Łukasz Pawłowski: Was wird in der Ukraine nach der Präsidentschaftswahl am 25. Mai geschehen?
Bernard Kouchner: Wenn ich das nur wüsste! Ich hoffe, dass die Wahl als transparent und ehrlich anerkannt wird. Dafür besteht die Chance: Es sind ungeheuer viele – fast 2500 – Wahlbeobachter in die Ukraine entsandt worden. Die am wenigsten stabilen Regionen, besonders der Donbas, sollten so weit abgesichert werden, dass die Bürger, die ihre Stimme abgeben wollen, auch die Möglichkeit dazu haben.
Glauben Sie, dass die Separatisten aus diesen Regionen und Russland die Wahlergebnisse akzeptieren werden?
Sie werden sie nicht akzeptieren und versuchen, sie zu untergraben. Ich mache mir nicht die Illusion, dass die Stimmabgabe in der ganzen Ukraine sicher ablaufen wird. An einigen Orten wird sie sicher gar nicht möglich sein, aber selbst dort wird man mindestens ein paar Wahllokale betreiben müssen, sodass wenigstens ein Teil der Wähler seine Stimme abgeben kann.
Wie sehen das beste und das schlechteste Szenario für die Ukraine aus?
Das beste Szenario ist zuallererst eine demokratische Wahl des Präsidenten und dessen Erlangung der allgemeinen Legitimation. Der neue Präsident muss die Ukraine auf angemessene, legale Weise repräsentieren.
Wollen Sie damit andeuten, dass der derzeitig amtierende Präsident Oleksandr Turtschynow seine Funktion nicht legal ausübt?
Das habe ich nicht gesagt, aber denken Sie daran, dass er von dem Parlament gewählt wurde, das vor dem Ausbruch der Proteste auf dem Maidan aktuell war.
Und wie sieht das schlechtestmögliche Szenario aus?
Krieg – wenn auch natürlich kein Weltkrieg. Zu verschiedenen Vorfällen mit Todesopfern wird es sicherlich kommen, daran habe ich keine Zweifel. Wir müssen uns aber bemühen, ihre Ausdehnung klein zu halten. Deshalb muss der demokratisch gewählte Präsident sofort in Dialog mit dem Volk treten. Was er genau anbieten wird, weiß ich nicht. Das Wichtigste wäre, dass er die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft wiederaufzubauen versucht.
Persönliche Sanktionen gegen enge Mitarbeiter des russischen Präsidenten machen auf ihn nicht den geringsten Eindruck.
Auf welche Weise kann Europa bei diesem Prozess behilflich sein? Bei Ihrem Vortrag auf der Konferenz „Ukraine: Thinking Together” haben Sie den Besuch der Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands in Kiew im Februar sehr gelobt, da es mit ihrer Beteiligung zur Unterzeichnung einer Vereinbarung zwischen Wiktor Janukowytsch und der Opposition kam.
Ja, das ist eine effektive Methode, politischen Druck auszuüben, und eines der diplomatischen Instrumente zur Krisenbewältigung. Schade, dass die europäischen Staatsoberhäupter nicht mutig genug sind, Moskau eine Visite abzustatten und mit Putin unter vier Augen über die Bedingungen zur Beruhigung der Situation zu reden.
Aber eine solche Visite wäre doch auch eine Art Eingeständnis, dass der russische Präsident das Mandat besitzt, eine Entscheidung in dieser Sache zu fällen.
Das denke ich nicht. Alles hängt davon ab, mit welcher Botschaft wir dort hinfahren würden. Ich glaube an die Wirksamkeit solcher Initiativen.
Also ein „Runder Tisch” mit Putin und keine weiteren wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland? Sie sind kein Befürworter ihrer Verhängung.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass Sanktionen manchmal wirken – so war es zum Beispiel bei ihrer Verhängung gegen die Republik Südafrika, wo sie zum Fall der Apartheid beitrugen. Aber am aktuellen Fall machen die persönlichen Sanktionen, die gegen enge Mitarbeiter des russischen Präsidenten verhängt werden, nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Sicherlich, sie können für die betreffenden Personen mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sein, weil sie kein Visum für Europa bekommen. Sie werden jedoch Putin nicht aufhalten und keine Veränderung des Staatssystems bewirken.
Manche Analytiker sind jedoch der Ansicht, Putin verliere die Kontrolle über die Situation in der Ostukraine. Die Separatisten haben nicht auf seine Aufforderung gehört, die Referenda zu vertagen…
Aber das ist doch Teil seines Spiels!
Wie sind die Regeln in diesem Spiel?
Das ist einfach – die Strategie besteht darin, in einem bestimmten Moment starke, entschlossene Bewegungen zu machen, und im nächsten dann versöhnliche Gesten. Übrigens hatte Putin in diesem Fall nicht versprochen, die Separatisten zurückzuhalten, sondern lediglich, sich mit einer Bitte an sie zu wenden, wobei er genau wusste, dass diese nie erfüllt werden würde. Er tat das einzig und allein dafür, um den OECD-Chef zufriedenzustellen, der damals gerade in Moskau bei ihm zu Besuch war. Putin ist ein Lügner, aber einer, der immer nach demselben Schema vorgeht.
Wenn das so einfach ist, warum fallen wir dann immer wieder auf ihn herein? Liegt das daran, dass Putin sich nicht an die Regeln hält, nach denen im Westen Politik betrieben wird?
Putin schreckt nicht davor zurück, Truppen zu entsenden – ob das die regulären russischen Truppen sind, wie beim Georgien-Konflikt, oder Einheiten ohne nationale Kennzeichnung, wie beim Krim-Konflikt. Und das macht er immer dann, wenn sich die Notwendigkeit zeigt. Wir hier setzen weniger gern das Militär ein, Europa hat vergessen, was eine Manifestation militärischer Stärke bewirken kann. Ich glaube, Brüssels großer Fehler ist, bis heute keine europäischen Streitkräfte organisiert zu haben. Ich weiß, dass die Polen diesen Gedanken unterstützen, ich bin auch ein Befürworter davon, aber im Moment gibt es keine Chance für eine Umsetzung. Vielleicht in zehn Jahren…
Denken Sie dabei an eine andere Struktur als die NATO?
Nicht notwendigerweise. Aber schließlich brauchen wir auch dann Soldaten und Ausrüstung, wenn wir die NATO-Kräfte einsetzen – indessen geben außer Frankreich und Großbritannien nur wenige Mitgliedsstaaten die vorgeschriebenen 2 Prozent des Budgets für Rüstung aus.
Wladimir Putins Popularität basiert in hohem Maße auf dem Gefühl der Erniedrigung ihres Landes, das viele Russen seit dem Zerfall der Sowjetunion verspüren, und dem ihnen gegebenen Versprechen, durch den Wiederaufbau der russischen Macht neue Achtung zu erlangen.
Sie sprechen von der Notwendigkeit einer Verbesserung der europäischen Streitkräfte, und währenddessen rüstet Russland auf, und das u.a. gerade dank Frankreich. Die Regierung in Paris hat bis jetzt den Vertrag zum Bau von Kriegsschiffen für die russische Marine noch nicht aufgelöst. Was denken Sie über diese Entscheidung?
Die französische Regierung hat informiert, im Oktober eine Entscheidung bekanntgeben zu wollen. Ich hoffe, dass die Erfüllung dieses Vertrags wenigstens vertagt wird.
Darüber wird sie schon bald mit Putin sprechen können – bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an die Landung der Alliierten in der Normandie, zu denen auch Putin eingeladen ist. Haben Sie nichts gegen diese Entscheidung einzuwenden?
Das ist doch nur normal – Putin ist Russlands Präsident! Sollen wir wegen seiner Politik das Opfer der Millionen Russen vergessen, die im 2. Weltkrieg gefallen sind?!
Ihn nicht einzuladen wäre ein deutliches Signal gewesen, dass der Westen Russlands heutiges Handeln nicht akzeptiert.
Das ist aber nicht möglich. François Hollande – der zur Zeit des Krieges noch nicht einmal auf der Welt war – nimmt heute als Frankreichs Präsident an diesen Feierlichkeiten teil. Ähnlich ist es mit Putin. Auch wenn er sich gegenüber der Ukraine niederträchtig verhält, repräsentiert er doch immer noch Russland, und Russland war Teil der Anti-Hitler-Koalition, dank der Hitler besiegt wurde. Das heißt nicht, das Präsident Obama auf der Feier gleich eine Umarmung mit Putin austauschen oder ein „Selfie“ von ihnen beiden knipsen muss, aber wir müssen uns anständig verhalten.
Russlands politische Elite ist nicht besonders anständig… Wie sollen wir dann also zu erkennen geben, dass wir nicht einverstanden sind?
Wenn Sie Russland demütigen möchten, dann bitte sehr – wir hätten Putin auch nicht einzuladen können. Aber das hätte das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung zur Folge gehabt. Die Popularität des russischen Präsidenten basiert in hohem Maße auf dem Gefühl der Erniedrigung ihres Landes, das viele Russen seit dem Zerfall der Sowjetunion verspüren, und dem ihnen gegebenen Versprechen, durch den Wiederaufbau der russischen Macht neue Achtung zu erlangen.
Ist dieses Gefühl der Erniedrigung denn berechtigt?
Meiner Ansicht nach nicht, aber so sieht die Sachlage nun einmal aus.
Wie kann man sie verändern?
Wir könnten den Russen eine kollektive Psychotherapie spendieren, aber so eine Maßnahme für 140 Millionen Leute wäre doch etwas teuer und würde sich für niemanden auszahlen.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes