Wojciech Engelking: Viele westliche Publizisten und Kommentatoren pflegen Putins Politikstil mit der Regierungskunst der russischen Zaren, die ebenso allmächtige und unberechenbare Herrscher waren, zu vergleichen. Sind solche Vergleiche gerechtfertigt?
Wladislaw Inosemzew: Am Anfang seiner Karriere galt Putin als sehr europäischer Politiker. Es gibt jedoch zwei Dinge, die den Präsidenten Russlands von seinen europäischen Partnern unterscheiden. Erstens: die persönliche Erfahrung. Man stelle sich einen jungen Menschen vor, der den Großteil seines Erwachsenenlebens als Mitarbeiter des KGB in Ostdeutschland zugebracht und ein recht bequemes und beschauliches Leben geführt hat. Als dann plötzlich in der Sowjetunion demokratische Reformen eingeführt werden – und alles darauf hindeutet, dass das System zusammenbricht – erlebt seine Karriere einen Knick.
Aber Putins Ehrgeiz begrenzte sich nicht auf seine Agententätigkeit.
Ja, deshalb kehrte er nach Russland zurück und benutzte sein ganzes Talent, um das Vertrauen des damaligen Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak zu erlangen. Er wollte vor allem an öffentliche Gelder kommen, um so nach dem Umbruch gesellschaftlich aufzusteigen. Dank harter Arbeit – und möglicherweise nicht ganz legaler Methoden – erwarb er ein Vermögen und gewann an Einfluss. Bis 1996 war er zugleich Beamter und Geschäftsmann – eine in den neunziger Jahren in Russland nicht unübliche Kombination – sowie der Eigentümer eines beachtlichen Vermögens. 1996 verlor Sobtschak die Wahlen, und Putin war erneut ein Niemand. Er war nicht nur ein Niemand, auf ihm lastete zudem der Verdacht, in kriminelle Machenschaften im Zusammenhang mit früheren lukrativen Geschäften verwickelt gewesen zu sein.
Also beschloss er, nach Moskau zu gehen …
Sein Freund Alexej Kudrin, der spätere Finanzminister, riet ihm dazu. Putin begann seine Karriere wieder bei null – er wurde Chef der Präsidialkanzlei, Direktor des Inlandgeheimdienstes FSB, anschließend Ministerpräsident und schließlich Präsident. All das ist von essentieller Bedeutung, um diesen Menschen zu verstehen. Demokratie und demokratische Standards haben ihm mehrfach geschadet. Seine Niederlagen nimmt er persönlich – es überrascht daher nicht, dass er die Demokratie nicht mag. Das ist ein erster außerordentlich wichtiger Punkt. Der zweite ist noch einfacher zu verstehen. Putin ist mittlerweile seit 15 Jahren an der Macht. In dieser Zeit ist es der Wirtschaft recht gut gegangen, und der Lebensstandard des durchschnittlichen Russen hat sich merklich verbessert. Putin ist der Ansicht, dass dies allein sein Verdienst ist. Er überbewertet seine Erfolge und nimmt keine Rücksicht mehr auf die Meinung anderer. Er glaubt, es besser zu wissen. Ein solche Haltung passt sehr gut zum russischen Herrschaftssystem, das stark personalisiert ist. In Russland gibt es keine Politik, es gibt einflussreiche Personen, für die Putin der absolute Herrscher ist.
Anfang der neunziger Jahre prägte der amerikanische Journalist Fareed Zakaria den Begriff „gelenkte Demokratie“ (managed democracy), um politische Systeme zu beschreiben, in denen die Regierungen zwar durch freie und faire Wahlen legitimiert sind, im Grunde genommen aber keine politische Macht besitzen, da diese vom Staatsführer ausgeht. Ist das nicht auch das Modell, das Putin in den letzten fünfzehn Jahren entwickelt hat?
Ich kenne Zakarias Konzept gut, ich habe mehrere seiner Bücher ins Russische übersetzt. Zunächst einmal muss deutlich gesagt werden, dass das was er gelenkte Demokratie nennt, den Namen Demokratie nicht im Mindesten verdient. Zweitens ist diese Bezeichnung für Russland nicht ganz passend. Es stimmt einfach nicht, dass einzelne Institutionen der liberalen westlichen Demokratien in den postsowjetischen Staaten automatisch wie in Europa funktionieren, sobald man den Kapitalismus und den freien Markt einführt. Und falls der Kapitalismus die zentrale politische Bezugsgröße sein soll, darf auch nicht übersehen werden, dass Russland nicht gleich China ist. Nehmen wir beispielsweise die Oligarchen und ihre Geschäftsmethoden. Sie verdanken ihr Vermögen in großem Maße der Privatisierung und riesigen öffentlichen Aufträgen – wie zum Beispiel anlässlich der Ausrichtung der Olympischen Spiele in Sotschi. Ihre Geschäfte und ihr Vermögen sind abhängig vom Staat, und der Staat ist Wladimir Putin. Das von Zakaria beschriebene Modell hat die Position des russischen Präsidenten keineswegs geschwächt, sondern vielmehr gestärkt, da in diesem System die Magnaten noch abhängiger von Putins autoritärer Herrschaft sind.
Putin ist mittlerweile seit 15 Jahren an der Macht. In dieser Zeit ist es der Wirtschaft recht gut gegangen, und der Lebensstandard des durchschnittlichen Russen hat sich merklich verbessert. Putin ist der Ansicht, dass dies allein sein Verdienst ist.
Putin wurde von den meisten westlichen Politikern stets als ein rationaler und kühl kalkulierender Autokrat wahrgenommen. Der Westen wusste, dass der russische Präsident kein demokratischer Staatsmann ist, aber man hielt ihn – mit Ausnahme von einigen wenigen Situationen – für einen geeigneten Geschäftspartner. Nach dem Ausbruch der Krise in der Ukraine hat Angela Merkel nach einem Gespräch mit Putin verlauten lassen, der russische Präsident lebe in seiner eigenen Welt. Die rationale Kommunikation ist unterbrochen.
Es gibt viele derartige Stimmen im Westen. Allerdings sei daran erinnert, dass Putin kein neuer Hitler ist. Trotz aller Spannungen macht er weiterhin mit dem Westen Geschäfte. Das ist eine alte russische Methode. Wissen Sie, selbst am 22. Juni 1941 wurden noch deutsche Schiffe in Hamburg mit russischem Gas beliefert. Für Putin, ähnlich wie für Stalin, sind Geschäfte nicht an eine konkrete Politik gebunden. Das mag „in den Augen des Westens“ irrational erscheinen, in Moskau wird Putin aber als durch und durch rationaler Politiker wahrgenommen, der den Grundsätzen der russischen Geopolitik des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet ist.
Aber er weiß doch, dass seine Macht von den Öl- und Gaspreisen abhängt – und diese sinken.
Natürlich, aber das hat keinerlei Bedeutung für ihn. Obwohl Putin früher Geschäftsmann war, ist er in erster Linie ein Politiker und kein Wirtschaftsfachmann – in Wirtschaftsfragen ist er eher ein Laie. Er hält sich nicht für einen Ökonomen und hört auch nicht auf die Ratschläge von Ökonomen.
Putin hat – insbesondere in den letzten zwölf Monaten – den Westen häufig provoziert. Zwar hat er Chodorkowski freigelassen, zugleich aber Snowden Asyl gewährt – um seine moralische Überlegenheit Barack Obama gegenüber zu demonstrieren –, und er hat Gérard Depardieu die russische Staatsangehörigkeit zuerkannt – um François Hollande und die Europäische Union zu blamieren.
Ja das stimmt, trotzdem hat er damit in erster Linie seine Position in Russland gestärkt. Er kreiert für die eigene Bevölkerung ein Bild von Russland, das im Gegensatz zum kranken Europa steht. Er droht Schwulen und Lesben Strafen an, um zu zeigen, wie sehr dieses imaginierte Europa, in dem Homosexualität keinen Anstoß mehr erregt, verdorben ist, während Russland die traditionellen Werte hochhält. Sowohl seine Innen- wie auch seine Außenpolitik orientiert sich an den Zielen, die er in Russland verfolgt.
Wohin führt das Ganze? Im vorigen Jahr feierte Putin seinen sechzigsten Geburtstag, aber es gibt immer noch keinen Nachfolger. Dmitri Medwedew erwies sich als Fehlbesetzung. Heute heißt es, Alexej Kudrin, der Vorsitzende des Wirtschaftsrates beim Präsidenten der Russischen Föderation, könnte der nächste Ministerpräsident werden. Allerdings wissen wir immer noch nicht, ob Putin ihn für einen geeigneten Kandidaten hält.
Ich glaube nicht, dass das für Putin irgendein Problem darstellt. Er ist vielmehr davon überzeugt, dass er dieses Amt die nächsten zwanzig Jahre bekleiden wird und als absoluter „Quasi-Monarch“ seinen achtzigsten Geburtstag feiern wird. Es interessiert ihn herzlich wenig, was nach ihm kommt.
Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Sollte Europa sich vor den Zielen, die Putin verfolgt, fürchten?
Ich denke nicht. Zwar hasst Putin die Demokratie, trotzdem ist er ein kühl berechnender Politiker. Er wird – weder militärisch noch politisch – eine Expansion riskieren, die Nato- oder EU-Mitgliedsstaaten betrifft, wie zum Beispiel Polen oder die ehemalige Tschechoslowakei. Er kennt die Grenzen seiner im neunzehnten Jahrhundert wurzelnden Politik.
Präsident Putin ist davon überzeugt, dass er dieses Amt die nächsten zwanzig Jahre bekleiden wird und als absoluter „Quasi-Monarch“ seinen achtzigsten Geburtstag feiern wird. Es interessiert ihn herzlich wenig, was nach ihm kommt.
Was sollte also der Westen tun?
Was hat der Westen denn in Sachen Ukraine und Krim getan?
Nicht viel.
Besorgnis äußern oder gar Russland aus der G8 ausschließen, davon lässt sich Wladimir Putin nicht beeindrucken. Wenn der Westen diese Politik weiterverfolgt, wird sich in Russland nichts ändern.
Was könnte er stattdessen tun?
In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft konnte Putin eine Annäherung an den Westen riskieren. Wie hat der Westen darauf reagiert? Er hat nichts unternommen. Es gab kein Angebot, Russland in die NATO oder die Europäische Union aufzunehmen. Warum? Das Argument des Westens war, Russland sei zu groß. Der wahre Grund ist jedoch ein anderer – für den Westen ist Russland kein europäisches Land. Will der Westen, dass Russland sich demokratisiert, dann sollte die Europäische Union Russland eine klare Beitrittsperspektive geben, mit dem Land ein Assoziierungsabkommen abschließen, es offiziell zum Beitrittskandidaten küren, ihm einen Teil des europäischen Rechts auferlegen – und anschließend, vielleicht zehn oder zwanzig Jahre lang über eine volle Mitgliedschaft verhandeln.
Deutsch von Andreas Volk