Special Reports / Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Karolina Wigura · 13 August 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Vielleicht hat Hitler nicht genug von ihnen umgebracht” – das sind Worte, die soeben erst in Frankreich zu hören waren, aus dem Munde des Bürgermeisters eines kleinen Städtchens in dem bezaubernden Land an der Loire. Gemeint war das sogenannte „fahrende Volk” („Gens du voyage”, wie in Frankreich eine offizielle Bezeichnung u.a. für die Roma lautet). In den Medien kochten die Emotionen hoch, dem Politiker schlug aus den eigenen Reihen schärfste Kritik entgegen. In Ungarn wurden vergangene Woche Rechtsextreme wegen des Mordes an einigen Vertretern der Roma-Minderheit von einem Gericht zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Für Aufruhr in Österreich sorgte die vor wenigen Tagen gefallene Entscheidung zur Abschiebung von Flüchtlingen, vor allem pakistanischer und afghanischer Nationalität, die seit einigen Monaten in Wien friedlich gegen das strikte Asylrecht protestieren…

Das sind nur die Meldungen der letzten Tage und es ließen sich noch viele weitere Beispiele finden, obwohl es zahlreiche Bestimmungen gibt, die gegen Diskriminierung schützen sollen. Vor nur wenigen Jahren rief Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, in dem der Autor die These beweisen wollte, die deutschen Türken besäßen einen niedrigeren Intelligenzquotienten als die Deutschen selbst, einen Riesenskandal hervor. Erbarmungslos kritisiert wurden belgische Parlamentarier, die im Jahr 2010 unzählige Stunden darauf verwendeten, ein Kopftuchverbot für Musliminnen zu erstellen – später wurde nachgezählt, dass es tatsächlich um eine Gruppe von rund hundert Frauen ging. Doch der Kontext ist um einiges umfassender als diese paar Fälle, die, einzeln betrachtet, beinahe als bedauerliche Zwischenfälle erscheinen könnten.

Eine negative, häufig populistische Rhetorik das „Fremde“ betreffend sowie auch Konflikte vor dem Hintergrund von „Rassen-“, „ethnischen“, religiösen oder nationalen Unterschieden sind heute aus der politischen Landschaft des Alten Kontinents nicht mehr wegzudenken. Nach diesem Maß werden politische Trennlinien neu gezogen. Manchmal lassen sich bei Fragen der Immigration die tatsächlichen Unterschiede in der Vorgehensweise rechter und linker Parteien nur schwer ausmachen. Offen bleibt die Frage, ob die alten Gespenster nach Europa zurückkehren oder ob wir es mit einem völlig neuen Phänomen zu tun haben.

Europa steht im Grunde vor der Frage nach dem Status, der Integration und Assimilation des „Fremden” (soweit dies überhaupt möglich ist). Dieses „Fremde“ hat viele Gesichter – sowohl ethnische als auch religiöse. Ein europäisches Äquilibrium zu finden ist schwer, denn die Europäische Union basiert, anders als die Vereinigten Staaten, nicht auf dem Mythos einer Immigrantengemeinschaft. Im Streit um das „Fremde“ wird die Spannung zwischen dem liberalen Recht des Einzelnen auf respektvolle Behandlung und dem Recht der Gemeinschaften auf die Bewahrung ihrer Kultur sichtbar.

Hier lohnt es sich, ganz offen zu fragen, ob diese fundamentale Herausforderung die europäischen Politiker nicht ganz einfach überfordert – einerlei, ob dabei vom östlichen oder vom westlichen Teil des Alten Kontinents gesprochen wird. Und hier verschafft die Lektüre der vier Texte, die heute in der „Kultura Liberalna“ im Rahmen des „Themas der Woche“ veröffentlicht werden, bei der Gelegenheit gleich eine gewisse Vorstellung davon, ob etwa mentale Überbleibsel des – wenn auch in politischem Sinne seit Langem nicht mehr vorhandenen – Eisernen Vorhangs Europa immer noch trennen.

Die Ausgabe eröffnet ein Essay von der Expertin für europäische Migration Saskia Sassen. Sie erklärt darin, welche Bedeutung die Finanzkrise für die heutige xenophobe Stimmung in Westeuropa hat. Des Weiteren erinnert sie an den regelmäßig wiederkehrenden dringenden Bedarf an Arbeitskräften und an die Diskriminierung, welche den Ankömmlingen entgegenschlägt. Die berühmte deutsche Publizistin türkischer Herkunft Necla Kelek wiederum analysiert im Gespräch mit der „Kultura Liberalna” die Situation in Deutschland.      

 Vollkommen anders sieht die Situation in Mitteleuropa aus. Hier, argumentiert der ungarische Soziologe András L. Pap, ergibt sich die problematische Situation der Migranten und Gruppen von Minderheiten häufig daraus, dass diese keine sich ihrer Rechte bewusste  Gruppe darstellen (und auch nicht als eine solche behandelt werden). Sie sind also, kurz gesagt, eine Gruppe von Unsichtbaren. Pap erklärt ebenfalls, worauf der Teufelskreis der institutionellen Diskriminierung beruht, die zum Beispiel dazu führt, dass Roma-Kinder in der Slowakei und Ungarn auf Sonderschulen geschickt werden. Diese Situation zeigt Katarzyna Kubin, die Vorsitzende der Stiftung für Gesellschaftliche Vielfalt (Fundacja na rzecz Różnorodności Społecznej), anhand des polnischen Beispiels auf der Mikroskala auf. Ihrer Ansicht nach bewirkt der Mangel an in sich schlüssigen Strategien bezüglich Bildung, Aufnahme von Arbeitsverhältnissen, Eintritt in die Ehe usw., dass Migranten in Polen in ein gesellschaftliches Vakuum geraten und die um Hilfe bemühten Nichtregierungsinstitutionen in völligem Chaos versinken.

***

Das Thema der Woche gehört zu dem Zyklus, den die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Kultura Liberalna im Rahmen eines deutsch-polnischen Projektes über die Zukunft der Europäischen Union gemeinsam erarbeiten.

Zu folgenden Themen sind bereits Ausgaben erschienen: „Soll Deutschland sich für die Europäische Union aufopfern?“  mit Texten von Ivan Krastev, Clyde Prestowitz, Karolina Wigura und Gertrud Höhler; „Europa ist ein Club der gedemütigten Imperien“  das einzige Interview mit Peter Sloterdijk in den vergangenen Jahren für die polnische Presse; „Der Traum vom Wohlfahrtsstaat“  mit Texten von Wolfgang Streeck, Richard Sennett, Jack Saryusz-Wolski und Łukasz Pawłowski; „Freiheit, Klima, Elektrizität!”  mit Texten von Claudia Kemfert, Wojciech Jakóbik, Grzegorz Wiśniewski und Jakub Patočka.

Schon bald erscheint eine neue Ausgabe!

Viel Freude bei der Lektüre!

Karolina Wigura

 


 

Konzept dieser Ausgabe: Karolina Wigura.

Mitarbeit: Radosław Szymański, Hubert Czyżewski, Łukasz Pawłowski.

Koordination seitens Kultura Liberalna: Ewa Serzysko, Ewa Muszkiet.

Koordination seitens der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Monika Różalska, Magdalena Przedmojska.

Aus dem Polnischen von Antje Ritter- Jasińska (Katarzyna Kubin) und Lisa Palmes (Editorial, András L. Pap).

Illustrationen: Agnieszka Wiśniewska.

Logo_FWPN