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Die Grünen weden über die Zukunft der deutschen Regierung entscheiden

Ein Gespräch mit Piotr Buras. Von Tomasz Sawczuk · 25 January 2022

Merkel war über ein Jahrzehnt lang die dominierende Persönlichkeit der politischen Szene in Deutschland. Nun stellt sich die Frage, wer denn ihre Kragenweite hat.

Tomasz Sawczuk: In Deutschland dauert der Wahlkampf, am 26. September findet die Bundestagswahl statt. Worüber wird gestritten? 

Piotr Buras: Von Anfang an hatte der Wahlkampf eigentlich kein Leitmotiv. Er drehte sich um die Frage nach der Person des zukünftigen Kanzlers. Die Frage lautete, wer der bessere Nachfolger oder die bessere Nachfolgerin Merkels wäre. Mit der Zeit traten einige Kandidaten ins Fettnäpfchen und vor diesem Hintergrund hat Olaf Scholz von der SPD (Sozialdemokraten), der jetzige Finanzminister, gepunktet, nun führt er in den Umfragen. Vor einem eher dürftigen Hintergrund ist er der Verlässliche und Glaubwürdige.

Warum ist die Frage der Persönlichkeit des Kanzlers im Wahlkampf so wichtig? Sind die Unterschiede zwischen den Parteien so gering oder ist es die Ausstrahlungskraft der Angela Merkel? 

Selbstverständlich war Merkel über ein Jahrzehnt lang die dominierende Persönlichkeit der politischen Szene in Deutschland, es stellt sich also nun die Frage, wer ihre Kragenweite hat. Zweitens hatte Merkel aber ihre eigene Wählerschaft, also Wähler:innen, die eher Merkel selbst als CDU (Christdemokraten) als Partei gewählt haben – sie haben also CDU wegen Merkel gewählt. Höchstwahrscheinlich werden eben sie jetzt die Wahl entscheiden.

Deswegen wollen also die Kanzlerkandidaten wie Merkel sein? 

So ist es. Für die CDU ist es eine dramatische Nachricht, aber laut Umfragen gibt es relativ wenig Wahlberechtigte, die eine feste Bindung zur Partei selbst und nicht zur Frau Kanzlerin empfinden. Ohne Merkel fallen die Umfragewerte der CDU sogar unter 20 Prozent.

Dann beginnen wir mit der CDU/CSU (Christdemokraten). Ihr Kanzlerkandidat ist Armin Laschet. 

Laschet ist CDU-Chef. Ein Kanzlerkandidat konnte auch Markus Söder, Chef der bayrischen Schwesterpartei CSU, sein. Aber für die große CDU wäre es fatal, deswegen war Laschet dran. Das Problem besteht darin, dass Laschet ein Kandidat der Parteieliten ist und sich sonst keiner großen Beliebtheit erfreut. Die Basis hat sich eher für den bayerischen Ministerpräsidenten Söder ausgesprochen, der weit größere Popularität genießt. Daher werden die Christdemokraten von einem weniger versprechenden Kandidaten angeführt.

Laschet schneidet in den Umfragen schlechter als die CDU ab – die Deutschen wollen ihn anscheinend nicht wirklich als Kanzler. Welche Ideen vertritt er?

In aller Kürze – es soll einfach so bleiben, wie es war. Er steht für die Fortführung der Politik Merkels, aber ohne Merkel. So hat er es vermarktet und so ist die Resonanz in der Bevölkerung. In der Praxis ist das ein enormes Problem, denn es ist im Grunde unmöglich. Weder ist die Zeit geeignet, Merkels Politik fortzusetzen, noch hat er die Position von Merkel.

Dann haben wir die Grünen, die sagen, man solle die Politik der kleinen Schritte von Merkel verwerfen und Deutschland brauche eine richtige Wende. Sie können momentan mit knapp 20 Prozent Stimmen rechnen. Annalena Baerbock ist die jüngste Führungskraft in der deutschen Politik, in die Politik kam sie erst vor drei Jahren. 

Die Grünen sind am meisten berechtigt, über eine Wende zu sprechen, denn in den letzten Dutzend Jahren waren sie in Opposition. In Deutschland regierte dann die meiste Zeit die große Koalition CDU / SPD, einige Jahre waren auch die Liberalen von der FDP an der Macht. Die Grünen galten obendrein als eine innerlich zerstrittene Partei – Teilungen, Fraktionen, Flügel… Währenddessen macht die neue Parteiführung, also eben Baerbock und der Co-Vorsitzende Habeck einen sehr ernsten Eindruck. Das sieht wie ein eingespieltes Team aus. Das hat ihnen bestimmt sehr geholfen.

Hinzu kommt, dass in der Politik das Thema der grünen Wende absolut führend geworden ist – und das ist ein Thema, bei dem die Grünen am meisten glaubwürdig sind. So ist es auch auf der Ebene der Expertenanalyse. In letzter Zeit erschien ein sehr interessanter Bericht, in dem Programme politischer Parteien darauf geprüft werden, inwieweit sie es möglich machen, Ziele der deutschen Klimapolitik zu erreichen, also klimaneutral im Jahre 2045 zu werden. Die Grünen schneiden hier mit Abstand am besten aus. Das haben sie bis zu einem gewissen Punkt ausgezeichnet ausgespielt, denn momentan läuft ihr Wahlkampf eher nicht wirklich…

Bis zu einem gewissen Zeitpunkt führten sie in den Umfragen. Nun sind sie aber auf den dritten Platz, hinter SPD und CDU, zurückgefallen.

Der Wahlkampf ging in die Brüche aus eigentlich unbedeutsamen Gründen – bei Baerbock wurden irgendwelche Unstimmigkeiten in ihrem offiziellen Lebenslauf festgestellt, es kamen Plagiatvorwürfe, da sie in ihrem Buch Passagen ohne entsprechende Quellenverweise zitiert hat. Also ehrlich, es war nicht wirklich so sehr belastend. Die Grünen kamen aber mit der Kritik nicht zurecht. Momentan werden sie von ca. 16–17 Prozent der Deutschen unterstützt.

Früher konnte man sagen, die Grünen sind eine Partei der neuen Linke. Heute sind sie aber eher in der Mitte angekommen und können eine Koalition sowohl mit der SPD als auch mit der CDU bilden.

Die Grünen sind heute in sehr günstiger Lage. Sie sind wirklich zu einer Partei der Mitte geworden, selbstverständlich einer linksliberalen, bürgerlichen Partei, die vor allem besser ausgebildete, wohlhabende Menschen, die Mittelklasse vertritt. Es ist in Deutschland eine große Gruppe, sie haben also großes Potential und vor allem haben sie ein enormes Koalitionspotential – sie können mit allen außer AfD koalieren. Im Prinzip kann man sich heute eine deutsche Regierung ohne die Grünen nicht vorstellen.

Und wie kommen die Liberalen von der FDP über die Runden? Das ist die zweite kleinere Partei, die in die neue Regierung nach den Wahlen kommen kann. 

Die Liberalen haben sicher eine Chance, mitzuregieren. Nach den Wahlen werden eben die Grünen und die FDP entscheiden – von ihrer Strategie wird die Zukunft der deutschen Regierung abhängen.

Die Liberalen würden gerne mit der CDU, und die Grünen mit der SPD koalieren.

FDP plädiert sehr stark für die freie Marktwirtschaft. Momentan wird darüber sehr viel gesprochen, aber selbst wenn die CDU die Wahlen gegen die SPD verlieren und den zweiten Platz belegen würde, werden die Liberalen versuchen, eine Koalition mit der CDU und den Grünen zu bilden.

Am Anfang haben wir nach den wichtigsten Themen im Wahlkampf geschaut. Ein sehr wichtiges Thema, das die politische Szene teilt, sind Steuern und Investitionen. Soll man nämlich die Steuern erhöhen oder senken? Sollen öffentliche Investitionen auf Kosten der höheren Verschuldung getätigt werden? Hier sieht man die Spaltung sehr genau. CDU und FDP möchten die Steuern senken und die Schuldenbremse im Grundgesetz aufrechterhalten. SPD und Grüne meinen wiederum, aus heutiger Sicht ist das völlig sinnlos, denn Deutschland braucht enorm viel Geld für die Energiewende.

Man kann also entweder Steuern erhöhen, oder Schulden machen?

Ja, während FDP und CDU die Steuern erheblich senken möchten.

Foto: Maheshkumar Painam, die Quelle: Unsplash;

Bevor wir zur SPD übergehen, möchte ich noch einmal auf den Rand der deutschen politischen Szene schauen. Welche Rolle spielen momentan die rechtsextreme AfD und die postkommunistische Die Linke?

AfD ist schon ein fester Bestandteil der deutschen Szene. Ihre Umfragewerte bewegen sich im Bereich von 10–12 Prozent. Sie ist wirklich eine Partei der Extreme – sie kann auf Stimmen von Personen rechnen, die stark establishmentkritisch, rechtsextrem, nationalistisch und vor allem systemkritisch sind. Deswegen ist sie nicht in der Lage, ihr Potential auszubauen. Andererseits sind ihre Wähler:innen für die Mainstream-Parteien praktisch nicht zuurückzuholen.

Und niemand will mit der AfD koalieren.

Diese Partei wird isoliert. Die Linke regiert hingegen in drei Bundesländern – Thüringen, Bremen und Sachsen-Anhalt – mit.

Gemeinsam mit der SPD?

Mit der SPD und den Grünen. Es ist eine Partei mit extrem linkem Sozial- und Wirtschaftsprogramm. Sie betont vor allem die Bedeutung der Umverteilung und möchte die Topverdiener steuerlich sehr stark belasten. Aber im Hinblick auf ihre Regierungsfähigkeit stellen die Außenpolitik und die Sicherheitsfragen ein größeres Problem dar. Die Linke ist gegen die NATO-Mitgliedschaft, sie hat sich in der Abstimmung über Bundeswehreinsatz während der Evakuierung aus Afghanistan der Stimme enthalten, was in Deutschland als Skandal gewertet wurde, denn es ging um Menschenleben. Sie ist auch sehr kritisch gegenüber der UE als einer neoliberalen Kraft sowie sehr stark antiamerikanisch und prorussisch. Sie gilt also als ein sehr schwieriger, nicht zuverlässiger Koalitionspartner – das sagen übrigens offen die SPD und die Grünen, also diejenigen Parteien, mit denen Die Linke theoretisch nach den Wahlen koalieren könnte. Damit will eben die CDU in ihrem Wahlkampf Angst machen.

Die Grünen sind wiederum antirussisch und möchten sich mit den Amerikanern für den Wettbewerb gegen China engagieren. 

Außenpolitisch sind die Grünen sicherlich am interessantesten aufgestellt und streben hier die größte Korrekturen an. Sie sind tatsächlich besonders kritisch gegenüber Russland. Sie sind vielleicht nicht besonders proamerikanisch – sie sind auch gegen die Beteiligung Deutschlands am Raketenabwehrsystem der NATO – unterstützen aber in bestimmten Punkten die Agenda von Joe Biden, etwa in Sachen Demokratie, Menschenrechte und Klimaschutz.

SPD führt in den Umfragen und 50 Prozent der Deutschen meinen, deren Spitzenkandidat Olaf Scholz wäre der beste Kanzler. 

Scholz ist vor allem stark, weil die Konkurrenten schwach sind. Als Politiker hat er wenig Charisma, was gerade in Deutschland sein Vorteil sein kann. Als seine Stärke hat sich der Aspekt erwiesen, den man anfangs für seine Schwäche gehalten hat – er gehört zu dem rechten Spektrum der SPD. Sein Wirtschaftsprogramm ist viel näher an der Mitte, als es bei der Parteiführung der Fall ist – Scholz ist nicht der Parteichef und eben deswegen ist er es nicht geworden. Die Partei hat einfach als Kanzlerkandidaten einen Politiker nominiert, der populär war und als aktueller Finanzminister politisch mehr Ernst ausstrahlte.

Man konnte vermuten, dass es im Wahlkampf Probleme geben wird und die Partei seine Position in Frage stellen wird, da er das Partei-Mainstream nicht vertritt. Aber die SPD unterstützt ihn eindeutig, denn sie sieht keine andere Option und der moderate Scholz gefällt den Wähler:innen Merkels.

Auf den Wahlplakaten präsentierte er sich sogar als „Kanzlerin”. 

Man muss aber auch sagen, dass die SPD in den Umfragen keinen Höhenflug absolviert. Sie können auf ca. 25 Prozent der Stimmen hoffen – noch vor wenigen Jahren wäre es eine Katastrophe. Noch vor zehn Jahren landeten sie in den Umfragen bei etwa 40 Prozent.

Wie würde sich die Politik Deutschlands ändern, wenn die SPD die Wahlen gewinnt und eine Regierung bildet?

Die wichtigsten Themen sind dann die Staatsausgaben und das Steuersystem. Das wird dann ein Versuch neuer Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik sein. Bis jetzt hielt Deutschland streng am Sparkurs, selbst auf Kosten von absolut notwendigen Investitionen in die Infrastruktur, Digitalisierung und Energiewende. Dieses Modell der Wirtschaftspolitik entspricht den Herausforderungen nicht. Linksorientierte Parteien sagen es offen. Fragt sich, ob sie es wagen, tatsächlich eine Kurskorrektur vorzunehmen. Das wäre eine einschneidende Zäsur.

Und in der Europäischen Union? 

Wohl möglich, dass es eine ähnliche Bedeutung hätte. Als Politiker ist Scholz kein Revolutionär. Man kann nur schwer erwarten, dass es zu fundamentalen Änderungen in der deutschen Außen- oder Europapolitik kommen würde – hier herrscht in Deutschland eher ein breiter Konsens. Aber eine Zustimmung für höhere Ausgaben könnte auch Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik der EU haben, insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussionen über Lockerungen der Schuldenbremse im EU-Fiskalpakt. Sozialdemokraten und Grüne wären dafür, dass z.B. Aufwendungen für grüne Investitionen nicht mitgerechnet werden. Sollte es dazu kommen, würde es eine wesentliche Änderung des deutschen Standpunktes bedeuten und es wäre ein schlüsselwichtiger Schritt aus der Sicht der gesamten Union. Diese Frage gilt aber in Deutschland als besonders heikel und da hat selbst Scholz aufgehört, darüber laut zu sprechen…

Welche Koalition wäre für die deutsch-polnischen Beziehungen am besten?

Das hat, ehrlich gesagt, keine größere Bedeutung. Es hängt eher davon ab, was in Polen passieren wird, und nicht davon, welche Koalition in Deutschland entsteht. Bestimmt würde eine linke Koalition mit der SPD und Der Linken Diskussion über die Sicherheitspolitik Deutschlands, über die deutsche Teilnahme am atomaren Abschreckungssystem der NATO oder über künftige militärische Einsätze eröffnen. Es würde auch einen sanfteren Kurs gegenüber Russland bedeuten – das wäre für Polen auch nicht gut. Aus Sicht der Sicherheitspolitik wäre wohl eine schwarz-grüne Koalition am besten. Die scheint aber wenig wahrscheinlich.

Welche Koalition scheint denn am wahrscheinlichsten?

Wenn wir uns die Umfragen anschauen, dann hätte rot-grün-gelb die meisten Aussichten.

Werden es die Liberalen hinnehmen? Sie möchten doch lieber mit der CDU koalieren.

Sie werden wohl dafür plädieren, da haben sie aber schlechtere Karten. Und sie können auf die Regierungsbeteiligung nicht verzichten, wenn so eine Möglichkeit kommt. Man kann sich doch schwer die Situation vorstellen, in der eine Koalition SPD–Grüne–Die Linke nur deshalb entsteht, weil die FDP nicht mitregieren wollte. Ein solches Szenario ist einfach schlechter für die FDP. Hinzu kommt, dass die Grünen eine Koalition mit der SPD bevorzugen, weil sie in einer CDU-Regierung bei den Themen weniger zu sagen hätten, die ihnen am wichtigsten sind.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.