Die Ordnung des Kalten Krieges stützte sich auf vier Staaten, über die sich wohl alles sagen lässt, außer, dass sie normal sind. Das waren die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Deutschland und Israel. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete für sie einen Versuch der Normalisierung. Russland hat sie nicht ohne Probleme vollzogen – heute jedoch, mag einem Russlands Normalität gefallen oder nicht, gibt es in diesem Staat nicht viel Außergewöhnliches, und er will auch keine solche Rolle spielen. Etwas anders sieht es bei den Vereinigten Staaten und Israel aus. Die Normalisierung der USA ist nicht gänzlich möglich, denn noch immer sind sie einer der wichtigsten Punkte auf der heute multipolaren Weltkarte. Israel hingegen könnte, wollte es Normalisierung einführen, damit sein eigenes Überleben unmöglich machen.
Am schnellsten und mit den geringsten Schwierigkeiten hat sich Deutschland normalisiert. Seine Normalisierung beruht paradoxerweise zum Großteil auf der Beschränkung von Demokratie. Oft wird vergessen, dass das politische System der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf der Angst vor Totalitarismus aufbaut, sondern auch auf der Angst vor Demokratie: Schließlich hatte Hitler freie Wahlen gewonnen. Wir wissen das jedoch nur theoretisch, während Deutschland diese Erfahrung tatsächlich gemacht hat. Aus diesem Grund ist die Furcht vor Populismus und Extremismus in der Politik in Deutschland stärker als anderswo. Aus dem gleichen Grund garantiert das deutsche Grundgesetz solchen Institutionen die meisten Rechte, die nicht durch freie Wahlen entstanden sind: der Bundesbank und dem Verfassungsgericht.
Aus all diesen Gründen ist Deutschland heute in der Lage, der Europäischen Union weder die Übernahme der Vormachtstellung, noch das Verlassen der Eurozone anzubieten, sondern Demokratie, die allerdings noch eingeschränkter wäre, als in Deutschland selbst. Im Grunde ist das in der EU herrschende politische System für Deutschland aus dieser Sicht am besten geeignet. Dahinter steht etwas äußerst Radikales, was sich leicht übersehen lässt. Denn der Vorschlag Deutschlands besteht darin, ökonomische Entscheidungen außerhalb des Bereiches zu treffen, in dem Entscheidungen unter Beteiligung der Wähler getroffen werden.
Woher kommt so ein Vorschlag? Während man in den Neunzigerjahren der Meinung war, Polen und andere Länder der Region sollten eine Transformation ihres politischen Systems nach dem Muster von Spanien in den Siebzigerjahren durchlaufen, ist man heute gegensätzlicher Ansicht. Angesichts des Schweigens von Paris und London ergreift Deutschland die Initiative und sagt: „Das, was wir im Süden vorhaben, ist nichts anderes als die Transformation von Mittelosteuropa. Da gibt es nichts zu befürchten: die Bewohner von Polen und Tschechien haben gestreikt, aber die Demokratie hat überlebt. Das Drängen auf Reformen, die die Europäische Union durchgeführt hat, waren in keiner Weise ein Grund für die Delegitimisierung von demokratischen Institutionen. Im Gegenteil, die verbliebenen Institutionen wurden gestärkt.“
Deutschland ist auch deshalb fest überzeugt von der Richtigkeit des Sparprogramms und der Beschränkung der Demokratie in Bezug auf Griechenland – und das wird oft vergessen –, weil es Transformationserfahrungen mit der DDR hat. Obwohl Deutschland oft Arroganz vorgeworfen wird, ist es wahr, dass es die Mehrheit der Beschränkungen, die es anderen vorschlägt, zuerst sich selbst auferlegt hat.
Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass Berlin davon überzeugt ist, dass eine tiefer gehende Demokratisierung der EU keine gute Idee sein muss. Aus kürzlich durchgeführten Untersuchungen geht hervor, dass die Deutschen gern überschüssiges Geld beispielsweise hungernden Kindern in Afrika oder ganz einfach armen Nachbarn zukommen lassen würden. Wesentlich weniger sind sie geneigt, den Griechen zu helfen. In diesem Sinne hat die Bundesrepublik recht, dass europäische Solidarität leichter auf der institutionellen Ebene durchzuführen ist.
Zum Schluss möchte ich auf das zurückkommen, was ich bereits angeführt habe: dass der Standpunkt Deutschlands radikal ist. Eine der wichtigsten Eigenschaften der modernen Politik war bisher, dass sie die wirtschaftlichen Interessen von Individuen und Gruppen betraf. Alfred Hirschman definiert Fortschrittlichkeit als ein Spiel der Leidenschaften und Interessen, das darin besteht, die Sprache der Leidenschaften in die Sprache von Interessen zu übersetzen, und sie dann in der politischen Domäne zu platzieren und zu verhandeln (über Leidenschaften als solche ließe sich kaum diskutieren). Wenn wir annehmen, dass ökonomische Entscheidungen außerhalb der Politik getroffen werden können, stellt sich die Frage, was dann noch für die Politik übrig bleibt, außer natürlich Identitätsinteressen, die gefährliche extremistische Konnotationen haben.