Special Reports / Zynischer Nationalismus

Spiele mit dem Nationalismus

Viktoriia Zhuhan im Gespräch mit Gleb Pawlowski · 13 May 2014
In Wladimir Putins Russland herrsche eher ein imperialistischer Nationalismus, als ein ethnischer, so der russische Politologe. Wenn die Sprache des Regimes von einem gewissen Synkretismus geprägt ist, so deshalb, weil das Regime, das die europäische Sprache verworfen hat, nach einer neuen Ausdrucksweise sucht und Wörter entlehnt: sowohl von dem rechtsextremen Dugin, als auch von dem antisemitischen Kisielow.

Viktoriia Zhuhan: Herr Pawlowski, der Kreml ist der Meinung, dass in der Ukraine Faschisten die Macht ergriffen haben. Glauben die Russen das?

Gleb Pawlowski: Ich denke, ja. Aber „Faschisten“ – das ist nur ein Wort. Der Hauptvorwurf, den ich der Regierung in Kiew mache, ist, dass sie über keine gesellschaftliche Legitimierung verfügt. Diese Menschen hat die Revolution an die Macht gebracht, aber sie waren nicht die Anführer dieser Revolution. Das Schlimmste ist, dass sie ihre Posten missbraucht haben. Sie sind der Herausforderung, das Land zu einigen, nicht gerecht geworden. Zunächst war mir das seltsam vorgekommen. Dann aber habe ich verstanden, dass das Strategie ist, frei nach dem Motto „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“.

Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden. Erstens hat die derzeitige Regierung ihre gesellschaftliche Legitimation von dem Parlament erhalten, das durch allgemeine Wahlen entstanden ist. Zweitens darf das Wort „Faschismus“ nicht einfach so dahergeworfen werden. Seine Platzierung im Herzen der russischen Propaganda bezüglich der Regierung in Kiew, kann für das Image der Ukraine beispielsweise in Westeuropa dramatische Konsequenzen haben.

 Ich nehme die ernsthafte Metapher der ukrainischen liberalen Revolution durchaus wahr. Natürlich ist das kein Faschismus. Aber Liberalismus kann man es wohl kaum nennen.

Gleb Pawlowski

Die heutige Regierung in Kiew wird im Grunde von der ehemaligen politischen Elite repräsentiert. Die Zusammensetzung des derzeitigen Parlaments wurde durch Wahlen bestimmt, die zu Janukowytschs Zeiten stattgefunden haben. Diese Wahlen waren, vorsichtig gesagt, gestellt. Außerdem ist der Regierung Jazenjuks auch jedes Mittel recht. Alle Gegner dieser Regierung werden als Terroristen bezeichnet. Genauso war es in Russland vor zehn Jahren: Wer das Vorgehen Moskaus im Kaukasus nicht befürwortete, war ein Terrorist. Leider war der Charakter dieser Revolution von Anfang an mit einer ausschließenden Art von Nationalismus verbunden. Es gibt „national Bewusste“ und „Unbewusste“. Ich habe die Geschehnisse auf dem Majdan sehr genau verfolgt und war ein paar Mal in Kiew. Der Osten und der Süden der Ukraine hatten dort praktisch keine Stimme. Man ging davon aus, dass sie sich anschließen würden. Die neue Regierung hat daraus eine andere Politik gemacht: „Wer sich nicht anschließt, ist ein Terrorist“!

Vielleicht würden sie sich am liebsten anschließen, wenn da nicht die prorussischen Aktivisten wären, die durch die ukrainische Grenze sickern, Männer in Uniformen, die – wie Wladimir Putin meint – aus „dem Laden“ stammen? Und wenn nicht das Spiel mit dem Begriff „Volkswillen“ durch die Erzwingung der Organisation von Referenden zum Anschluss an Russland wäre.

Die Ukrainer haben ein paar Mythen, die die ganze Zeit in den Westen übermittelt werden. Zum Beispiel, dass im Osten Ordnung herrscht. Oder das alle Probleme von Putins Saboteuren verursacht werden. Das ist nicht wahr. Der Osten ist voller Angst. Die Berichte vom Majdan machen den Eindruck, als würden sie einen anderen Staat betreffen. Hinzu kommt der Stil dieser Proteste, bitte machen Sie sich bewusst, dass die Menschen, die im Januar „Ruhm der Ukraine! Den Helden Ruhm!“ gerufen haben, noch im Dezember diese Worte nicht über die Lippen gebracht hätten, wegen der Assoziation mit den Bandera-Anhängern. Der Majdan und seine Konsequenzen haben in der Ukraine Dämonen geweckt, die jetzt nicht leicht zu beherrschen sein werden. Nehmen wir einmal Odessa und die Personen, die vor ein paar Tagen in dem Brand des Gewerkschaftsgebäudes umgekommen sind. Das war ein gigantischer Schlag für diese ruhige Bürgerstadt. Das letzte Mal sind hier 1941 Menschen verbrannt worden. Wenn Kiew denkt, dass es damit leicht zurechtkommt, dann irrt es sich. Ich erinnere mich an frühere Wahlkämpfe in der Ukraine. Es haben sich immer zwei Makroregionen gegen die dritte vereint. Aber dieses Mal droht das Land zu zerbrechen. Ich bin der Regierung in Kiew gegenüber wesentlich skeptischer als ich das noch im März war. Ihr Prinzip ist folgendes: erst der Sieg, dann die Reformen. Aber ob sie im Moment des Sieges tatsächlich über irgendetwas wird entscheiden können? Ich nehme die ernsthafte Metapher der ukrainischen liberalen Revolution durchaus wahr. Natürlich ist das kein Faschismus. Aber man kann es wohl kaum Liberalismus nennen.

Wir haben über die Besonderheit des heutigen ukrainischen Nationalismus gesprochen. Und wie sieht der heutige Nationalismus in Russland aus?

Wesentlich differenzierter als der in der Ukraine. In Russland haben wir es mit einer Vielfalt solcher Gruppierungen zu tun: von ethnischen Nationalisten und Faschisten bis zum imperialistischen Nationalismus, wo man eigentlich nicht von Russländern spricht, oder auch nicht von „Russen“, sondern von Bürgern der Russischen Föderation. Der Präsident spricht ungern von „Russen“. Nicht, weil er sie nicht schätzt, sondern weil sie im Rahmen unseres imperialen Nationalismus ein Volk unter vielen anderen sind. Unserer Meinung nach gibt es gleichzeitig verschiedene Nationalitäten. Das heißt die Nation wird durch den Staat vertreten. Wenn man also von „Russländern“ spricht, sind die Russen gemeint und mit ihnen die Tataren, die Juden, die Ukrainer usw. Das ist eine sehr alte und mächtige Tradition.

Wie sieht es mit den russischen ethnischen Nationalisten aus? Studien, die im Jahr 2013 vom Lewada-Zentrum durchgeführt wurden, zeigen, dass es mehr werden. 60 Prozent der Russen erklärten, dass sie Widerwillen und Angst gegen die Bewohner des Kaukasus und gegen Asiaten empfinden. 66 Prozent unterstützen das Motto „Russland den Russen“. Jedes Jahr findet auch ein „Russischer Marsch“ statt.

Solche Studien haben ein grundsätzliches Manko: Sie vereinfachen die Wirklichkeit allzu sehr. Der Slogan „Russland den Russen“ verliert seit 20 Jahren nicht an Beliebtheit. Insbesondere unter den Vertretern der Mittelklasse, von der die Hälfte gar nicht russisch ist. Er wird von vielen Halb-Tataren, Halb-Juden usw. benutzt. Und an den „russischen Märschen“ nehmen alljährlich lediglich ein paar tausend Personen teil. Ich halte sie nicht für Faschisten. Das sind mehr oder weniger liberale Nationalisten, die vom Großteil der Gesellschaft als Sonderlinge wahrgenommen werden. Ein wichtiger Grund für ihre Proteste ist sicherlich das Fehlen einer Agenda für die „Russen“. Sie haben keinen Sonderstatus, während allen anderen nationalen Minderheiten bestimmte Privilegien zugestanden werden. Zwar wurde die idiotische Idee aufgebracht, die „Russen“ zur elementaren Gründungsnation zu ernennen, aber das würde sowie nichts ändern. Und andere Lösungen? Nehmen wir zum Beispiel die Krim. Wenn die Regierung sagt, dass wir die Russen auf der Krim schützen, weil sie sich bedroht fühlen, müsste man vielleicht eine Krimregion als Bestandteil der Föderation gründen? Ebenso für die Russen in Sibirien und im Süden usw. Nur dass man offiziell nicht darüber sprechen darf. Wenn jemand davon sprechen würde, dass es das Bedürfnis gibt, Gebiete für ethnische Russen abzusondern, wäre das ein großer Skandal. Man würde schimpfen, dass dies ein Ausdruck von Extremismus sei, ein Versuch, den Staat zu sprengen.

Putin setzt gern die patriotische Rhetorik ein. Spielt er nur mit nationalistischen Empfindungen, oder teilt er sie auch?

Ich glaube nicht, dass das Heuchelei ist. Soweit ich weiß fühlt sich Putin wirklich als ein „Russe“. Das Paradox besteht jedoch darin, dass man nicht Russland regieren und Russe bleiben kann. Wenn du Russland regierst – egal ob als Zar, als Generalsekretär, als Präsident – verlierst du deine nationale Identität. So ist es seit Iwan dem Schrecklichen, der als erster Herrscher Russlands einen Raum geschaffen hat, der anders als nach nationalen Gesichtspunkten organisiert war. Auch die Bolschewiken haben insbesondere nach der Revolution versucht, einen multikulturellen Raum zu schaffen. Die Sowjetunion wurde als Imperium einer affirmativen Politik bezeichnet, aber erfunden wurde diese in den zwanziger Jahren. Es wurden Nationen konstruiert, und es wurden ihnen Privilegien zugestanden. Früher oder später wird die Föderation den Russen ein staatliches Angebot machen müssen.

Sie haben gesagt, dass der ethnische Nationalismus in Russland nicht viele Befürworter hat. Dennoch hat während der Annexion der Krim der ethnische Diskurs in den Medien dominiert.

Wir schützen gern die Russen, solange sie weit weg sind. Aber im Internet kann man Aufnahmen finden, die zeigen, wie ethnonationalistische Demonstrationen in Simferopol von der russischen Polizei bereits nach der Annexion befriedet werden. Man sagte den Demonstranten: Ihr seid keine Russen mehr, sondern Bürger Russlands. Die haben das aber überhaupt nicht verstanden. Der heutige Patriotismus wird von den Massenmedien künstlich verstärkt, er basiert auf Aggressionen und auf Vorwürfen gegen andere. Einer wirft dem anderen vor, dass dieser seinen Patriotismus nicht in der gleichen Form teilt. In Moskau herrscht heute ein regelrechter patriotischer McCarthyismus: Ständig wird überprüft, was du über Patriotismus denkst, und ob du nicht in Wirklichkeit ein Feind bist. Dabei kann es passieren, dass dein Gesprächspartner nicht einmal den Unterschied zwischen Nation und Staat kennt.

 In Moskau herrscht heute ein regelrechter patriotischer McCarthyismus: Ständig wird überprüft, was du über Patriotismus denkst, und ob du nicht in Wirklichkeit ein Feind bist.

Gleb Pawlowski

Sie haben aber meine vorherige Frage noch nicht beantwortet. Manfred Sapper zählt in der heutigen Ausgabe von Kultura Liberalna auf, wer beteiligt ist am Aufbau der Rhetorik des Kremls: Ideologen, die aus der radikalen Strömung stammen wie Alexander Dugin, Sergej Kurginyan und Alexander Prochanow, und auch Dmitrij Kisielow, der seinen Antisemitismus offen äußert. Also ist der Nationalismus des gegenwärtigen Regimes nicht nur – wie Sie sagten – imperialistisch. Er ist auch ethnisch.

Ein gewisser Synkretismus rührt daher, dass unsere Regierung den Diskurs beinahe von Null aufbauen muss. Man ist von der europäischen Rhetorik abgekommen, aber es gibt noch keine neue. Putin klang im vergangenen Jahrzehnt wie ein anderer Mensch. In der russischen Kultur ist Ethnoradikalismus tabu, erst recht Faschismus. Aber die Regierung bedient sich, um sich an die Situation anzupassen, eines gemischten Dialektes, der mal bei Dugin, mal bei Kurginyan entlehnt. Da sind leider auch meine Formulierungen dabei, die noch in der vergangenen Epoche hinzugefügt wurden. Beispielsweise „russländische Welt“ und „russische Welt“. Aber unter dem Begriff „russische Welt“ war kein ethnischer Paternalismus zu verstehen, sondern es ging um die Zone der russischen Sprache und Kultur. In diesem Sinne gibt es Elemente der russischen Welt in den USA, in Europa, in Kanada und sogar in China. Das ist so etwas wie die „Anglosphäre”.

Für die radikalen Elemente in der russischen öffentlichen Sphäre zeigen Sie allerdings viel mehr Verständnis als für die in der Ukraine. Schaut man sich die derzeitigen guten Umfrageergebnisse für Wladimir Putin an, kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Bewohner der Föderation einen gemeinsamen Feind brauchen. Dieses Mal sind es die Ukrainer oder die Regierung in Kiew…

Das Schädlichste ist, dass die derzeitige russische Propaganda das Skript der Suche nach dem Verräter aktiviert hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das letztlich gegen Putin selbst wendet.

Gleb Pawlowski

Ich denke, dass wir uns in einer Epoche eines schweren Traumas befinden. Viele Menschen, auch ich, haben es lange ignoriert. Die Menschen haben in hohem Maße die Fähigkeit zur Kommunikation verloren. Das hängt teilweise mit dem Charakter der heutigen Massenmedien zusammen. Verschlimmert wird das noch durch die sozialen Medien, die durchaus nicht vor Propaganda schützen. Im Gegenteil, sie verstärken ihre Wirkung. Die User verschanzen sich auf ihren Positionen und das führt zur Spaltung der Gesellschaft. Das war im vergangenen halben Jahr im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine sehr gut zu sehen. Man darf das nicht nur durch das Prisma des Nationalismus sehen. Ideologische Inhalte sind hier weniger wichtig als die Technologie der Spaltung und der Aggressivität. Der Mensch greift an, und denkt erst dann darüber nach, warum er das getan hat.

Als ich mir die russischen sozialen Medien angesehen habe, habe ich den Eindruck bekommen, dass die Haltungen der Russen zur Politik des Kremls bezüglich der Ukraine gar nicht einheitlich sind. Wo verläuft die Linie der Spaltung, von der Sie sprechen?

In den sozialen Medien greifen sich Menschen an, die einander ähneln. Sie werfen dem Gegner ihre eigene Vorstellung von dessen Ansichten vor. Ein Beispiel: Putin hatte vor ein paar Tagen einen sehr kurzen Auftritt, aber er hat es nicht versäumt, das Thema Verrat anzusprechen. In unserem poststalinistischen öffentlichen Diskurs ist das ein wichtiger Begriff. Es spielt keine Rolle, ob du Jude, Ukrainer oder Tschetschene bist – wichtig ist nur, ob du ein Verräter bist oder nicht. Und hier kommen wir zum schädlichsten Element der derzeitigen russländischen Propaganda: Sie hat das Skript der Suche nach dem Verräter in Gang gesetzt. Selbst wenn jemand versuchen würde, die gesellschaftlichen Stimmungen zu besänftigen, läuft dieses Skript inzwischen von selbst. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich letztlich gegen Putin selbst wendet.