoch irreführend”, sagt Oldag Caspar, Experte der deutschen Denkfabrik Germanwatch.

Aleksandra Sawa: Bis 2022 wollen die Deutschen alle Atomkraftwerke schließen – diese Entscheidung wurde 2010 getroffen, als die Grundlagen für das Projekt Energiewende erarbeitet wurden. Woher kam die atomkritische Wende in Deutschland?

Oldag Caspar: Momentan beobachten wir die zweite „Welle” dieser Wende. Die erste Welle des Atomausstiegs kam 1990. Schon damals war die Bürgerbewegung sehr stark, mit Unterstützern und Sympathisanten aus diversen Gruppen: von Dissidenten über Demokraten bis hin zu konservativen und kirchennahen Kreisen. 1990 schloss sich dieser Bewegung die Antiatombewegung aus Westdeutschland, die sehr enge Beziehungen mit linken Grünen hatte. Atomgegner wurden auch vor Ort von Landwirten unterstützt, die Bedenken wegen der Sicherheit der Atomabfälle hatten.

Alle diese Gruppen handelten gemeinsam und bildeten Ende der 80er Jahre eine starke Widerstandswelle, die die Stilllegung der für den erheblichen Teil der Energiewirtschaft der DDR relevanten Atomkraftwerke herbeiführte. Diese Stimmung war die Gründungsstunde der Grünen, die 1998 in die Bundesregierung kamen. Etwas spätester wurde die Stilllegung aller Atomkraftwerke beschlossen. Diese Entscheidung traf natürlich auf einen starken Widerstand des sog. Atomlobbys, also Firmen, die in die Atomenergie viel investiert haben. In damaliger Zeit waren einige konservative Politiker – Angela Merkel, Helmut Kohl – immer noch für die Atomenergie, nachdem also CDU an die Macht kam und Angela Merkel Kanzlerin wurde, versuchte man zurückzurudern.

2005?

Ja. Nach der Machtübernahme versuchten sie, diese Entscheidung zu kippen, aber Erfolg hatten sie – und dann nur teilweise – erst 2010.

CDU wollte sich als Volkspartei positionieren, sie musste dafür sorgen, für sehr unterschiedliche Zielgruppen attraktiv zu sein, und damals war schon sogar ein Teil konservativ gesinnter Wähler:innen teilweise gegen die Atomkraft. Wegen des parteiinternen Widerstandes wurde der Prozess der Reaktorabschaltung gegenüber den ursprünglichen Plänen verlängert, aber nicht gestoppt.

Dann kam Fukushima [2011 – Anm. d. Red.] und wir wurden daran erinnert, dass sich diese Technologie nicht hundertprozentig kontrollieren lässt. Aber selbst wenn es Fukushima nicht gegeben hätte, wäre die Stilllegung der Atomkraftwerke in Deutschland in frühen 2030-ger Jahren abgeschlossen.

Was steckt hinter einer so stark ausgeprägten öffentlichen Meinung? In Frankreich etwa stützt die Energiewirtschaft überwiegend auf Atom und eine Antiatombewegung dieses Ausmaßes ist da nicht zu sehen.

Die Geschichte der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung geht auf die 70-ger Jahre zurück. Nach dem Krieg vertraute die deutsche Öffentlichkeit der Regierung nur sehr eingeschränkt. Sie folgte der Überzeugung, dass man selbst einer demokratisch gewählten Regierung ständig auf die Hände schauen muss, sonst werden die Regierenden das machen, was in ihrem Interesse und nicht unbedingt im Interesse der Menschen liegt. Gewissermaßen kann man es als einen „positiven” Nachlass des Zweiten Weltkrieges, der Erfahrungen der Machtergreifung durch NSDAP anerkennen.

Ich glaube, eben deswegen fiel es in Deutschland den Personen, die diese Bewegung in Gang gebracht haben – den Landwirten, den Umweltschützern – viel leichter, als es z.B. in Frankreich der Fall war, andere davon zu überzeugen, dass Atomkraftwerke hohes Risiko für die ganze Gesellschaft mit sich bringen. Die Bewegung der Kernkraftgegner wuchs hier über Jahrzehnte. Nun sind 75–80 Prozent der deutschen Gesellschaft für die Schließung der Atomkraftwerke.

Foto: Petar Avramoski, Pexels

Außenstehende könnten meinen, die deutsche Politik sei sich hier einig. Gibt es tatsächlich niemand mehr, der sich für die Atomkraft engagieren möchte?

In der Tat, jetzt verteidigen es nur noch die liberalen Demokraten (FDP), die eine Wählergunst von ca. 5–10 Prozent genießen. Und die populistische, rechtsextreme AfD [voraussichtlich mit 10–11 Prozent Stimmen in den kommenden Bundestagswahlen – Anm. d. Red.], die gerne neue Atomkraftwerke bauen würde. Aber dieses Thema ist in der öffentlichen Debatte nicht mehr besonders stark präsent.

Man muss allerdings anmerken, dass die Atomkraftindustrie nicht ohne Kampf aufgegeben hat. In den 90-ger Jahren hatten Siemens und andere Firmen, für die es ein wichtiger Bereich war, in der Bundesregierung Lobbyarbeit betrieben und versucht, den Bau von weiteren Atomkraftwerken zu veranlassen. In den Nullerjahren wurde sogar eine weit angelegte Propaganda-Maßnahme durchgeführt, um die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Atom den einzigen wirksamen Weg zum Klimaschutz bieten kann. Sie haben die These forciert, dass erneuerbare Energiequellen nie in der Lage sein werden, mehr als ein paar Prozent des bundesweiten Strombedarfs abzudecken. Selbstverständlich erscheint diese Kampagne heute, vor dem Hintergrund dessen, was wir über die erneuerbaren Energien bereits wissen, sehr dumm und naiv. Damals war es aber recht gefährlich – die Kampagne war sehr breit angelegt, es wurden enorme Mittel aufgewendet. Damals wurden Politiker, insbesondere die eher konservativen und wirtschaftsorientierten – CDU- bzw. FDP-Mitglieder – sehr stark unter Druck gesetzt. Letzten Endes hat das Atomlobby doch verloren. Ihr Sargnagel war dann Fukushima.

Sollten wir also vor dem Hintergrund der klar atomskeptischen Einstellung Deutschlands politischen oder wirtschaftlichen Druck zur Verhinderung der Atomkraftwerke in Polen erwarten?

Die Bundesregierung äußerte bereits ihre Beunruhigung im Zusammenhang mit den polnischen Plänen, ein Atomkraftwerk zu bauen, genau wie es Vertreter einiger Bundesländer im Osten der Republik taten. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei um keinerlei antipolnische Komponente handelt. Solche Versuche, Druck auszuüben, gab es bereits und gibt es nach wie vor gegenüber anderen Staaten. Im Westen der Bundesrepublik protestieren die Menschen gegen französische oder belgische Atomkraftwerke, indem sie sich z. B. in Form von Briefaktionen an französische Politiker und Medien wenden. Für die Deutschen ist es also irrelevant, welcher Staat gemeint ist – ist es ein Anrainerstaat, der ein AKW relativ nah an der Grenze bauen will, werden die Menschen Angst vor den Konsequenzen dieser Investition haben und wahrscheinlich ihren Widerspruch zum Ausdruck bringen. Es wird sicherlich für die deutsch-polnischen Beziehungen nicht förderlich sein, aber andererseits glaube ich nicht, dass es ein enormes Problem darstellen könnte.

Wenn ich die Entwicklungen in Polen beobachte, habe ich den Eindruck, dass über die Energiepolitik in Polen zum großen Teil kulturbedingt entschieden wird – es wird konservativ, in das Altbewährte, investiert. Das kann man auch auf dem Balkan sehen, wo immer noch in die Kohle investiert wird, oder in der Ukraine, die ebenfalls auf die „traditionellen” Energiequellen setzt. Kohle und Atom sind Lösungen, die es auf dem Markt seit Jahrzehnten gibt. Bekanntlich funktionieren sie, die Denke ist also, dass „sie in Polen auch funktionieren werden”. Aber diese Logik ist falsch.

Warum?

Die Lage auf dem Energiemarkt ist dynamisch, deswegen muss man nach vorne und nicht nach hinten schauen. Mittel, die in Polen höchstwahrscheinlich für den Bau eines Atomkraftwerkes aufgewendet werden, in den Aufbau und die Entwicklung der erneuerbarer Energiequellen zu investieren, wäre klüger und für die ganze Wirtschaft vorteilhafter. Eine Investition in die Windenergie, in die Fotovoltaik oder in ganz bestimmte, ausgewählte Industriezweige rund um die erneuerbaren Energien, z.B. in die Energiespeicherung, ist eine Investition in etwas, was sich sicherlich auch in dreißig oder fünfzig Jahren der Nachfrage erfreuen wird. Polen könnte auch in die in Entwicklung begriffenen Energiequellen investieren, sich als Exporteur einer konkreten Technologie positionieren, die momentan noch nicht marktfähig ist. Was Dänemark mit den Offshore-Windparks gemacht hat, könnte Polen mit einigen Arten der Wärmepumpen oder mit Technologien zur Energiespeicherung machen.

Ein anderer Aspekt, in dem die Investitionen in die erneuerbaren Energien die Atomkraft zweifellos trumpfen, ist der Arbeitsmarkt. In einem Atomkraftwerk arbeiten einige hundert Menschen an einem Ort. Bei Investitionen in die Windkraft oder in die Solaranlagen entstehen Arbeitsplätze im ganzen Land – bei einem jeden Windpark braucht man doch Personal für den Betrieb und für die Instandhaltung. Und selbst wenn derartige Parks in Polen von ausländischen Firmen gebaut werden sollten, beispielsweise von den dänischen, dann werden sie ihr Know-how an Personen vermitteln müssen, die in diesem Sektor vor Ort arbeiten werden. Hinzu kommt das Innovationspotential im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien, mit dem auch andere Berufsgruppen unterstützt werden können. In Deutschland baut man beispielsweise sehr gerne Solarpaneele auf den Dächern von landwirtschaftlichen Gebäuden. Es ist eine Methode, Energieerzeugung zu steigern und gleichzeitig ist die Einspeisevergütung eine wichtige Einkommensquelle für landwirtschaftliche KMUs.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.