Das unterscheidet Polen von seinen westlichen Nachbarn: dort sind – nicht selten überaus hitzige – Diskussionen über die Geschichte der Einwanderung, über die Konsequenzen des Kolonialismus und der Masseneinwanderung (beispielsweise in Deutschland der Masseneinwanderung von Gastarbeitern in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) und über die Einwanderungs- und Integrationspolitik des Staates an der Tagesordnung. Die Wähler in diesen Ländern berücksichtigen die Haltung politischer Lokalparteien in diesen Fragen, wenn sie alle paar Jahre ihre Stimme abgeben.
Sie kommen in eine Leere
Einwanderungspolitik bedeutet mehr als Vorschriften für die Vergabe von Visa, für die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufnahme zum Beispiel eines Studiums oder einer Arbeit in Polen, für eventuelle Privilegien, die aus einer Eheschließung mit einem Staatsbürger oder einer Staatsbürgerin Polens resultieren, usw. Diese grundlegenden Fragen werden in erster Linie von dem Ausländergesetz und der es begleitenden Verordnung geregelt. Es fehlt jedoch an einer Strategie bezüglich der Einwanderung, an einer umfassenden Vision für die Prioritäten und Erwartungen, die der polnische Staat bezüglich nach Polen einreisender Ausländern hat, und für die Bedingungen, die er an den Prozesses der Integration von Einwanderern in die Gesellschaft stellt.
Im Jahr 2012 wurde ein von der Ressortübergreifenden Arbeitsgruppe für Einwanderung im Außenministerium erarbeitetes Dokument veröffentlicht, in dem erstmals eine Vision für die Einwanderungs- und Integrationspolitik in der Republik Polen vorgestellt wurde: „Die Einwanderungspolitik Polens – aktueller Stand und erforderliche Maßnahmen“ (einsehbar in polnischer Sprache auf: [Link]). Für die Erarbeitung dieses Dokumentes haben sich NGOs engagiert, die sich seit Jahren für die Einwanderer, die nach Polen einreisen, einsetzen. Das Dokument wurde öffentlich konsultiert, derzeit warten wir auf die Ergebnisse der Konsultation.
Als besonders bittere Konsequenz der in Polen fehlenden Einwanderungs- und Integrationspolitik ist für den Integrationsprozess von Einwanderern in der polnischen Gesellschaft keine staatliche Unterstützung vorgesehen. Das Ausländergesetz und die es begleitende Verordnung definieren nicht umfassend Fragen wie Hilfs- oder Bildungsprogramme, die es den Menschen erleichtern sollen, sich persönlich zu entwickeln, sich in Polen einzuleben, Arbeit zu finden und sich aktiv in das gesellschaftliche und ökonomische Leben in Polen einzubringen.
Es fehlt auch an einem System, aus dem beispielsweise diejenigen Vorteile ziehen könnten, die berufliche Qualifikationen mitbringen, die auf dem Arbeitsmarkt in Polen gefragt sind, oder diejenigen, die aktiv ihre polnischen Sprachkenntnisse ausbauen. In Polen existiert lediglich das sogenannte „individuelle Integrationsprogramm“ für diejenigen, denen die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus zuerkannt wurde. Die Zahl dieser Personen ist jedoch im Verhältnis zu allen Einwanderern in Polen äußerst gering. So hatten beispielsweise laut statistischer Angaben der Ausländerbehörde im Jahr 2012 von 111.971, die eine gültige Aufenthaltserlaubnis besaßen, etwa 3.000 das Recht, vom „Individuellen Integrationsprogramm“ zu profitieren (die Daten sind einsehbar auf: [Link]).
Obwohl sich NGOs darum bemühen, die Einwanderer, die nach Polen kommen, beim Integrationsprozess zu unterstützen, bedeutet das Fehlen einer Einwanderungs- und Integrationspolitik, dass die Arbeit dieser Organisationen nicht koordiniert wird. Selbst wenn die Vertreter und Vertreterinnen solcher Organisationen gut zusammenarbeiten, wird ihre Arbeit als Organisation von öffentlichen Geldern finanziert, deren Verteilungsstrategie sich nicht nach einer schlüssigen Vision richtet, weder bezüglich der Bedürfnisse der Einwanderer noch des polnischen Staates.
Polen als Transitland?
Es heißt, die Einwanderung in Polen habe Transitcharakter. Das entspricht jedoch nicht ganz der Realität, denn diese Überzeugung kommt daher, dass in erster Linie das Verhalten der Flüchtlinge betrachtet wird. Die große Mehrheit der Personen, die sich um den Flüchtlingsstatus in Polen bemühen, ist tschetschenischer Nationalität, viele von ihnen haben Familie und Verwandte in anderen Ländern Europas, in deren Nähe sie sein wollen. Doch die Personen, die sich um den Flüchtlingsstatus bemühen, haben in der Regel keinen Einfluss darauf, welcher Staat der Europäischen Union ihren Asylantrag prüft. Das bedeutet, dass die Personen, deren Asylantrag in Polen geprüft wird, wegen illegaler Grenzüberschreitung festgehalten werden, indessen werden derartige Vorkommnisse publik gemacht und dominieren das Bild der Einwanderung in Polen.
Anders sieht die Situation bezüglich Arbeitsmigration aus. Bevor Polen der Europäischen Union beigetreten ist, galten für die Bürger und Bürgerinnen mancher Länder, unter anderem der Ukraine, Sonderbedingungen bezüglich der Einreise nach Polen und des Aufenthalts in Polen. Im Zuge von Polens EU-Beitritt am 1. Mai 2004 wurden Polens Grenzen zu den östlichen Nachbarn, die nicht EU-Mitglieder, sind verstärkt. Man schätzt, dass die größte Immigrantengruppe in Polen heute noch immer Personen bilden, die aus der Ukraine stammen, wobei es sich nicht nur um Personen handelt, deren eigentliches Ziel der Westen ist. Solche Einwanderer gibt es viele und sie sind in Polen nicht nur auf der Durchreise, sondern sie überschreiten regelmäßig die Grenzen Polens, um ihre Familie in dem Land, aus dem sie stammen, zu besuchen, und dann wieder nach Polen zurückzukehren, wo sie leben und arbeiten oder studieren.
Die Überzeugung, dass die Einwanderung in Polen Transitcharakter hat, kann dazu führen, dass die Notwendigkeit einer schlüssigen Strategie für die Einwanderungs- und Integrationspolitik nicht als dringend betrachtet wird. Dabei würde eine solche Strategie bedeuten, dass eine bedeutende Einwanderergruppe, die in Polen lebt, arbeitet, studiert und sich entwickeln will, in manchen Bereichen mit der Verbesserung ihrer Situation in Polen rechnen könnte. Für viele Polinnen und Polen wäre das im Übrigen ein Grund, stolz zu sein darauf, dass Polen immer vielfältiger wird.