Michał Jędrzejek: „Swoboda“ und „Prawyj Sektor“ – sind das rechte, nationalistische oder faschistische Gruppierungen?
Anton Schechowzow: Es sind beides rechtsextreme Parteien, die sich aber im Grad ihres Extremismus und in ihrer Geschichte unterscheiden. Die „Swoboda“ (Freiheit) kann man mit einigen Parteien aus den EU-Ländern vergleichen – mit der Front National unter der Führung von Jean-Marie Le Pen (nicht mehr jedoch unter Marine Le Pen, die die Rhetorik ihrer Gruppierung bedeutend abgemildert hat) oder mit der Freiheitlichen Partei Österreichs aus Jörg Haiders Zeiten. In der „Swoboda“ gibt es auch Kleingruppen mit faschistischen Zügen, allerdings ist das nur ein sehr kleiner Teil der Partei. Mit „Prawyj Sektor“ (Rechter Sektor) ist die Sache komplizierter. Die Gruppierung entstand Ende November 2013 als breite Bewegung, die verschiedenste radikale Gruppen in sich versammelte. Auch wenn „Prawyj Sektor“ selbst sich erst während der Proteste auf dem Maidan herausbildete, so gab es diese Gruppen – den „Trisub“ (Dreizack) oder die UNA (Ukrainische Nationalversammlung) – schon in den 90er Jahren. Die radikalste und tatsächlich faschistische Organisation ist die vor einem Jahrzehnt in Charkiw registrierte „Patriot Ukrainy“ (Patriot der Ukraine).
Hat der Westen recht mit seiner Furcht vor ihnen?
Nur in gewissem Sinne. Ich glaube nicht, dass diese Gruppierungen eine Chance haben, in der Ukraine eine rechte Diktatur einzuführen. Mir macht eher Sorgen, dass stärkere politische Kräfte sie zur Manipulation benutzen könnten. So ist es mit dem „Patriot Ukrainy“, in dem es viele Provokateure gab, die mit dem Regime zusammenarbeiteten. Und so ist auch die Geschichte der „Swoboda“.
Ich glaube nicht, dass sie eine Chance haben, in der Ukraine eine rechte Diktatur einzuführen. Mir macht eher Sorgen, dass stärkere politische Kräfte sie zur Manipulation benutzen könnten
Wer benutzte denn die „Swoboda” zur Manipulation?
Zum Beispiel Präsident Janukowitsch. Erinnern wir uns daran, dass die Vorgängerin der „Swoboda” die vollkommen unbedeutende „Sozial-Nationale Partei der Ukraine“ war, gegründet Anfang der 90er Jahre. „Sozial-National“ heißt nicht zwangsläufig nationalsozialistisch. Die Bezeichnung „sozial-national“ stammt von Jaroslaw Stezko, einem Ideologen des ukrainischen Nationalismus, der nach dem 2. Weltkrieg in seinem Text „Zwei Revolutionen“ feststellte, dass außer der Bildung eines souveränen ukrainischen Staates auch der Aufbau eines Sozialstaates und einer staatlich gestützten Industrie und Landwirtschaft nötig sei, und dass eine politische Revolution mit einer gesellschaftlichen Revolution einhergehen müsse. Dieses Programm behielt die Partei nach der Namensänderung 2004 bei.
Hat die Namensänderung die Popularität erhöht?
Nicht nur. Die Gruppierung hat viel davon profitiert, Oleh Tjahnybok als Parteioberhaupt ernannt zu haben, die treibende Kraft bei den meisten Programmänderungen. Trotzdem erlangte sie 2006 und 2007 bei den Parlamentswahlen nur 0,36 und 0,76 Prozent der Stimmen. Die Erfolge stellten sich erst drei Jahre später ein, als die „Swoboda“ in der Westukraine auf über 30 Prozent der Stimmen kam. Damals beschlossen Janukowitsch und seine Berater, sie zum Kampf gegen die „orangene“ Opposition zu benutzen. Die Vertreter der „Swoboda“ traten plötzlich regelmäßig im Staatsfernsehen auf, obwohl sie nicht im Parlament waren. Nach den Plänen der Regierenden sollte die „Swoboda“ den Mitte-Rechts-Parteien einen Teil der Stimmen wegnehmen und einen Präsidentschaftskandidaten stellen, der als Extremist ein bequemer Gegner für Janukowitsch bei den nächsten Wahlen wäre. Als Resultat erlangte die „Swoboda“ bei den Parlamentswahlen 2012 über 10 Prozent der Stimmen.
Die „Swoboda“ füllte bei den national-demokratisch eingestellten Wählern eine Lücke. Sie erschien als eine wirkliche Alternative zu den nach der Orangenen Revolution entstandenen Parteien
Ihr Wahlerfolg ist aber wohl nicht ausschließlich auf die verdeckte Unterstützung durch Janukowitsch zurückzuführen.
Das ist wahr. Das gute Ergebnis war die Folge eines ganzen Bündels gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktoren, wobei man hier tatsächlich nur schwer von einem Anstieg der Fremdenfeindlichkeit oder des Rassismus in der ukrainischen Gesellschaft sprechen kann. Die „Swoboda“ galt in der Ukraine vor allem als eine der sehr wenigen Parteien, die sich überhaupt auf irgendeine ideelle Doktrin berufen konnten. Für viele Wähler war der tief problematische Charakter ebendieser konkreten Ideologie paradoxerweise zweitrangig. Es herrschte eine große Enttäuschung über den Zynismus der nach der Orangenen Revolution entstandenen Parteien. Die „Swoboda“ füllte somit bei den national-demokratisch eingestellten Wählern eine gewisse Lücke. Sie erschien geradezu als neue, energiegeladene politische Kraft, als eine wirkliche Alternative einerseits zur „Partei der Regionen“ und Präsident Janukowitsch – und andererseits zur Allukrainischen Vereinigung „Vaterland“, die während der Abwesenheit der inhaftierten Julija Tymoschenko von Oleksandr Turtschynow und Arsenij Jazenjuk geleitet wurde, und zur Partei „Unsere Ukraine“ von Wiktor Juschtschenko. Interessant ist, dass die Wähler der „Swoboda“ sich als pro-europäischer bezeichnen als die Wähler der „orangenen“ Parteien.
Pro-europäische Wähler stimmen für Nationalisten? Wie ist dieses Paradox zu erklären?
Die „Swoboda” konnte die Wähler davon überzeugen, dass diese eine Kraft seien, die sich in äußerst konsequenter Weise dem Janukowitsch-Regime und den russischen Einflüssen in der Ukraine entgegenstellte. Ihr Radikalismus konnte als beste Antwort auf den Autoritarismus der Regierenden erscheinen. Diese Partei überraschte durch ihre Bereitschaft zur Kooperation mit den politischen Parteien der Hauptströmung oder auch mit dem „Komitee gegen Diktatur“, das als Antwort auf die politische Verfolgung Tymoschenkos gegründet wurde.
Was ist aber mit der Kooperation der „Swoboda” mit anderen europäischen rechtsextremen Gruppierungen?
Mit solchen Gruppierungen kooperierte sie tatsächlich und nutzte dies zu Image- und Propagandazwecken. Im Jahr 2000 knüpfte sie Kontakt mit Euronat, einer Vereinigung europäischer rechtsextremer Parteien, danach auch mit anderen „Schirmorganisationen“ für Nationalisten. Im selben Jahr nahm Jean-Marie Le Pen am Parteitag der „Swoboda“ teil. Die Zusammenarbeit war lang und fruchtbar. Es waren die Franzosen, die der Partei 2004 zu einem Imagewechsel hin zu einem etwas gemäßigteren Programm rieten. 2010 begann die Parteispitze der „Swoboda“ eine Kooperation mit den Österreichern. Von diesem Zeitpunkt an waren die Verbindungen zur europäischen extremen Rechten relativ stabil, bis Anfang 2013.
Die ausschließende Rhetorik des ethnischen Nationalismus ist nicht förderlich und schadet der Ukraine im Ganzen. Heute gibt es eher das Bedürfnis nach einer anderen Sprache, die zu der uneinheitlichen Gruppe der über hundert Personen passt, die auf dem Maidan umkamen
Die „Swoboda” gelangte 2012 ins Parlament. Ein Jahr später brechen die Proteste auf dem Maidan aus. Wie haben die jüngsten Ereignisse die politische Position der „Swoboda“ beeinflusst?
Die aktive Haltung der „Swoboda” bei den pro-europäischen, pro-demokratischen Protesten seit November 2013 könnte wie ein doppeltes Paradox erscheinen. Erstens verhielt sie sich auf einmal anders als die Gruppierungen, mit denen sie bis dahin in Europa sympathisierte und die eher mit Anti-EU-Parolen in Verbindung gebracht werden. Ein solcher Wandel war von Tjahnyboks Partei kaum zu erwarten. Zweitens hatte die „Swoboda“ selbst lange Zeit die geplante Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU kritisiert. Doch die Parteiführer bemerkten schnell, dass eine EU-Integration die bessere Lösung für die Ukraine wäre als Putins Projekt der Eurasischen Union. Die „Swoboda“ erkannte die pro-europäische Einstellung der Wähler, bemerkte, welch mächtige Plattform der Selbstpräsentation der Maidan werden konnte. Der Haken war nur, dass die Unterstützung für die Partei trotz all dieser Veränderungen bereits vor den Ereignissen auf dem Maidan zwei Mal sank und im November nur noch auf 5 Prozent geschätzt wurde. Zur Zeit hält sie sich auf diesem Niveau. Die „Swoboda“ versuchte, durch aktive Oppositionstätigkeit, Beteiligung an Kämpfen mit der Berkut usw. gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Zugleich sahen aber gerade auf dem Maidan viele Menschen, dass ihre Aktivitäten etwas zu radikal sind, die Gesellschaft zu sehr polarisieren. Es wurden auch Gerüchte über eine Manipulation der „Swoboda“ vonseiten des Kreml laut. Auch die Aktivitäten der Partei auf dem Euromaidan, das ist im Grunde der Schwanengesang dieser Formation.
Wollen Sie damit das Ende der „Swoboda“ vorhersagen?
Janukowitschs Fall bedeutete für diese Gruppierung den Verlust der wichtigsten Quelle für die negative Wählermobilisation. Dazu kommt, dass die ukrainische Gesellschaft, nachdem sie – im wortwörtlichen Sinne – durch Feuer und Wasser gegangen ist, trotz der blau-gelben Farbe der Revolution eher bürgerlich-republikanische als ausschließend-ethnische Züge aufweist. Und es gibt noch andere Gründe. Einer der Ersten, die auf dem Maidan umkamen, war ein Mann georgischer Herkunft. Später starben außer Ukrainern auch Armenier, Weißrussen, Russen, auf dem Maidan protestierten auch Krimtataren. Viele Ukrainer sehen jetzt, dass die ausschließende Rhetorik des ethnischen Nationalismus nicht förderlich ist und der Ukraine im Ganzen schadet. Es gibt das Bedürfnis nach einer anderen Sprache, die zu der uneinheitlichen Gruppe der über hundert Personen passt, die auf dem Maidan umkamen. Diese „himmlische Hundertschaft“ wird heute zu einem neuen Mythos – einem Mythos, der sich auf die jüngsten Ereignisse bezieht und um Vieles inklusiver ist als die Rhetorik, die die „Swoboda“ heute bieten kann.