Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Wortgefechte vor den Wahlen

Małgorzata Ławrowska · 17 September 2013
Inwieweit sagt uns der diesjährige Wahlkampf etwas über die politischen Klasse und über die Gesellschaft in unserem Nachbarland?

Die Zielgerade des Wahlkampfes leitete das Fernsehduell zwischen der amtierenden Kanzlerin Angela Merkel und ihrem sozialdemokratischen Gegenkandidaten Peer Steinbrück ein. Das Duell, das an einem Sonntag zur Primetime auf vier deutschen Fernsehsendern live übertragen wurde, sollte eine Chance sein für die oppositionelle Sozialdemokratische Partei Deutschland und sich in den Prognosen niederschlagen. Mit der Art der Moderation und der Auswahl der moderierenden Journalisten sollte an das lebendige und aggressive amerikanische Vorbild angeknüpft werden. Doch die auftretenden Politiker waren dagegen immun und so war es „wie immer“: ernsthaft und kompetent, ohne Charisma und ohne Schwung. Streitfragen wie der NSA-Affäre oder der Intervention in Syrien wurde nur wenig Zeit gewidmet.

Vielleicht ist deshalb zum unbestrittenen Sieger des Sonntagabends die Halskette der Bundeskanzlerin in den deutschen Nationalfarben geworden, die von den Kameras 90 Minuten lang angemessen präsentiert wurde. Sogleich entstand für die Kette ein eigener Twitter-Account, und die Zahl der Follower überschritt schnell die Zehntausend. Man zog in Erwägung, ob die Kanzlerin nicht heimlich die belgische Option repräsentiere, schließlich seien das die gleichen Nationalfarben.

Die Fernsehdebatten in Deutschland haben keine lange Tradition. Weit entfernt sind sie von den großen amerikanischen Medienereignissen, wie beispielsweise dem berühmten Streit der Giganten im Jahr 1960: Richard Nixon gegen den Senator John F. Kennedy. Das Fernsehduell Merkel-Steinbrück ist das vierte in der Geschichte der deutschen Demokratie. Im Jahr 2002 „forderte“ der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber zum ersten Mal den amtierenden Kanzler Gerhard Schröder zu einem Duell vor der Kamera heraus. In den darauffolgenden Wahlkampfphasen erhitzten die Debatten Schröder-Merkel und Merkel–Steinmeier die Wählergemüter. Man kann die Kanzlerin also als eine Veteranin dieser Medienform bezeichnen.

In der öffentlichen Meinung hat das diesjährige Fernsehduell keiner Seite das eindeutige Übergewicht verschafft, die Atmosphäre war eher lauwarm. Wenige Tage nach der Debatte bestätigte das PolitBarometer im ZDF, dass dieses Ereignis die Vorlieben der Wähler nicht beeinflusst hat. In den Prognosen ist die CDU bei 41 Prozent und die SPD bei 26 Prozent der Wählerstimmen geblieben.

Die Politik feiertags und im Alltag

Die Kommentatoren der Debatte sind sich einig: vielleicht hat sie keiner der beiden Seiten etwas gebracht, aber sie war zweifelsohne ein Dienst an der Demokratie und der Bürgergesellschaft, denn fast 18 Millionen Zuschauer sahen sich die Übertragung an, hinzu kommt die ungeheure Aktivität der Internetuser. Die deutschen Medien, die öffentlichen Institutionen und die NGOs nutzen die letzten Wochen vor den Wahlen zur Mobilisierung der unentschlossenen und jungen Erstwähler. Erst kürzlich hatten Studien gezeigt, dass es dazu kommen könnte, dass fast ein Drittel der wahlberechtigten Bürger Deutschlands von ihrem Wahlrecht am 22. September keinen Gebrauch macht. In den Privatsendern SAT 1 und PRO7 gab es eine Kampagne unter dem Motto: „Geh wählen!“. Das öffentliche Fernsehen zeigt eine Reihe publizistischer Sendungen und Quiz zum Thema Demokratie, die mit ihrer attraktiven und intelligenten Form junge Zuschauer ansprechen. In diesem Jahr ist der Wahlkampf auf Billboards zurückgegangen – möglicherweise haben die Spin-Doctors die Überdrüssigkeit der Gesellschaft zur Kenntnis genommen, die seit der Krise in der Eurozone von allen Seiten mit widersprüchlichen und aggressiven Kommunikaten überschüttet wird. Daher rührt vielleicht – entgegen aller Erwartung – das nur marginale Interesse für die Alternative für Deutschland. In diesem Wahlkampf wird das Thema „Euro“ offensichtlich nicht zu radikalen Wahlentscheidungen führen.

Im Alltag bleibt der Bundestag die Plattform der politischen Streitigkeiten. Dies hat die heftige Debatte – oder eher die wahre Schlacht – am 3. September während der letzten Bundestagssitzung vor den Wahlen bestätigt. Bundeskanzlerin Merkel musste sich dem Vorwurf stellen, das Land unter seinen Möglichkeiten zu regieren. Das war der Tag der Abrechnung der Opposition mit der Regierung und des intensiven Streits, der die eigene Wählerschaft mobilisieren sollte. Bis zu den Wahlen kann die Hitze der Gefechte noch stärker werden.

Der Raum für gefahrlosen Streit

Neben den typischen Institutionen der Politik – den traditionellen und den modernen – bildet einen wichtigen Raum für den Meinungsaustausch und den Streit in Deutschland auch der Kulturbereich. Da ließen sich allein schon die documenta in Kassel und die Berliner Biennale nennen. Letztere hat – im Jahr 2012 von Artur Żmijewski kuratiert – im deutschen Publikum einen Heißhunger auf alles, was kontrovers, politisch und engagiert ist, ausgelöst, aber mit dem gleichzeitigen Bedürfnis, das jeweilige Thema zu vertiefen und nicht etwa an der Oberfläche zu bleiben und damit gleichzeitig banal zu werden. Die Berlinale ist berühmt für ihre Schwäche für den engagierten Film. Hier haben kleinere Produktionen die größten Chancen wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Wenn nicht von der Jury, dann von dem anspruchsvollen Publikum. Die Kultur in Deutschland hat keinen elitären Charakter, sie hat sich auch nicht kommerzialisieren lassen wie in vielen anderen EU-Ländern. Die Kulturinstitutionen arbeiten nicht nur in großen Stadtzentren, sondern auch in kleinen Städten.

Natürlich wäre ein alleiniger Umgang mit Kunst und Literatur, die sich „Engagement auf die Fahne schreibt“ (zitiert nach Jacek Dehnel), kaum erträglich, aber sie schafft auf natürliche Weise Raum für die Vielfalt der Ansichten, für ihre Artikulierung und ihre Rationalisierung. Es gibt also durchaus Verhaltensformen und Instrumente für die offene und sichere Interaktion mit den Menschen.

Kein geringerer als Josef Beuys hatte im Jahr 1980 die Wahlplakate für die Grünen entworfen. Im diesjährigen Wahlkampf erweisen sich die ästhetischen Standards als „etwas“ weniger anspruchsvoll. Sowohl die NPD als auch die FDP haben für ihre Werbespots das gleiche Motiv im Internet gekauft, das im Übrigen zuvor erfolgreich für eine finnische Joghurtkampagne eingesetzt worden war …

Der Wert der deutschen Institutionen besteht nicht nur darin, dass sie existieren, sondern auch darin, dass sie flexibel sind und die Fähigkeit zur Selbstverifizierung haben. Könnte eine Gesellschaft, der der Staat solche Möglichkeiten bietet, diesen stürzen wollen? Ich glaube, nein. Obwohl das nicht bedeutet, dass sie kein Recht auf mehr Emanzipation hat, dass sie von der politischen Klasse nicht fordern kann, mit eingefahrenen Schemata zu brechen, dass sie nicht eigene attraktive und gleichzeitig überzeugende Rezepte für die Zukunft anmelden könnte. Ein Publizist hat kürzlich gesagt, die heutigen deutschen Wähler seien so unvorhersehbar wie das Aprilwetter. So ist auch die Wirklichkeit, in der wir leben. Man kann kaum von ihrer Unfehlbarkeit sprechen, es ist gefährlich, unumstößliche Wahrheiten zu verkünden. Dieser permanenten Variable und der Aufgewühltheit sind sich Politiker und Wähler bewusst. Was bleibt also? Ist es Zeit, noch einmal die Reifeprüfung zu bestehen?