Obwohl die Kompetenzen der EU noch immer unvergleichlich geringer sind als die der einzelnen Nationalstaaten, hat diese Tendenz bereits das Wesen der Beziehungen zwischen Nationalstaat und Staatsbürgerschaft verändert. Die institutionelle Entwicklung der Europäischen Union und die wachsende Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte führen dazu, dass das, was aus historischer Sicht als durch und durch national entstanden ist, Schritt für Schritt entnationalisiert wird. Interessanterweise wird diese „Entnationalisierung“ katalysiert von der Entstehung zahlreicher Akteure, Gruppen und Gemeinschaften, die eine umfassender verstandene politische Zugehörigkeit postulieren. Sie lehnen die automatische Identifizierung mit dem Nationalstaat ab, selbst wenn sie seine rechtmäßigen Bürger sind. Das bedeutet weder, dass sie den Nationalstaat ablehnen, noch dass sie die EU voll und ganz annehmen. Das ist ein komplexerer Prozess, in dem sich der Bürger vom Staat distanziert, zu dem manche EU-Institutionen, die Menschenrechtsbestimmungen und die wachsende Bedeutung der internationalen Bürgergesellschaft beitragen. Dieser sowohl institutionelle als auch subjektive Wandel in der Europäischen Union prallen zusammen mit einem anderen starken Trend – der erneuten Nationalisierung des Zugehörigkeitsgefühls.
Historisch betrachtet wurde die Staatsbürgerschaft paradoxerweise von Postulaten und Forderungen von Ausgeschlossenen gestaltet, sowohl von Minderheiten, als auch von Einwanderern. Mehr noch, die Entwicklung der formalen Staatsbürgerrechte von den Nachkriegsjahren an bis in die neunziger Jahre hinein führte dazu, dass die Nationalstaaten zur Schaffung von Bedingungen beitrugen, in denen das Konzept der Unionsbürgerschaft entstehen konnte. Zur gleichen Zeit hat im Zuge der Dominanz des neoliberalen Gedankens während der vergangenen zwei Jahrzehnte der Staat als solcher einen Wandel durchgemacht. Ein Element dieses Wandels ist die Reduktion sozialer Verpflichtungen des Staates dem Bürger gegenüber, die im Namen der Schaffung eines neoliberalen „konkurrenzfähigen Staates“ vorgenommen wurde. Aus diesem Grund ist es derzeit unwahrscheinlich, dass die Mitgliedsstaaten in der Lage sein werden, im Bereich Legislative und Judikative eine ähnliche Anstrengung aufzubringen, die einst zu erweiterten Bürgerrechten geführt hat. Das aber kann – und das ist das zweite Paradoxon – dazu führen, dass das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger zu ihren eigenen Nationalstaaten schwächer wird. Immer öfter werden Ansprüche auch bei anderen Institutionen als dem Staat angemeldet werden, beispielsweise beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Europa und seine Migrationen
Ehemalige Einwanderergruppen funktionieren innerhalb europäischer Gesellschaften gut, wenn auch auf unterschiedliche Weisen. Aus diesen ehemaligen Einwanderergruppen, die vor drei oder vier Generationen (oder noch früher) nach Europa gekommen sind, sind zahlreiche heutige Staatsbürger hervorgegangen. Sie sind also nicht Gegenstand der derzeitigen Diskussionen, obwohl es zu Zeiten ihrer Einwanderung um sie ähnliche Streitigkeiten gegeben hatte.
Derzeit konzentriert sich die Mehrheit der Argumente gegen die Einwanderung auf Fragen der Rasse, der Religion und der Kultur, und benennt meistenteils kulturelle und religiöse Unterschiede als Hauptgrund für die Schwierigkeiten im gemeinschaftlichen Leben. Diese Argumente könnte man als rational bezeichnen, schaut man sich jedoch ihren historischen Kontext genauer an, sieht man darin lediglich ein neues Kleid für alte Leidenschaften: die Reduktion von „Andersartigkeit“ auf die Frage der Rasse. Heute wird der Stereotyp des „Anderen“ aufgebaut, indem man sich auf die Unterschiede in Rasse, Religion und Kultur beruft. Ähnliche Argumente wurden laut, wenn Einwanderer aus Gruppen stammten, die bezüglich dieser Kriterien ähnlich waren. Dann argumentierte man, sie würden zu der Gesellschaft, in die sie gekommen waren, nicht passen, da sie schlechte Gewohnheiten und zweifelhafte Moral hätten und ihre Religion regelwidrig praktizieren würden. Migration findet immer zwischen zwei Welten statt, selbst wenn sich diese Welten in der gleichen Region oder im gleichen Staat befinden, so wie beispielsweise im Falle von Bürgern der ehemaligen DDR, die, wenn sie nach Westdeutschland übersiedelten als eine separate ethnische Gruppe mit unerwünschten Eigenschaften wahrgenommen wurden.
Es gibt Hinweise auf den zyklischen Charakter der Anti-Einwanderungspolitik und der Ballung von Fragen, die damit einhergehen. Jahrhunderte hindurch haben die größten europäischen Wirtschaftsmächte heftige Zyklen der enormen Nachfrage nach der Arbeitskraft von Migranten durchgemacht, wonach rücksichtslose Aussiedlung eintrat, um dann ein paar Jahrzehnte später wieder Defizite bei den Arbeitskräften zu haben. Ein Beispiel aus der neusten Geschichte ist Frankreich, das während des Ersten Weltkrieges verzweifelt Arbeitskräfte brauchte (es wurden sogar algerische Einwanderer in die Armee einberufen), und während des Wiederaufbaus des Landes in den zwanziger Jahren, ein Jahrzehnt später machte es eine Epoche der aggressiven Anti-Einwanderungspolitik durch, um dann in den vierziger Jahren wieder eine dringende Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften zu entwickeln, und so weiter. Die Beispiele aus der Vergangenheit und die derzeitige, oben beschriebene Situation weisen meiner Meinung nach darauf hin, dass das Phänomen der Zyklizität weiterhin auftreten kann. Im Hinblick auf den wachsenden Bedarf nach billigen Arbeitskräften und den rapiden Rückgang der Bevölkerungszahlen in der heutigen EU, lässt sich leicht voraussagen, dass innerhalb eines Jahrzehnts, wenn nicht eher, eine Phase des größeren Bedarfs an ausländischen Arbeitskräften eintreten wird.
Die beste Strategie für die reichen EU-Ländern, die so besorgt sind wegen des massenhaften Zuflusses von Billiglohnarbeitern und schlecht ausgebildeten Arbeitnehmern aus den neuen EU-Mitgliederstaaten, ist, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um diesen Arbeitnehmern eine möglichst umfassende Entwicklung zu gewährleisten.
Migration als ein eingebetteter Prozess
Für die Entwicklung der Politik der Zugehörigkeit ist es maßgeblich zu klären, ob die Arbeitsmigration ein integraler Bestandteil des Funktionierens und der Entwicklung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen ist. Mein Argument ist einfach: Wenn die Ursache für die Einwanderung in der Suche nach einem besseren Leben gesehen wird, wird sie von dem jeweiligen Gastland als ein Prozess verstanden werden, der von Bedingungen gestaltet wird, die von ihm unabhängig sind. Dem Zuwanderungsland wird aufgebürdet, die Einwanderer aufzunehmen. So gesehen können wir, wenn die Armut und die Überbevölkerung in anderen Teilen der Welt wachsen, mit einem Anwachsen der Einwanderung konfrontiert sein, zumindest potenziell. Das Zuwanderungsland gerät hierbei in die Rolle eines „passiven Zuschauers“, der keinen Einfluss auf die Prozesse hat, die sich außerhalb seines Macht- und Kontrollbereiches vollziehen. Dadurch hat es nicht viele andere Optionen, um die „Invasion“ zu verhindern, außer der Festigung seiner Grenzen.
Die Politik der Zugehörigkeit wird davon beeinflusst, dass die Zuwanderungsländer de facto zur Entstehung von innerer Migration beitragen. Daraus folgt unter anderem das Recht von Einwanderern darauf, nicht als Verbrecher oder „Illegaler“ wahrgenommen zu werden. Eine weitere Folge ist, dass die europäischen Arbeiterklassen, die innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre enorme Verluste zu verzeichnen hatten, ihre Wut auf die zentralen wirtschaftlichen und politischen Gruppen richten sollten, die die Programme entworfen haben, die sich ihrer Meinung nach zerstörerisch auf die Gesellschaft auswirken.
Die Geschichte der innereuropäischen Migration zeigt, dass aus verfolgten Einwanderern im Laufe der Zeit Eltern und Großeltern europäischer Bürger geworden sind. Am bedeutsamsten ist vielleicht, dass diese Geschichte zeigt, dass die Mühe, die sich mit der Integration von Ausländern gemacht wird, auch zur Erweiterung der Bürgerrechte beigetragen und aus Europa eine offene Gesellschaft gemacht hat. Dennoch hat jede Generation ihre Konflikte und Feindschaften gegen eine jede neue Nationalität durchgemacht, die in Europa aufgenommen wurde. In den siebziger Jahren waren das die Italiener, Spanier und Portugiesen. Jetzt scheint das unvorstellbar, aber diese Feindschaften sind noch immer vorhanden, und richten sich gegen eine ganze Generation an fremden Nationalitäten und Kulturen. Die Herausforderung, Europa als eine offene Gesellschaft zu erhalten, wird zum wiederholten Mal erfordern, Mechanismen einzuführen, die die Zugehörigkeit erweitern. Nur sie sind in der Lage, die Bürgerrechte und die Offenheit zu stärken.