Karolina Wigura: Wer ist ein guter Europäer?
Peter Sloterdijk: Ich kann Ihnen sagen, wer kein guter Europäer war. Wie Sie sicher wissen, versetzte die polnische Kavallerie im Jahr 1683 bei Wien der türkischen Armee den entscheidenden Schlag. Die Polen retteten die katholische Identität dieser Region. Ohne sie wäre Österreich früher oder später islamisiert worden und das restliche Europa hätte sich in ernsthaften Schwierigkeiten befunden. Angeblich soll Ludwig XIV. sich bei der Nachricht, dass die Polen zusammen mit den Österreichern die Türken aufgehalten hatten, für drei Tage in seinen Gemächern eingeschlossen und vor Wut geweint haben. Und das, obwohl er selbst römisch-katholischen Glaubens war. Er war kein guter Europäer! Das beweist, welch langen Weg wir seit dieser Zeit zurückgelegt haben.
KW: In der Tat, ich kann mir den französischen Präsidenten kaum weinend vor Wut vorstellen, weil sich zum Beispiel erwiesen hat, dass die Wirtschaft Polens sich gut auf die Wirtschaftssysteme der Nachbarländer auswirkt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass das westliche Europa nicht in Enthusiasmus verfällt, wenn Polen den Willen äußert, mit den Staaten der Eurozone am selben Tisch Platz zu nehmen. Sogar in der derzeitigen Krise.
PS: Ja, denn auch wenn die Europäer nach 1945 unter starken Druck geraten waren, ihre Situation zu begreifen, standen sie zunächst vor einem Fiasko. Nach 1945 gab es kein Europa. Es gab nur im europäischen Gebiet angesiedelte historische Akteure; keine Europäer, sondern die Erben unterschiedlicher nationaler Imperialismen. Das Europa der Vorkriegszeit war ein merkwürdiges Konglomerat von sechs, vielleicht sieben hauptsächlich auf der Grundlage von Nationalstaaten organisierten Imperialismen. Darunter waren heute vollkommen in Vergessenheit geratene Imperialismen, wie der belgische. Wenn wir heute „Belgien“ sagen, denken wir nur an Schokolade und das Chaos im dortigen Parlament. Kaum jemand erinnert sich, dass der belgische König im Jahr 1900 die Herrschaft über ein Gebiet von zwei Millionen Quadratkilometern innehatte! Im 19. Jahrhundert wollten die Deutschen ebenfalls ein Imperium errichten, ähnlich ging Katharina die Große aus Russland und auch andere vor. Eine solche Agglomeration konnte keine kohärente Einheit bilden, weder in politischer noch in religiöser Hinsicht. Später richteten die beiden Weltkriege den Kontinent zugrunde. Europa ist das Ergebnis einer Explosion, es ist ein Club der besiegten Imperien. Seine psychopolitische Analyse müsste bei dem grundlegenden Wort Demütigung begonnen werden.
KW: Sie haben jedoch gesagt, die Europäer hätten ihre Situation nicht begriffen.
PS: Als die Europäische Union entstand, anfangs als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, setzte man sich ganz minimalistisch das Ziel, dass jeder Staat in Ruhe seine Kriegswunden lecken können sollte. Die Folge war, dass jeder seine eigenen postimperialistischen Träume träumte, anstatt richtige programmatische Arbeit zu leisten, die vonnöten war, wenn Europa zu einer neuen Art politischer und zivilisatorischer Gemeinschaft werden wollte. Es wurde nur unentwegt über Frieden und Freiheit geredet, über Einheitlichkeit und Verschiedenartigkeit, man vertraute darauf, dass Politik und bürgerliches Engagement sich aus der Eintönigkeit heraus herstellen ließen. Deshalb ist es uns nicht gelungen, den Amerikanern den großen Gründungsmythos wieder zu nehmen, den sie Europa ganz einfach gestohlen hatten.
KW: Sie meinen den Aeneas-Mythos, nicht wahr?
PS: Richtig, den Mythos von Aeneas, dem Sohn eines trojanischen Prinzen und Sohnes von einem Geliebten der Venus. Die Götter führten ihn von Osten nach Westen, damit er im Latium eine Stadt namens Rom gründete. Der erste Römer war ein Trojaner – das ist ein eigentümliches Paradox. Er ließ alles zurück und begann ganz von vorn. Ich nenne das den Mythos der zweiten Chance. Die Europäer, die sich selbst besiegt hatten, die der Tod, die Gegner, die Geschichte besiegt hatte, erhielten eine solche Chance nach dem Krieg. Europa sollte ein Kontinent der Regeneration sein. Eine Chance auf die „Emigration“ aus den engen nationalen Identitäten in eine weiter gefasste – die europäische.
KW: Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, die Amerikaner hätten den Mythos gestohlen?
PS: Auf jedem amerikanischen Dollar ist ein Zitat aus Vergil zu finden. Das heißt, dass bereits die Iren, die die amerikanische Küste im 18. Jahrhundert erreichten, den Mythos der zweiten Chance im wörtlichen Sinne mit ihrem Körper und ihrer Seele personifizierten. Nach 1945 hingegen übernahmen die USA zusätzlich das, wovon die ganze gedemütigte Familie der europäischen Imperien träumte: Sie wurden zu einer Weltmacht. Um überhaupt irgendetwas damit zu machen, hätten die Europäer laut darüber sprechen müssen, das verkünden müssen, was ihnen gegeben worden war, denn der Mythos der zweiten Chance ist in Wirklichkeit ein europäischer Mythos und kein amerikanischer. Das hätte eine antidepressive und lebensspendende Wirkung gehabt. Es hätte die Europäer von Portugal bis Polen von dem gemeinsamen Projekt überzeugt.
KW: Über Ihre Interpretation des Aeneas-Mythos habe ich mit Bassam Tibi gesprochen, einem syrischen Politologen, der einige Jahrzehnte in der BRD verbracht hat. Er sagte mir, dass seiner Meinung nach die Realität der echten europäischen Immigranten nicht beneidenswert sei, auch wenn die Metapher von der „Emigration nach Europa“ Ihnen selbst als einer aus Westdeutschland stammenden und dort aufgewachsenen Person anziehend erscheinen möge. Ich persönlich meine, dass dieser oder auch jeder andere Mythos richtig interpretiert werden würde und wir den Amerikanern nichts wegnehmen müssten, wenn es für die Europäer überzeugende nicht-ökonomische, nicht-politische Grundlagen für die EU gäbe.
PS: Sie haben recht, und genau aus diesem Grund befinden wir uns heute in einer solch unglücklichen Lage. Die Europäische Union ist theoretisch eine Art politischer Union, einer Währungs- und quasi-zivilisatorischen Union, aber in erster Linie ist sie ein Konsum- und Sicherheitsverband. Wir haben sogar eine neue Form des Kapitalismus erfunden, einen eigentümlichen Kreditismus, dessen Mechanismus auf Zinsen und nicht auf Kapital beruht. Wir alle führen ein Leben getrieben von Zinsstress, das ist eben der europäische Way of Life. Die EU war von Anfang an auf Geld gegründet und nicht auf ein historisches Schuldgefühl oder eine Verantwortung für die Vergangenheit. Wir haben nicht einmal bemerkt, wie sich die Transformation von Schuld in Schulden vollzogen hat.
KW: Währenddessen haben die drei Antlitze der Krise, über die laut gesprochen wird – die wirtschaftliche, die politische und die Krise der Eurozone – die Situation offenbart. Gibt es eine Chance auf die Wiederherstellung der europäischen Solidarität? In einem Ihrer letzten Bücher, „Du mußt Dein Leben ändern“, schreiben Sie in der Sprache der Biologie und der kulturellen Evolution über dieses Thema…
PS: Als Gott Adam und Eva erschuf, wollte er keine Deutschen, Polen oder Amerikaner. Nicht, weil sie ihm nicht gefallen würden, sondern weil die Deutschen zu viel sind, die Polen zu viel sind. Die Nation, das ist zu viel. Menschen sind, nun ja, Tiere, die für die Gesellschaft von maximal hundert anderen Individuen geschaffen sind. Das sind so viele, wie jeder von uns mit bloßem Auge erfassen, mit denen er in regelmäßigem direkten Kontakt stehen kann. Erst die kulturelle Evolution hat uns urbanisiert, nationalisiert, zu Millionen zusammengeschlossen. Und weil diese riesigen Gemeinschaften für Menschen etwas Unnatürliches sind, wird ihre Existenz künstlich aufrechterhalten, indem man ihre Temperatur mit verschiedenen Methoden erhöht. Nationen sind Fieber-Kollektive. Bereits vom Morgen an haben sie eine Temperatur von gut 37 Grad. Ihr Verhalten hängt davon ab, ob diese Temperatur an dem bestimmten Tag steigt oder fällt. Starke feindselige Gefühle oder Paranoia können die Temperatur sehr rasch ansteigen lassen.
KW: Und Solidarität nicht?
PS: Eine Gruppe von hundert Personen, in der alle in direktem Kontakt miteinander stehen, braucht ganz einfach keine Solidarität. Vielleicht geht ab und zu eine Gruppe von Männern auf die Jagd und ist ein paar Tage nicht da, aber wenn sie zurückkommen, sehen die Männer ihre Frauen und Kinder, und alle sind wieder fast ununterbrochen zusammen. Da aber schon jemand aus dieser Gesellschaft nach außerhalb geht, bringt er auch die Nachricht mit, dass es noch andere Stämme gibt. Und dann stellt sich vielleicht heraus, dass es auf der Welt nicht nur hundert Menschen gibt, sondern viertausend, vielleicht sogar etwas mehr. Solange ein Stamm isoliert von den anderen lebt und den Begriff des Unterschieds nicht kennt, ist ihm der Begriff der Solidarität fremd. Wir beginnen ihn erst zu verwenden, wenn die Solidarität selbst zu einem Problem zu werden droht…
KW: Wenn die Nationen Fieber haben, warum ist dann die Europäische Gemeinschaft gerade einmal warm?
PS: Wir sind an Bord eines Schiffes gegangen, dessen Kapitäne im Streit miteinander liegen, und niemand weiß, welcher Kurs eigentlich eingeschlagen worden ist. Selbst wenn wir für das Schiff unser gemeinsames Geld geben, werden wir wahrscheinlich nicht entscheiden können, wohin wir fahren wollen. Aber vielleicht zeigt sich das mit der Zeit. Das vereinte Europa ist nur eine Agglomeration vieler sehr unterschiedlich großer Gemeinschaften. Nicht nur der Osten und der Westen unterscheiden sich stark voneinander. Südeuropa ist eine Wirklichkeit für sich, die mit den Realien des Nordens nichts gemein hat. Das ist in der Zeit der Finanzkrise besonders deutlich zu erkennen, aber in Wahrheit haben wir es auch früher schon gesehen, wenn wir ihren und unseren Lebensstil, ihre und unsere Weltsicht betrachteten. Seit der EU-Osterweiterung sind diese Unterschiede noch stärker, der ganze Organismus erinnert eher an ein heterogenes Patchwork als an ein Imperium oder eine in sich geschlossene Kultur. Wenn man Europa auf irgendeine Weise positiv beschreiben kann, dann erinnert es eher an ein großes Edukationsprojekt. Das Problem dabei ist, dass der Einsatz darin Überleben oder Untergang ist, Leben oder Tod. Und es gibt keinen Lehrer. Einige haben dessen Rolle schon übernehmen wollen, aber es ist ihnen nicht geglückt. Auch ich habe im Übrigen versucht, mich an dieser großen europäischen Didaktik zu beteiligen. Jetzt habe ich damit aufgehört, da ich keine Möglichkeit mehr zum sinnvollen Gespräch mit den Europäern sehe. Die Projekte, die hinter den Namen von Städten wie Brüssel oder Straßburg stehen, sind zu komplex, als dass eine solche Didaktik gelingen könnte.
KW: Und zu komplex, als dass die EU weiterhin bestehen könnte?
PS: Wissen Sie, wie der Wilde Westen zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aussah? Ein bunter und gefährlicher Haufen Siedler, Revolverhelden, Viehtreiber. Erst später erschienen die Sheriffs, kamen in Kutschen die Rechtsgelehrten gefahren. Sie personifizierten den Staat. Und genau diese Situation haben wir heute in Europa. Hier gibt es außerordentlich unterschiedliche Staatskulturen. Frankreich, der wohl etatistischste Staat dieser Welt. Die Deutschen mit ihrer Tradition der Staatsgewalt, die sich in der Rolle der Universalschuldigen etwas zu wohlfühlen. Die Polen mit ihrem Staat, den es nicht gab. Die Spanier, die Portugiesen, wo der Staat immer noch etwas anderes ist. Die Schweiz, in der der Staat als direkte Emanation der Gesellschaft verstanden wird. Und in dieser Situation kommen die Brüsseler Beamten und wollen eine einheitliche Ordnung erzwingen. Das wird noch sehr viel Zeit brauchen.
KW: Vielleicht sollten wir mit der Reflexion in kleinerem Umfang beginnen? Zum Beispiel, warum die Deutschen und die Polen so viele Verständigungsschwierigkeiten haben?
PS: Weil wir inkompatible Ängste haben. Und jeder unsere eigene Paranoia hegen. Das erschwert die Kommunikation sehr. Die Polen haben eine sehr starke antisowjetische, oder antirussische, Paranoia. Das ist aus offensichtlichen historischen Gründen so. Warum aber in Polen die Sache mit der Katastrophe in Smolensk noch immer nicht abgeschlossen ist, warum immer noch gestritten wird, wer wirklich für diese Katastrophe verantwortlich ist – das, glauben Sie mir, versteht nicht nur kein Deutscher, sondern niemand in ganz Westeuropa. Oder Jarosław Kaczyński und seine berühmte Behauptung, dass es ohne den Angriff der Deutschen auf Polen im Jahr 1939 heute 60 Millionen Polen gäbe und euer Land deswegen eine stärkere Position in der Europäischen Union hätte… Kaczyński wollte die Proportionen der politischen Repräsentation in den europäischen Institutionen neu bemessen, indem er Lebende und Tote mit einrechnete. Das sagt viel über Polen und über euren ganz spezifischen Wahnsinn aus, mit dem ihr wirklich großzügig umgeht.
KW: Sie sprechen von den Spielarten der polnischen Paranoia, beschränkten sich aber lediglich auf zwei Beispiele. Und was ist mit den deutschen Ängsten?
PS: Wir haben andere paranoische Komponenten. Am meisten fürchten wir uns vor dem Unsichtbaren. Darum ergehen wir uns auf wahrhaft perverse Weise genüsslich in Reden über Epidemien, Terrorismus und Kernenergie. Die letztere übrigens, die bis vor Kurzem in den Kraftwerken auf die friedlichste Weise genutzt wurde, ruft heute bei den Deutschen mehr Sorge hervor als die russischen oder amerikanischen Atomsprengköpfe… Obwohl die Statistiken besagen, dass in den letzten Jahren aufgrund von Störungen in diesen Kraftwerken eine, vielleicht zwei Personen in ganz Europa gestorben sind. Jährlich kommen mehr Menschen durch Blitzschlag um, angeblich sogar zwölf Personen! Es sieht also danach aus, als hätten die kraft des Schengen-Abkommens geöffneten Grenzen nur zu einer teilweisen Annäherung der Nationen geführt. Wir haben unsere Ängste nicht untereinander ausgetauscht. Aber das kann sich noch ändern – wenn bis zu den Polen vordringt, dass sich Wahnvorstellungen exportieren lassen. Darin sind die Deutschen zum Beispiel Meister.
KW: Und was könnten die Polen nach Europa exportieren?
PS: In Polen gibt es etwas, das ein Westeuropäer selbst unter den gläubigsten Katholiken nicht erleben würde. Es gibt bei euch Intellektuellenkreise, die die Grenze zwischen Kirche und Nation aufheben möchten. Bei euch gibt es den Begriff einer religiösen Gemeinschaft, einer Brüderschaft, die der Struktur einer Familie oder eines Clans sehr nahekommt, die grandiose Phantasie einer homogenen Gesellschaft.
KW: Ich nehme an, Sie spielen auf die in Polen traditionelle Wortverbindung „Polak-katolik“ [Pole=Katholik] an. Dazu muss ich Ihnen jedoch sagen, dass die Vorstellung einer homogenen Gesellschaft bei den Polen, selbst den sehr gläubigen, eher ein Schaudern hervorruft, da sie sich nur zu gut an den Kommunismus erinnern. Womit Sie allerdings recht haben, ist, dass es in Polen einen gewissen Wunsch nach der Rückkehr zu einer mythischen Brüderschaft, einer Gemeinschaftlichkeit gibt. Des Weiteren wichtig für unsere Identität sind in den letzten Jahren aber auch Diskussionen über die Vergangenheit, die die traditionelle viktimistisch-heroische Vorstellung der Polen von sich selbst etwas aufbrechen: Jedwabne, also das Symbol für die dramatischen polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges, das polnisch-ukrainische Verhältnis, sogar das Verhalten der Polen gegenüber den nach dem Krieg vertriebenen Deutschen…
PS: Es wäre wunderbar, wenn ihr etwas von diesen Debatten über die Grenze hinaus exportieren könntet. Die Deutschen haben sich geradezu beunruhigend gemütlich in ihrer Rolle des Universalschuldigen eingerichtet. Die Österreicher und die Griechen exportieren das Ressentiment nach Europa. Die Ungarn – jedenfalls die antieuropäisch eingestellten – das aggressive Ressentiment. Ich kann daher nun endlich auf die Frage antworten, die Sie mir ganz am Anfang gestellt haben. Ein guter Europäer ist der, der begreift, worin seine Demütigung besteht und der seine Konsequenzen daraus zieht. Ihr Polen könnt solche guten Europäer sein. Dank eures Katholizismus und eurer historischen Traumata könnt ihr schon heute als ordentlicher Neurotiker in den Club der gedemütigten Imperien eintreten.