Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union.

Kultura Liberalna · 27 May 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Präsidentschaftswahl hat eine neue Etappe in der jüngsten Geschichte der Ukraine eröffnet. Innerhalb von 23 Jahren ist das bereits die „dritte Neueröffnung“ – nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 und der Orangenen Revolution vor einem Jahrzehnt. Werden dieses Mal die Hoffnungen der Bürger endlich erfüllt?

Die Analytiker des postsowjetischen Gebietes sind sich ungewöhnlich einig: Die Ukraine war noch nie in einer so schwierigen Situation wie heute. Die Wirtschaft steht auf der Kippe zum völligen Zusammenbruch, und im Ostteil des Landes halten die Kämpfe mit den Separatisten noch immer an. Auch die geopolitische Lage des Landes verkompliziert sich. Selbst wenn wir uns darauf einigen, dass die EU sich langsam aus der Wirtschaftskrise befreit, setzt der Erfolg der euroskeptischen Parteien ein deutliches Zeichen, dass das politische Klima in Europa in nächster Zukunft nicht gerade günstig für EU-Erweiterungsgespräche sein wird. Indessen verspricht der ukrainische Wahlsieger Petro Poroschenko, das Land schon in zehn Jahren in die EU zu bringen. Ein reales Szenario oder Wahldemagogie?

Die Chancen für einen vollen Erfolg der Demokratie in der Ukraine sind nicht besonders groß – dennoch gibt es auch Gründe für einen vorsichtigen Optimismus. Wladimir Putin hat angekündigt, Moskau werde die Wahl in der Ukraine unabhängig vom Wahlergebnis anerkennen. Die hohe Wahlbeteiligung und Poroschenkos eindeutiger Sieg geben dem neugewählten Präsidenten eine starke Legitimation für die Durchführung der notwendigen Reformen. Wenn die westlichen Staaten die geleisteten Versprechen nicht vergessen und der Ukraine reale finanzielle, politische und beratende Unterstützung anbieten, kann Kiew vielleicht endlich den Erfolgskurs einschlagen. Heute hat wohl niemand mehr die Illusion, die Ukraine könne weiterhin so regiert werden wie bisher. Frei nach einer alten politischen Devise kann man sagen, die Ukraine steht heute vor einer einfachen Entscheidung: Reformen oder Tod!


Welche Schritte sollte somit der neue Präsident vornehmen, und auf welche Gefahren muss er besonders achten? Danach haben wir die Teilnehmer der Konferenz „Ukraine: Thinking Together” gefragt, die vor einer Woche in Kiew endete. In dem Gespräch, das die aktuelle Ausgabe eröffnet, argumentiert der bulgarische Politologe Iwan Krastew, die dringlichste Aufgabe sei die Identifizierung entsprechender Subjekte für eine Diskussion über die Zukunft des Landes. Krastews Ansicht nach sollte sogar mit extremen Gruppierungen gesprochen werden, solange diese die Rechtmäßigkeit der Regierung in Kiew anerkennten. „Die schlechteste Lösung wäre die, bei der Moskau als Verhandlungspartner Gespräche im Namen eines Teils der Ukrainer führen würde“, meint unser Gesprächspartner.

Eine ähnliche Meinung äußert der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, zur Zeit einer der Berater Petro Poroschenkos. Direkt nach Amtsantritt solle der neue Präsident sich an alle Ukrainer wenden, unabhängig von ihrem Wohnort und der Sprache, derer sie sich bedienen. Poroschenkos Entscheidung, seinen ersten Besuch Donezk abzustatten, ist ein Signal, dass er auf seine Berater hört. Doch selbst solche Gesten bewirkten nicht viel, wenn die Ukraine keine Hilfe von außen erhalte und die Bedrohung von russischer Seite nicht durch weitere wirtschaftliche Sanktionen ferngehalten werde.

Mit dieser These nicht einverstanden erklärt sich unser nächster Gesprächspartner, der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner. Wirtschaftliche Sanktionen seine manchmal wirkungsvoll, brächten aber auf Russland angewandt nicht die gewünschten Erfolge. „Persönliche Sanktionen gegen enge Mitarbeiter des russischen Präsidenten machen auf ihn nicht den geringsten Eindruck. Sicherlich, sie können für die betreffenden Personen mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sein, weil sie kein Visum für Europa bekommen. Sie werden jedoch Putin nicht aufhalten“, meint Kouchner und argumentiert, das wichtigste Druckmittel sei politischer Druck.

Ist aber Brüssel in der Lage, die Ukraine zu retten? Die Europäische Union muss sich zunächst selbst die Frage beantworten, ob sie eine wirkliche Wertegemeinschaft darstellt oder sich schon vor langer Zeit der Last der partikuläreren Interessen, Rohstoffherausforderungen und Gier nach russischem schmutzigem Geld gebeugt hat, sagt Ola Hnatiuk im Gespräch mit der „Kultura Liberalna“. Entscheide sie sich für die erste Antwort, solle sie erneut über eine Öffnung für die Ukraine nachdenken – und eine völlige Aufhebung der Visapflicht, meint die Ukrainistin.

Was ist somit wirklich die Alternative für die Ukraine? Von Brüssels Machtlosigkeit profitiert am meisten Wladimir Putin, der sich bei den russischen Bürgern – wie Umfragen beweisen, die nach dem Vorstoß auf der Krim durchgeführt wurden – einer Beliebtheit erfreut, von der die europäischen Politiker in ihren Ländern nur träumen können. Worauf beruht das Phänomen des russischen Präsidenten, und repräsentiert er wirklich die Ansichten der meisten Russen? Auf diese Frage antwortet Andrzej Waśkiewicz in seinem Artikel. „Die Russen erwarten von den Regierenden im selben Maße wie die Verwirklichung ihrer materiellen Interessen die Erfüllung der Mission des russischen Volkes, eines Elements, das die Grenzen der Russischen Föderation überschreitet.“ Eine so verstandene Mission kann nur ein von starker Hand gelenktes Russland erfüllen. Gibt es demnach in nächster Zeit gar keine Aussichten mehr auf eine Demokratisierung des Landes? Das auch nicht unbedingt. Waśkiewicz nimmt im russischen System die Vorzeichen für einen Wandel wahr. Aber ist das dann auch kein neuer „Wind aus Osten“?

Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Die Redaktion der „Kultura Liberalna”

Impressum der Ausgabe:

Das Thema der Woche wurde in Zusammenarbeit mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit erstellt.
Konzeption des Themas der Woche: Jarosław Kuisz, Łukasz Jasina, Łukasz Pawłowski, Karolina Wigura.
Mitarbeit: Kacper Szulecki, Błażej Popławski.
Koordination vonseiten der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Joanna Czudec, Magdalena Przedmojska.
Koordination vonseiten der „Kultura Liberalna”: Ula Jurgiel.
Die Illustrationen stammen von Kamil Burman.