Special Reports / Wladimir Putin – Herr des Ringes

Der Herr des Ringes

Michał Jędrzejek im Gespräch mit Professor Andrzej Nowak · 1 April 2014
„Dem russischen Präsidenten geht es nicht allein um den Wiederaufbau der Macht im Gebiet der ehemaligen UdSSR. Das strategische Ziel ist ein anderes, tieferes – es ist die Unterordnung ganz Europas”, sagt der Historiker.

Michał Jędrzejek: Wer ist Ihrer Ansicht nach Władimir Putin?

Andrzej Nowak: Ich möchte mich hier auf ein bestimmtes Zitat berufen. 2006 wurde der israelische Präsident Mosche Katzav wegen sexueller Belästigung und Vergewaltigung von zehn Frauen angeklagt. Wladimir Putin, der damals den israelischen Ministerpräsidenten bei sich zu Gast hatte, quittierte die ganze Sache mit den folgenden Worten: „Bitte grüßen Sie Ihren Präsidenten – er hat sich als starker Kerl erwiesen. Zehn Frauen hat er vergewaltigt! Das hätte ich ihm nie zugetraut, er hat uns alle verblüfft. Wir beneiden ihn!”

Widerlich. Warum erzählen Sie mir diese Geschichte?

Das ist einer der interpretatorischen Schlüssel zur Figur des russischen Präsidenten. Wladimir Putin strebt danach, vergewaltigen zu können – in verschiedenen Lebensbereichen. Er will das tun, wozu er gerade Lust hat; er will ein Übermensch sein. Und mehr noch, er hat seinen Ring des Gyges – einen mythischen Ring, der seinem Besitzer volle Straffreiheit verleiht. Über diesen Ring schreibt Platon in „Der Staat”. Der Ring des Gyges ist in diesem Fall seine Stärke. Sie erlaubt es Putin, zu sagen und zu tun, was er nur will. Schließlich reagiert ohnehin keiner. Es ist ein großes Vergnügen, so vorgehen zu können. 

Vergnügen?

Natürlich. Putin ist ein Mensch, der die niedersten Gelüste, wie sie in uns allen schlummern, einfach ausdrückt. Man kann so tun, als wäre man frei von schlechten Tendenzen, aber das ist Hypokrisie. Wladimir Putin will seine ausländischen Partner verleiten, will, dass auch sie einer Vision des Menschen und der internationalen Beziehungen erliegen, in denen die Stärke über alles entscheidet. In Putins Welt hat der Schwache nichts zu sagen.

War Putin schon immer so? Cornelius Ochmann hat im Interview mit der „Kultura Liberalna” betont, der Präsident habe sich früher mit unterschiedlichen Experten umgeben, die westlichen Medien verfolgt. Erst seit einiger Zeit begleiteten ihn nur die Militärs…

Die Einschätzung, Putin hätte sich gewandelt, ist meiner Meinung nach eine Illusion liberaler Kommentatoren, die ihre vor Jahren gefällten falschen Diagnosen verteidigen wollen. Diagnosen, in denen sie die Hoffnung auf eine rasche Liberalisierung Russlands ausdrückten. 

Ich erinnere mich nicht an viele derartige Diagnosen. 

Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Am 1. September 2009 publizierte Radosław Sikorski in der „Gazeta Wyborcza” einen Artikel, in dem es hieß, Russland sei noch nie so demokratisch und den menschenrechtlichen Idealen so nah gewesen wie heute. Zu derselben Zeit ging der Jurist Sergei Magnitski, der Fälle von Veruntreuung in den russischen Finanzbehörden aufgedeckt hatte, in russischen Kerkern gefoltert seinen letzten Lebenstagen entgegen.

 

Putin ist ein Mensch, der die niedersten Gelüste, wie sie in uns allen schlummern, einfach ausdrückt. Er will seine ausländischen Partner verleiten, will, dass auch sie einer Vision des Menschen und der internationalen Beziehungen erliegen, in denen die Stärke über alles entscheidet.

Andrzej Nowak

Sikorskis Artikel war ein Versuch, das Stereotyp von Polen als antirussischem Land zu überwinden, und diese Strategie ist heute die Grundlage für unsere Glaubwürdigkeit in der internationalen Arena. In der Diplomatie sollte man nicht ausschließlich auf Konfrontationskurs gehen. 

Mit dem Bösen kann man entweder einen Kompromiss eingehen oder auf Konfrontationskurs gehen. Ich habe keine Zweifel, was hier die richtige Wahl ist. Menschen wie Cornelius Ochmann oder die Journalisten der „Gazeta Wyborcza” waren jedoch zu der Ansicht gelangt, es gebe keinen Grund zur Beunruhigung. Da haben wir die Kraft des Rings des Gyges, den Wladimir Putin sich über den Finger gestreift hat.

Das halte ich für eine ungerechte Beurteilung. Die liberalen Analytiker haben oft die Einhaltung der Menschenrechte in Russland angemahnt, und die polnischen und westeuropäischen Medien haben viele Male über die Fälle Chodorkowski, Politkowskaja oder Pussy Riot geschrieben.

Bei den EU-Russland-Gipfeln wurde es aber vermieden, Themen wie Menschenrechte und freie Medien anzuschneiden. Und die Medien? Lassen Sie uns die Proportionen gerecht beurteilen. Als Wladimir Putin im September 2009 Polen besuchte, wurden auf den ersten Seiten der Zeitungen Lobeshymnen auf den liberalen russischen Staatschef gesungen, und nur auf den letzten gab es kurze Mitteilungen über die Festnahme eines Geschichtsprofessors aus Archangelsk, der die Geschichte des Gulags untersuchte. Unerwähnt blieb, dass die russische Armee in dem Moment für einen taktischen Atomangriff auf Warschau übte. Niemand schrieb damals über Magnitski. Gewiss, es gab Informationen über den Pussy-Riot-Prozess, aber hierbei wurde vor allem die Schuld der Kirche und nicht Putins selbst hervorgehoben. Zugleich überbot man einander in Entzückensbekundungen über die polnische Kirche wegen deren Verständigung mit der russisch-orthodoxen Kirche, die schließlich vom Kreml beaufsichtigt wird. Das war übrigens der einzige Titel zur Verteidigung von Erzbischof Józef Michalik in den Augen der liberalen Presse.  

Ihrer Ansicht nach war also die Verständigung mit der russisch-orthodoxen Kirche ein Fehler?

Auf metaphysischer Ebene – nein. Vielleicht wird diese prophetische Geste der interkonfessionellen Versöhnung ja einmal von großer Bedeutung sein. Vom irdischen Gesichtspunkt her gibt es allerdings bei dieser Verständigung viele drastisch schlechte Elemente. 

Zum Beispiel?

Man nehme nur die Tatsache, dass die Frage der unierten Kirche – also der ukrainischen – völlig außer Acht gelassen wurde: Wir sollten uns nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg mit dem Patriarchen von Moskau verständigen. Die liberalen Medien haben die Kirche für die politische Agenda von Donald Tusk benutzt.

Aber es waren nicht die liberalen Medien, die diese Form des Dialogs der katholischen Kirche mit der russisch-orthodoxen Kirche vorgeschlagen haben. Kommen wir aber auf Putin zurück. Sie verwerfen die These von der erheblichen Entwicklung seiner Regierung. Warum?

Putin und die russischen Eliten, das ist unverändert die Welt der Geheimdienste. Prof. Stephen White aus Glasgow untersucht jedes Jahr die Biographien der tausend wichtigsten Personen im russischen Staat, der Funktionäre der bedeutendsten Ämter. Seit vielen Jahren stammen mindestens 20 Prozent dieser Leute (sogar 40 Prozent hat es schon gegeben!) aus den Reihen des KGB und des Militärgeheimdienstes GRU oder davon abgeleiteter Dienste. Noch nie und auch in keinem anderen Land waren die Geheimdienst-Mitarbeiter in diesem Maße an der Regierung beteiligt – nicht einmal in der Sowjetunion oder im Dritten Reich. Das ist ein beispielloses Phänomen in der Geschichte der Menschheit.   

Welche Bedeutung hat das?

Welche Bedeutung kann es wohl haben, dass Leute an der Macht sind, die beruflich auf Betrug und die physische Eliminierung ihrer Gegner geschult wurden? Charakteristisch ist die aufgezeichnete und in vielen Dokumentarfilmen verwendete Szene, dass Putin sich im Juni 2000 auf die Lubjanka begab und im Beisein einiger hundert ehemaliger KGB-Offiziere, damals schon Funktionäre des Inlandsgeheimdienstes FSB, vermeldete : „Genossen Offiziere – Auftrag erledigt. Wir haben die Macht übernommen.”

Wie wirkt sich die Anwesenheit der Geheimdienst-Mitarbeiter auf Putins Handeln aus?

Edward Lucas, ein Journalist von “The Economist”, versucht in seinem neuesten Buch die Spiele zu enträtseln, die in einer sehr engen Oligarchie gespielt werden – im Kreise der wenigen Personen, die Russland de facto regieren. Neben Putin gibt es dort auch andere frühere Funktionäre – die zu ebenso brutalen Vorgehensweisen fähig sind wie Putin, auch wenn sie immer noch schwächer sind als er. Putin weiß, dass die “Genossen Offiziere” gnadenlos jeden seiner Fehler ausnutzen. Ich denke, dass die Einnahme der Krim, die schließlich eine ungemeine Niederlage der russischen Politik ist, weil sie Russland der Ukraine entgegensetzt, von der Innenpolitik diktiert war. Die Manifestation der Stärke sollte – neben anderen Zielen – dem Präsidenten ein paar Punkte in dem Spiel verschaffen, das sich in seiner Umgebung abspielt.   

Putins Methoden sind Ihrer Meinung nach KGB-Methoden. Und was sind seine Ziele?

Ich denke, dem russischen Präsidenten geht es nicht allein – wie viele Kommentatoren meinen – um den Wiederaufbau der Macht im Gebiet der ehemaligen UdSSR. Es geht ihm nicht einmal um den historischen Einflussbereich, also den früheren Ostblock. Das strategische Ziel ist ein anderes, tieferes – es ist die Unterordnung ganz Europas. Das Ziel ist Europa als technisch-strategische Reserve, die Russland im Kampf um seinen Platz in der Welt des 21. Jahrhunderts nutzen will, wenn seine Hauptrivalen die Vereinigten Staaten und China sein werden. 

Russland unterwirft Europa? Das ist Science-Fiction.

Ich meine natürlich nicht die militärische Unterwerfung Europas, sondern die Situation, in der Russland sich politisch, nach Putin`schen Bedingungen, die europäische Wirtschaft unterordnet.

 

Im Juni 2000 begab Putin sich auf die Lubjanka und vermeldete im Beisein einiger hundert ehemaliger KGB-Offiziere: „Genossen Offiziere – Auftrag erledigt. Wir haben die Macht übernommen.”

Andrzej Nowak

Aber wenn wir die wirtschaftlichen Potenziale der EU und Russlands vergleichen, dann erweist Russland sich als Koloss auf tönernen Füßen. Es kann nicht realistisch an eine Unterwerfung der westlichen Länder denken.

Wenn Sie mit “Realismus” die komische Äußerung von Präsident Clinton meinen: „It’s the economy, stupid!”, dann haben Sie natürlich recht. Vom Gesichtspunkt der Logik Wladimir Putins aus – schon nicht mehr. Für ihn ist nicht die Wirtschaft das Wichtigste, sondern die Stärke. Die Wirtschaft ist ein Element der Stärke, aber nicht allein. Die Gaspipelines Nord Stream und South Stream, an denen eine ganze Reihe europäischer Firmen beteiligt ist, befördern schon russische Einflüsse nach Nord- und Südeuropa. Putins wichtigstes Machtelement ist aber die Bereitschaft zur Anwendung seiner Stärke. Europa hat keine Antwort auf sie. Die Intervention auf der Krim hat gezeigt, dass der russische Präsident Grenzen verändern darf und kann. Wir erwägen schließlich schon jetzt die Möglichkeit, er könnte ebenfalls Gebiete in NATO-Ländern – Litauen, Lettland oder Estland – einnehmen. Ganz zu schweigen von der immer noch gefährdeten West-Ukraine. Selbst die Vereinigten Staaten, die militärisch stärker sind als Russland, halten sich angesichts eines so starken Spielers mit Kraftanwendung zurück. Das Vorhaben, das ich aus Wladimir Wladimirowitsch Putins Handlungen herauslese, ist, weitere Partner mit seinen Drohungen einzuschüchtern. Die Deutschen haben eine vier Mal so starke Wirtschaft wie die Russen – wunderbar! Aber hat jetzt Russland Angst vor Deutschland oder fürchtet sich  Deutschland vor Russland?        

Sie zerstreuen meine Zweifel nicht. Gewiss, wir kennen Russlands energetische Stärke und seine Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt, aber gleichzeitig bemerken wir seine ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme. Die Zeit spielt Russland nicht in die Hände. Weicht Putin nicht durch Handlungen wie auf der Krim Russlands inneren Problemen aus?

Putin ist ein gut informierter, ganz und gar nicht realitätsferner Politiker. Er weiß, dass Russland wirtschaftlich nicht in der Lage ist, mit den mächtigsten Spielern der Welt zu rivalisieren, und dass das Land erst in der Synergie mit der europäischen Wirtschaft den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sein wird.

Wladimir Putin hat sich für ein 600-Milliarden-Dollar-Programm zur Modernisierung der Armee entschieden, weil er die Möglichkeit haben will, Europa einzuschüchtern und zur Zusammenarbeit nach seinen eigenen Bedingungen zu zwingen. Und diese Bedingungen werden für die kleineren mittel- und osteuropäischen Länder, wie auch Polen, nicht sehr günstig sein. In der Art der Realitätssicht, zu der Wladimir Putin seine westeuropäischen Partner auffordert, zählen nur die Starken – die Schwachen haben keine Stimme. Moskau würde gern nur mit Berlin über das Schicksal der Ukraine, dann Moldawiens, und zum Schluss vielleicht auch Polens entscheiden.

 

Die Deutschen haben eine vier Mal so starke Wirtschaft wie die Russen – wunderbar! Aber hat jetzt Russland Angst vor Deutschland oder fürchtet sich  Deutschland vor Russland?

Andrzej Nowak

Demnach lebt die alte Angst der polnischen Rechten wieder auf. Droht uns Ihrer Ansicht nach das Schicksal eines deutsch-russischen Kondominiums? 

Der Angriff der Medien auf Jarosław Kaczyński wegen dieser Formulierung war grotesk, denn genau dieser Begriff „deutsch-russisches Kondominium“ tauchte bereits im Bericht des geschätzten amerikanischen „Centre for Strategic and International Studies“ auf, in dem u.a. Zbigniew Brzeziński und Henry Kissinger arbeiten. Natürlich ist das keine Bezeichnung für den aktuellen Zustand, sondern eine Charakteristik gewisser real existierender Bedrohungen. 

Aber vernehmen Sie denn im Westen keine Stimmen des Widerstands gegen Putins Handlungen?

Ich hoffe, dass es zu einem Moment des Durchbruchs in Europa kommt, zu einem Moment, in dem Putins wahres Gesicht entdeckt wird. Leider stehen die europäischen Politiker seinen Handlungen nach wie vor häufig übermäßig wohlwollend gegenüber – so wie Günter Verheugen, der ehemalige EU-Erweiterungskommissar, oder der ehemalige deutsche Kanzler Helmut Schmidt.   

Wie sollen wir also auf Putins Politik reagieren?

Erstens sollten wir für ein Europa appellieren, das nicht nur Raum geschäftlicher Interessen, sondern auch Wertegemeinschaft ist. In einem Raum der Geschäftsinteressen scheint eine Verständigung der Deutschen und Russen – über die Köpfe der kleinen Länder hinweg – nämlich nur logisch. Zweitens sollten wir bedenken, dass Wladimir Putin nicht gleich Russland ist. Wenn Putin weg ist, und er wird irgendwann weg sein, dann muss sein Nachfolger nicht zwingend jemand Ähnliches oder gar Schlimmeres sein. Wer dieser Jemand ist, wird von den Russen abhängen, aber ebenso von den Polen und dem ganzen Westen als Wertegemeinschaft. Was können wir tun? Wir müssen an der Wahrheit festhalten – das ist ein etwas altmodischer Begriff – zum Beispiel bei der Frage nach den Verbrechen des sowjetischen Systems, dem sowohl die Polen als auch und vor allem die Russen zum Opfer gefallen sind. Dann werden wir ein wichtiger Bezugspunkt für alle die sein, die in Russland leben und die wollen, dass ihr Land anders aussieht als bisher. Das können wir tun, und das ist das wirklich Wichtige.

Deutsch von Lisa Palmes