Sehr geehrte Damen und Herren,
über die europäische Integration, die auf Ökonomie und Politik basiert, über die Revolution der Bürger Europas, das gemeinsame kulturelle Gedächtnis, das auf der kritischen Herangehensweise an beide Totalitarismen basiert – über all das wurde schon viel geschrieben. Aber Integration auf der Grundlage von Energie? Das hat es noch nicht gegeben.
Wir sind Zeugen der Geburt dieser neuen Epoche. In Europa wird allgemein von einer unausweichlichen Erschöpfung der Kohle- und Erdölvorräte gesprochen, auf denen die Industrieära und die moderne Weltwirtschaft aufgebaut ist. Wissenschaftler unterstreichen die Rolle des Menschen im fortschreitenden Klimawandel.
Nehmen wir einmal Deutschland: Noch unter der Regierungskoalition von SPD und Grünen (1998-2005) sind dort Entscheidungen über die schrittweise Wende im Energiesektor, über „den Atomausstieg“ und die Vergrößerung der Anteile erneuerbarer Energien an der Gesamtstromerzeugung getroffen worden. Die Katastrophe in Fukushima hat diesen Prozess beschleunigt. Nach über einem Jahrzehnt seit dem Beginn dieses Programms und fast zwei Jahre, nachdem der fünfte Gang eingelegt wurde, scheint die deutsche Energiewende nicht nur durchführbar, sondern vor allem ist sie für alle ungewöhnlich inspirierend. Das Projekt, von dem man hätte meinen können, dass es weit in der Zukunft liegende Technologie betrifft, ist heute Thema in Medien, Cafés und Privatwohnungen von Köln bis Konstanz. Deutschland hat aus dem Energiewandel ein Projekt gemacht, das der Bedeutung des ersten Menschen auf dem Mond entspricht.
In vielen europäischen Ländern ruft die „neue Industrierevolution“ jedoch Angst hervor. In Polen wird sie eher als leichtfertiger, geradezu verrückter Plan der Deindustrialisierung gesehen, beinahe als ökonomischer Selbstmord. Kein Wunder, denn der Erfolg der Energiewende würde das aus ökonomischer und ökologischer Sicht ohnehin schwer zu begründende „übermütige“ Atomprojekt der Regierung Tusk infrage stellen.
Die erneuerbare Energien entwickeln sich auch an der Weichsel, aber irgendwie trotz und wider die Politik des Staates. Die Entscheidungen des Kabinetts von Donald Tusk werden immer wunderlicher und stehen immer deutlicher in Opposition zu den von der Regierung deklarierten Werten. Obwohl die rituelle Kritik an der Regierung Tusk heute fast zur allgemeinen Mode geworden ist, muss in diese Falle tiefergehend nachgefragt werden. Warum wird an einem legislativen Provisorium, dem sogenannten Little Energy Three-Pack, gearbeitet, während der Gesetzesentwurf zu erneuerbaren Energien zum wiederholten Mal beiseite gelegt wurde? Er enthält unter anderem von Deutschland inspirierte Lösungen, die es dem einzelnen Bürger ermöglichen sollen, „Prosument“ zu werden, also sowohl Konsument des Energienetzes als auch Erzeuger, und zwar mithilfe kleiner und sehr kleiner „Kraftwerke“ für erneuerbare (beispielsweise solare) Energien. Warum wurde dieses im Geiste durch und durch liberale Projekt abgewiesen, hätte es doch ermöglicht, die Ideale einer dezentralen und demokratischen Energiewirtschaft zu verwirklichen?
Die deutsche Energiewirtschaftsexpertin Claudia Kemfert stellt in einem Interview, das die heutige Ausgabe eröffnet, die harte These auf, dass uns vierzig Jahre Kampf um Strom bevorstehen. Was bedeutet das? Den Verzicht der Bundesrepublik auf die Atomenergie zugunsten erneuerbarer Energiequellen hält Kemfert für die zentrale Aufgabe der modernen Politik – und zwar als moralische Verantwortung für die Zivilisation. Doch was ist mit dem wachsenden Anteil der Kohlekraftwerke in der Bundesrepublik? Ist das eine Rückkehr in eine längst vergangene Epoche? Überzeugen Sie sich selbst.
Wir haben zwei Experten nach der Politik der polnischen Regierung gefragt: Wojciech Jakóbik und Grzegorz Wiśniewski. Zwei gegensätzlichere Analysen als die, die wir erhalten haben, wären wohl kaum möglich gewesen. Jakóbik lässt kein gutes Haar am deutschen Energiewendeprojekt. Die Bundesrepublik habe die Ideale des „Wandels von unten” zugunsten der Bürger verraten und führe stattdessen eine von oben auferlegte Transformation durch, argumentiert Jakóbik. Er verteidigt die Energiepolitik Polens und erklärt, warum er sie für eine rationale Politik hält, die auf Unabhängigkeit ausgerichtet ist.
Grzegorz Wiśniewski hingegen weist in erster Linie auf die fast vier Millionen „Bürgeranlagen” für erneuerbare Energiequellen in Deutschland hin. Polen trete seiner Meinung nach nicht in die Fußstapfen des Nachbarlandes, weil verschiedenste Lobbies gegen die Energiewende sind, beispielsweise die Energiekonzerne, obwohl es ihre Aufgabe wäre, die Energiepolitik des Staates umzusetzen, während der Staat die Ziele der Konzerne umsetze, so Wiśniewski. Er zeigt auch, warum seiner Meinung nach das Auseinanderdriften mit Deutschland in dieser Sphäre auf längere Sicht für Polen schädlich sein wird.
Wie sich die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft vom Ideal entfernen, beschreibt auch Jakub Patočka, der „Die tschechische Energiewende auf Schweijk’sche Art“ präsentiert, sprich die südlich der Sudeten aktuelle Korruptionsaffäre im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien. Im Bereich Energiepolitik teile der Eiserne Vorhang weiterhin Europa in zwei Hälften, so Patočka, und es sei wohl an der Zeit, sich endlich zu entscheiden, zu welcher Seite man gehören will.
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Das Thema der Woche gehört zu dem Zyklus, den die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Kultura Liberalna im Rahmen eines deutsch-polnischen Projektes über die Zukunft der Europäischen Union gemeinsam erarbeiten.
Zu folgenden Themen sind bereits Ausgaben erschienen: „Soll Deutschland sich für die Europäische Union aufopfern?“ mit Texten von Ivan Krastev, Clyde Prestowitz, Karolina Wigura und Gertrud Höhler; „Europa ist ein Club der gedemütigten Imperien“ das einzige Interview mit Peter Sloterdijk in den vergangenen Jahren für die polnische Presse; „Der Traum vom Wohlfahrtsstaat“ mit Texten von Wolfgang Streeck, Richard Sennett, Jack Saryusz-Wolski und Łukasz Pawłowski.
Schon bald erscheint eine neue Ausgabe!
Viel Freude bei der Lektüre!
Kacper Szulecki
Übersetzung: Antje Ritter-Jasińska.
Konzept dieser Ausgabe: Kacper Szulecki.
Mitarbeit: Jakub Krzeski.
Koordination seitens Kultura Liberalna: Ewa Serzysko.
Koordination seitens der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Monika Różalska.
Illustrationen: Przemysław Gast.