Special Reports / Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Die Königin Europas ist ohne Nachfolger

Gertrud Höhler · 30 October 2012
Jakub Stańczyk im Gespräch mit Prof. Gertrud Höhler, der Autorin des 2012 erschienenen, bekannten Buches ”Die Patin”

Jakub Stańczyk: Angela Merkel ist heute die wichtigste Frau in Europa, wenn nicht gar in der Welt. Benutzt sie ihr Frausein als politisches Instrument?

Gertrud Höhler: Merkel begann ihre Karriere gerade deshalb mit so großem Erfolg, weil sie eine Frau war. Es ging um den Sturz von Kohl. Alle Männer in der unmittelbaren Umgebung des Bundeskanzlers wollten seinen Rücktritt, aber waren zu feige, um die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Sie hingen an ihm, schämten sich und hatten Angst davor, irgendetwas zu unternehmen. Merkel hingegen vermochte es, schlichtweg zu sagen, dass sie mit Kohl nichts gemein haben will. Auf eben diese Weise vollzog sie eine Beschleunigung ihrer Karriere.

War sie stets so radikal?

Nein, denn damals tat sie ganz einfach etwas, was Frauen oftmals tun. Ähnlich wie in Partnerschaften, wo die Frauen es sind, die sich häufiger dafür entscheiden, den Partner zu verlassen. Und in diesem Sinne ist Merkel eine typische Frau. Aber sie instrumentalisiert ihr Frausein nicht. Sie lehnt es überhaupt ab, irgendeinen Unterschied zwischen den Geschlechtern herauszukehren. Der Spiegel hat sie einmal gefragt, ob sie große Unterschiede zwischen Männern und Frauen sehe. Sie sagte – ja. Aber bereits sechs Jahre später stellte sie fest, dass es diese überhaupt nicht gebe. Der schockierte Redakteur konnte sich noch an die frühere Antwort erinnern und fragte, ob diese Unterschiede tatsächlich nicht vorhanden seien. Sie sagte ihm, dass es vielleicht einen Unterschied gebe – Männer haben eine kräftigere Stimme. Dies war natürlich ein Seitenhieb auf Schröder, der in der Öffentlichkeit auch mal schreien konnte.

Und Merkel spricht so leise?

Wenn sie an den Rednerpult tritt, hat man sogar das Gefühl, dass sie am liebsten überhaupt nichts sagen würde. Sie spricht nur aus zwanghafter Notwendigkeit, aber dies resultiert daraus, dass sie sich in keinster Weise festlegen möchte. Sie hat ihre eigene Philosophie, die man wie folgt ausdrücken könnte: Sage nie einen Satz, den man dir einst vorhalten könnte. Aber dies könnte genauso gut eine männliche Eigenschaft sein.

Europa wird heute jedoch hauptsächlich von Männern regiert. Wie würden sie Frau Merkel als Politikerin im Vergleich zu anderen Staatsoberhäuptern einschätzen?

Sie versucht, persönlich keinerlei Entscheidungen zu treffen. Sie fährt lediglich auf Konferenzen und wacht darüber, dass bestimmte Vereinbarungen vollzogen werden und dass die Medien dies mit der Feststellung quittieren, dass hervorragende Entscheidungen gefällt wurden und die Königin Europas – das ist sie – die maßgebliche Entscheidungsträgerin gewesen ist. Die wichtigsten Entscheidungen werden hingegen unter dem Druck der verschuldeten Staaten getroffen. Man sendet ihnen Geld, aber leistet ihnen keine strukturelle Hilfe. Man gibt Kredite, aber sagt nicht, für was diese Gelder bestimmt sein sollen. Monti und Rajoy sahen ihre Chance bei der jüngsten ESM-Sitzungsrunde, als Merkel hinausging, um sich für zwei Stunden schlafen zu legen. Als sie fort war, trafen sie die Entscheidungen hinter ihrem Rücken… Merkels unglaubliche Vorsicht hängt in gewisser Weise mit ihrer nüchternen Weltsicht zusammen. Sie ist unberechenbar. Menschen, die mit ihr arbeiten, wissen, dass sie jede Position wechseln wird. Denn heute sagt sie etwas und morgen das Gegenteil.

Einerseits sagen Sie, dass Merkel sich durchschlagen kann und ihre Konkurrenz zu besiegen versteht. Andererseits sei sie unfähig, Entscheidungen zu treffen. Geht das vielleicht Hand in Hand?

Ja, natürlich. Es gibt nur niemanden, der diese Inkohärenz in ihrem Verhalten wahrnimmt. Darum habe ich das Buch geschrieben. Denn niemand sieht, dass keine einzige Entscheidung von ihr stammt. Sie verlangsamt das Tempo und bringt Veränderungen zum Stillstand – und die Deutschen sind entzückt, dass noch nichts endgültig beschlossen wurde. Ein paar Wochen später fällt die Tür ohnehin ins Schloss, aber das bekommen die Menschen dann nicht mehr mit. Merkel möchte ganz einfach so lange wie möglich an der Macht bleiben. Im Gegensatz zu ihr opferte Schröder sein Amt für ein politisches Ziel, das seine eigene Kariere kostete. Er wollte den Sozialstaat leistungsfähiger machen und Arbeitslosigkeit reduzieren. Die positiven Effekte seiner Politik sind in Deutschland bis heute erkennbar. Eine solche Situation ist für Merkel unvorstellbar. Und der Sicherheitsinstinkt von uns Bürgern wird permanent eingeschläfert, da Merkel die Ereignisse für ihre Zwecke weniger dramatisch darstellt als sie es in Wirklichkeit sind.

In ihrem Buch gehen Sie noch weiter, sie nennen ihren Politikstil autokratisch. Das klingt sehr stark. Hat die Bundeskanzlerin diesen Tadel verdient?

Merkel praktiziert autoritäre Führung. Autoritär ist gerade ihr Schweigen, die fehlende Kommunikation, die ihren Regierungsstil kennzeichnet. Dabei herrscht die Überzeugung, dass man keine Fragen stellen darf. Wenn diese Fragen auftauchen, antwortet Merkel, dass die von ihr vorgeschlagene Lösung ohne Alternative ist. Und Schluss. Darüber hinaus ändert sie Gesetze von einer Stunde zur anderen. Sie hat keinen Respekt vor dem europäischen und deutschen Recht. Das beste Beispiel ist der regierungsamtliche Umsturz in der Energiepolitik. Merkel hatte bislang völlig unjuristische Gründe für diesen Wandel: Sie wollte die Grünen schwächen, indem sie deren Postulate übernahm. Das ist ein durchdachtes Programm zur Verwischung der Grenzen zwischen den Parteien, um der parlamentarischen Demokratie zu schaden.

Sie stellen sehr gewagte Thesen auf, geben aber kaum Beispiele dafür.

Bitte sehr, die kann ich Ihnen gerne geben, was die Manipulation der Parteien angeht. In den Jahren, in denen Merkel gemeinsam mit der SPD in der Großen Koalition regiert hat, hat sie im Namen der CDU Auffassungen übernommen, die rein sozialdemokratisch sind. Die SPD konnte nichts dagegen einwenden, da es sich um ihre Ideen handelte. Die Sozialdemokraten wurden also geschwächt, obwohl die CDU daraus keineswegs gestärkt hervorging. Die Grünen haben sich bis heute noch nicht davon erholt, wie Merkel sie im Bereich der Energiepolitik quasi-enteignet hat. Lediglich den Liberalen – und das ist interessant – mit denen Merkel seit 2009 regiert, hat sie bislang nichts weggenommen. Aber Merkel regiert, ohne die Freiheit wirklich zu respektieren. Im Parlament heben alle einmütig die Hand, was herrlich anzusehen ist. Aber dieses System ist keine Demokratie mehr. Die Opposition hat zunehmend geringere Möglichkeiten des Widerspruchs. Wer nicht mit Merkel übereinstimmt, wird heftig am Ärmel gezupft und darauf hingewiesen, dass er den ”Ernst der Lage” nicht verstanden hat.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist bislang nicht geändert worden, die staatlichen Institutionen funktionieren weiterhin – und dennoch sind Sie der Ansicht, dass Deutschland keine Demokratie mehr ist? Welches sind eigentlich die Regierungsmethoden von Angela Merkel, die Sie für totalitär oder zumindest autoritär halten?

Merkel hat zum Beispiel die Mehrheit bei der Bundespräsidentenwahl mehrfach geschickt manipuliert. Sie hat dafür gesorgt, dass die von ihr gelenkten Leute dieses höchste Amt im Staate übernahmen. Denn sie steht nach unserer Verfassung nicht über diesem Amt. Sowohl bei Köhler als auch bei Wulff war dies der Fall. Erst nachdem letzterer ”abgeschossen” wurde, konnte die FDP als kleinerer Koalitionspartner die Kandidatur von Gauck durchdrücken. Dies gelang deshalb, weil Merkel die Situation nicht richtig eingeschätzt hat. Sie meinte, dass es Gauck nicht gelingen werde, angesichts der anfangs eher geringen Unterstützung dennoch Präsident zu werden. Derartige Manipulationen sind deutliche Anzeichen dafür, dass etwas Beunruhigendes geschieht. Wir Deutsche haben bereits zwei Diktaturen erlebt. Man darf nicht vergessen, dass Systemwechsel jedes mal ein anderes Gesicht zeigen. Bereits heute wandern die besten Leute und starke Firme aus dem Lande ab. Es bleiben lediglich die ewigen Ja-Sager zurück, der Raum für echte Diskussionen wird immer kleiner. Schon bald könnte deutlich werden, dass Deutschland sich in derselben erbärmlichen Lage befindet wie diejenigen Länder, die heute von uns Hilfe erhalten. Wir versprechen mehr als wir einhalten können.

Es fällt schwer, das zu glauben. Die deutsche Wirtschaft ist doch sehr stark und kann noch viel aushalten!

Auch in Deutschland schwächelt die Konjunktur. Merkel meint, dass sie diese Entwicklung mit staatlichen Subventionen verdecken kann. Die Subventionen werden natürlich von unseren Steuern bezahlt, obwohl wir Bürger immer weniger im Geldbeutel haben. Der radikale Umbruch in der Energiepolitik führt zu immer höheren Stromrechnungen, was vor allem die kleinen Leute hart trifft, die nicht über allzu viel Geld verfügen. Unsere Wirtschaft gerät in zunehmende Abhängigkeit vom Staat. Die Energiekonzerne machen hohe Verluste, und Merkel lähmt den Wettbewerb durch Stattsdiktate. Zahlreiche Beobachter vermuten, dass in dem Augenblick, in dem sich herausstellt, wer letztendlich zu den Verlierern in Europa gehört, Frau Merkel ein Amt in Brüssel übernehmen wird. Dann wird es ihr gleichgültig sein, wie Deutschland in Europa funktioniert.

Sind Sie der Meinung, dass Merkel also eine Gefahr darstellt, die man beseitigen müsste? Aber wer sollte nach ihr die Macht übernehmen?

Merkel hat keinen Thronfolger. Das kommt bei Herrschern häufig vor. In diesem Fall haben wir es jedoch mit einer Situation zu tun, in der alle jungen, ambitionierten und entwicklungsfähigen Leute die politische Bühne bereits verlassen haben. Nun, es gibt David McAllister, den Ministerpräsidenten von Niedersachsen. Er ist sehr jung und könnte ganz anders regieren. Und da ist Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière, der Merkel ersetzen könnte. Ich sehe ihn allerdings nicht in der Rolle eines echten Siegers. Als Kanzler würde er wahrscheinlich so regieren wie Merkel. Was den SPD-Kanzlerkandidaten anbelangt, so glaube ich nicht, dass da auch nur irgendeiner mit Erfolg gegen Merkel antreten könnte. Möglich wäre allenfalls eine gemeinsame Koalition von CDU und SPD, in der der SPD-Kandidat nicht Kanzler wäre, sondern natürlich Merkel selbst. In den letzten Jahren haben wir jedoch derart große Veränderungen erlebt, dass sich kaum etwas vorhersehen lässt.