Lautstark diskutieren wir über die Krise der politischen Führung, über die Wirtschaftskrise und die Krise der Eurozone. Dennoch sind nicht sie es, die unterm Strich die dramatischsten Folgen haben können. Zwei Krisen – die des europäischen Gedächtnisses und die der Legitimierung der Europäischen Union – können wesentlich bedeutsamer werden als die Rolle der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren.
In den Diskussionen zum Thema Zukunft des Euro vergessen wir recht häufig, dass die gemeinsame Währung im Vereinten Europa als ein Mittel zur Integration, und nicht als ihr Ziel, eingeführt wurde. Das Ziel der Integration war seit Anbeginn das Bedürfnis nach Garantie dafür, dass der deutsche Totalitarismus keine Chance hat, wiedergeboren zu werden. Mit anderen Worten: das Wesen der europäischen Integration und ihre stärkste Legitimation war Jahrzehnte lang die Angst vor der Vergangenheit.
In den europäischen Nationalstaaten, die trotz der Krise weiterhin demokratisch und relativ wohlhabend sind, ist das Gedächtnis heute zusammengeschrumpft auf ein Handvoll einfache Stereotypen. Ein Beispiel sind die Griechen, die beim Protest gegen den Besuch von Bundeskanzlerin Merkel in ihrem Land ihren stereotypen Vorstellungen der Deutschen als Nazis Raum gegeben haben, indem sie auf Transparenten Hackenkreuze und „Frau Merkel RAUS” gezeigt haben. Viele Menschen sagen, wenn sie hören, dass die Bundesrepublik entweder die Eurozone verlassen oder eine Vormachtstellung in der Europäischen Union übernehmen könnte: „Weder das eine noch das andere darf zugelassen werden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt schmerzlich, dass sowohl ein allzu starkes Deutschland, als auch ein Deutschland, das nicht in die europäische Zusammenarbeit eingebunden ist, für andere gefährlich werden kann.“ Dies hat nicht allzu viel zu tun mit der heutigen Realität, mit dem Zustand der deutschen Demokratie, dem Respekt für Frieden, und noch weniger mit der Einstellung der Deutschen selbst zu diesen Möglichkeiten.
Weil die Zahl der Zeugen, die sich an den braunen Totalitarismus, und derer, die sich an den roten Totalitarismus erinnern, immer kleiner wird, halten die neuen Generationen der Europäer die ursprüngliche europäische Legitimation nicht für überzeugend. Das gleiche lässt sich von den Minderheiten sagen, beispielsweise von der türkischen, oder der chinesischen, deren Vertreter – obwohl sie sich oft als Europäer empfinden – die Geschichte der Totalitarismen nicht als ihr eigenes Erbe empfinden. Die jungen Europäer hingegen – und darauf weist in den letzten Monaten Jürgen Habermas immer wieder hin, sind frustriert und fühlen sich von den politischen EU-Eliten verdrängt. Daher beispielsweise die Anti-ACTA- und die Occupy-Bewegung. Immer deutlicher ist zu sehen, dass sich die europäische Demokratie auf die Perspektive der Nationalstaaten beschränkt oder auf gut funktionierende, aber festgefahrene und bürokratische EU-Institutionen, angesichts derer beispielsweise Referenden den Eindruck machen, als wären sie den Bürgern als Sicherheitsventil hingeworfen.
Robert Dahl hat einmal gesagt, dass nationalübergreifende Institutionen meistenteils undemokratisch sind. Und auch, dass die Europäische Union lediglich der Versuch ist, für eine Übergangszeit eine Demokratie zu schaffen. Wohlgemerkt: Demokratie für eine Übergangszeit. Das heißt, dass diese Demokratie auf Zeit ist, dass sie per definitionem einem Wandel unterliegt. Im Jahr 1963 schrieb Robert Schuman über die Ziele der Europäischen Union folgendes: „Europa – das ist die Einführung einer allgemeinen Demokratie in der christlichen Bedeutung dieser Worte.“ Trotz dieser Vorboten Schumans ist Demokratie in der Europäischen Union ein Versprechen geblieben. Es ist so weit gekommen, dass sie ein Versprechen bleiben darf. Ganze Jahrzehnte lang war die Demokratie keine Legitimation Europas, es sei denn es ging um die Demokratie von Nationalstaaten.
Heute muss laut und deutlich gesagt werden, dass die Europäische Union neue Legitimationen braucht. Legitimationen, die in der Lage sind, die jungen Generationen einzubinden, sonst werden diejenigen, die diese Gemeinschaft aufgebaut und ein Land nach dem anderen in sie aufgenommen haben, niemanden haben, dem sie diese Macht weitergeben können.
Die neuen Legitimationen sollten sich vor allem durch drei Elemente auszeichnen. Erstens das Element einer gemeinsamen Erzählung. Eine, die gestattet, die derzeitigen Misserfolge einzubinden in eine Erzählung über die Entwicklung der europäischen Union, und die diese Misserfolge nicht für eine Niederlage hält. Die Europäische Union ist ein Organismus, der schon oft gehört hat, dass sein unausweichliches Ende bevorsteht. Heute, so wie all die Jahre seit der Existenz der EU, sind dies recht verbreitete Worte. Eine gemeinsame Erzählung würde eine Aussage über die Krise in einen umfassenderen Prozess der Entwicklung der Europäischen Union integrieren.
Das zweite Element wäre eine neue, föderalere Gestalt der EU, die nicht auf der Grundlage des Modells der Bundesrepublik Deutschland, und auch nicht der Vereinigten Staaten beruhen würde. Es wäre dies eine neue Form der Föderation, die auf der doppelten Staatsbürgerschaft des Nationalstaates, der weiter besteht und ein wichtiges Element unserer Identität ist, und des europäischen Staates bzw. der europäischen Föderation aufbauen würde.
Drittens ist der demokratische Bestandteil enorm wichtig. Es geht darum, außer den nationalen Volksabstimmungen, Abstimmungen auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Und weiter um die Ermöglichung der Teilnahme der Bürger am Entscheidungsprozess auf jeder seiner Etappen. Es gibt auch rein soziologische Tools, wie deliberative Umfragen oder andere Elemente der deliberativen Demokratie. Sie bestehen darin, dass Elemente der direkten Demokratie in das sehr repräsentative, sehr bürokratische, sehr steife System, das uns zur Verfügung steht, eingeführt werden.
Ohne eine solche neue Legitimation, wird das Interesse der kommenden Generationen der Europäischen Union nicht als abstraktes Projekt, sondern als realer Raum des guten Lebens, mit den Generationen, die die EU geschaffen haben, verschwinden. Wird der Wandel in diese Richtung nicht schon bald nach der Zivilisierung des Vereinten Europas beschleunigt, bleiben lediglich Scherben zurück, die im Höchstfall noch für die Archäologen der Zukunft interessant sein werden.