Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Unwillige Führerin

Judy Dempsey · 17 September 2013
Angesichts der Krise in der Euro-Zone bestimmte Kanzlerin Angela Merkel die politische Richtung für Europa.

Es ist immer noch zu früh um festzustellen, ob die Sparpolitik, auf die die Kanzlerin beharrte, auch richtig war. Zumindest in diesem Bereich nahm sie die Führungsrolle auf sich. Eine Führung ist aber auch sehr begehrt im Bereich der Außenpolitik und Sicherheit. Europa braucht strategisches Denken und Handeln, um die Stabilisierung und Demokratisierung seiner östlichen und südlichen Regionen zu unterstützen. Dies betrifft auch den Aufbau von neuen Beziehungen mit der Übersee.

Unter der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel weigerte sich Deutschland bislang, die Führungsrolle in diesem Bereich zu übernehmen. Unter allen bundesdeutschen Kanzlern der letzten Jahre zeichnet sich Merkel aus durch ihr – sozusagen – verhältnismäßig geringstes Interesse für die Politik im Bereich Verteidigung und Sicherheit. Bekannt durch ihren großen Appetit auf den Inhalt von Dossiers zu allen anderen politischen Themen, bevorzugt sie, die militärischen Angelegenheiten den Fachleuten zu überlassen, und sie scheint damit zufrieden zu sein. Es ist möglich, dass fehlendes Interesse für diese Problematik mit ihrer ostdeutschen Erziehung verbunden ist oder mit dem Umstand, dass Frau Merkels Vater Pastor war. Oder aber mit dem wissenschaftlichen Profil ihrer Ausbildung. Wie dem auch sei, seit der Amtsübernahme im Jahr 2005 schreibt Angela Merkel keine besondere Bedeutung den Problemen der Verteidigungspolitik und Sicherheit zu.

 Demobilisierung als Sicherheitsstrategie

Ein Thema, das Merkel bislang besonders vermied, ist das Problem der Drohnen – die sowohl bei Kampfeinsätzen als auch zur Überwachung und Aufklärung eingesetzt werden. Dass sie sich weigert, dieses Thema aufzunehmen, wurde diesen Sommer besonders klar, als die oppositionellen Sozialdemokraten das Problem der Drohnen in der Wahlkampagne aufgegriffen hatten. Und zwar konzentrierten sie sich auf die Affäre um „Euro-Hawk”. Etwas früher nämlich wurde bekannt, dass die deutschen Regierungen insgesamt über eine halbe Milliarde Euro ausgegeben hatten für die Entwicklung von unbemannten Luftfahrzeugen, in denen die amerikanische Technologie nicht eingesetzt werden konnte und die keine Zulassung für den Einsatz im europäischen Luftraum erhielten.

Thomas de Maizière, Verteidigungsminister und treuster Assistent von Frau Merkel, erklärte letztendlich den Abbruch  des „Euro-Hawk”-Programms, gleichzeitig aber gab er bekannt, dass ein neues Projekt zur Anschaffung von bewaffneten Drohen in Gang gesetzt wird. Die Sozialdemokraten versprachen dagegen ihren Wählern, dass sie die Entwicklung oder Anschaffung von solchen Fluggeräten nicht zulassen. Dies war eine höchst populistische Erklärung. Die Deutschen sind entschieden gegen den Einsatz von Kampfdrohnen. Sie sind empört, wie die Administration von Präsident Obama diese Waffe zum ferngesteuerten Töten von Menschen, die des Terrorismus verdächtig werden, einsetzt. Gleichzeitig aber bemerken sie nicht, dass die Drohnen ein Bestandteil der technologischen Revolution in der Rüstungstechnik weltweit bedeuten.

Verantwortlich für diesen Tatbestand sind sowohl die Regierung als auch die Opposition: die Auseinandersetzungen um „Euro-Hawk” wurden nicht dazu genutzt, eine richtige Debatte über die künftigen Rüstungsbedürfnisse der Bundesrepublik aufzunehmen. Diese Gelegenheit wurde auch nicht genutzt, um den NATO und die EU aufzufordern, internationale Rechtsrahmen für den Einsatz von Drohnen auszuarbeiten. Der Grund dafür ist, dass eine Diskussion zu dem einen oder dem anderen Thema bewirken würde, dass es zu einer Reflexion über zwei in der politischen Debatte dieses Landes besonders abwesende Themen kommen müsste, das heißt die sog. hard power und Strategie. Trotz des Engagements in eine Reihe von internationalen militärischen Missionen bleibt die deutsche Sicherheit abgeschottet in einer strategischen Leere und die Bundeswehr ohne klare Richtungsweisungen.

Dies hat Rückwirkungen auf den Rest von Europa. Ohne eine eigene Strategie im Bereich Sicherheit schaffte es die Bundesrepublik, die EU-Außenministerin Catherine Ashton von der Idee abzubringen, eine neue Strategie für Europa in diesem Bereich auszuarbeiten. Ungeachtet der Tatsache, dass die EU zum ersten und bisher letzten Mal die Arbeit an einer solchen Strategie im Jahre 2003 zu beginnen versuchte! Die im Jahr 2007 aufgenommenen Bemühungen zu deren Aktualisierung sind auch nicht weit gekommen.

Es stimmt, dass eine fehlende Sicherheitsdoktrin es Europa erschwert, in außergewöhnlichen Situationen im Nahen Osten, im süd-östlichen Asien oder – selbstverständlich auch – in den USA entsprechend zu reagieren. Aber die fehlende Sicherheitsdoktrin hemmt auch alle Bemühungen innerhalb des NATO oder der EU, gemeinsame Ressourcen zu schaffen und gemeinsam diese einzusetzen, was dem ständig wachsenden finanziellen Druck standhalten könnte. Solange die europäischen Alliierten sich nicht einig werden, wann der gemeinsame Einsatz der Streitkräfte begründet wäre, ist ein Verzicht auf die zentralen oder nationalen Rüstungsressourcen nicht möglich. Eine solche Einigkeit ist aber angesichts der fehlenden strategischen Debatte schwer zu erreichen. Die Bundesrepublik sollte ihre Führungsrolle mit größerer Entschlossenheit ausüben, um diesen Problemen die Stirn bieten zu können.

Deutsches Dilemma

Dabei ist die Führung, oder das Führen, kein Lieblingsthema der deutschen Politiker. Die Gründe dafür sind nicht nur die schreckliche Geschichte Deutschlands, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Teilung Europas in zwei ideologische Lager. Die Führung ist mit Verantwortung und Verpflichtungen verbunden, die deutsche Staatsführer nicht unbedingt auf sich nehmen wollen. Wie leicht die Bundesrepublik zum Ziel für die populistischen Bewegungen in anderen EU-Ländern werden kann oder das bei Demonstrationen in Griechenland und auf Zypern gezeigte Bild von Kanzlerin Merkel in Naziuniform waren schockierend. Nicht zum ersten Mal hat Deutschland mit diesem Dilemma zu tun: übernimmt dieses Land die Führungsrolle, wird es wegen Vorherrschaft kritisiert. Weigert es sich, diese Rolle zu übernehmen, wird es der Selbstgefälligkeit und des Egozentrismus beschuldigt. Kann die eventuelle dritte Amtszeit von Kanzlerin Merkel (oder, angenommen, eines anderen Staatsoberhauptes) diese Situation ändern?

Hätte Merkel Angst vor der Führungsrolle, wäre sie nichtaufihrem heutigen Posten. In der ersten Amtszeit (2005-2009) zeichnete sie sich durch ein echtes Gefühl für Sinn und Ziel aus. Sie verbesserte die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Osteuropa. Sie zeigte auch einen gewissen Idealismus, indem sie in ihrer Außenpolitik das Problem der Menschenrechte als erstrangig einstufte, besonders in Bezug auf Russland und China. Bedingt durch die Notwendigkeit, zum Klimawandel auch Stellung zu nehmen, scheute sie nicht davor, die Amerikaner zum Engagement auch in diesem Bereich zu überzeugen. Ungeachtet aller Hindernisse modernisierte sie ihre konservative Partei – die Christlich-Demokratische Union (CDU). Ein großer Teil ihrer Begeisterung ist aber verdunstet.

Je länger Deutschland dem Problem seiner Führungsrolle ausweicht, besonders in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik, desto länger bleibt Europa eine schwache Weltmacht, die nicht im Stande ist, seinen Bürgern die Sicherheit zu gewährleisten – geschweige denn, sich um seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Weltzu kümmern. Dies ist eins von vielen Problemen, mit denen der künftige Bundeskanzler zu kämpfen hat.

Bei seinem Besuch in Berlin im Juni dieses Jahres sagte Präsident Barack Obama, der Geschichte zu gedenken bedeute nicht, mit der Geschichte die Rechnung beglichen zu haben. „Ich komme heute hierher, Berlin, um zu sagen, dass Selbstgefälligkeit nicht das Wesen großer Nationen ist.“ Die am Anfang ihrer Wahlkampagne stehende Kanzlerin Merkel hätte von ihm keine deutlichere Botschaft erhalten können.