In Deutschland ist das Wissen über die Ukraine gering. Die Ukraine rückte erst mit der Orangen Revolution 2004/2005 ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Damals war es der Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der mit seinem Buch „Das letzte Territorium” der deutschen Öffentlichkeit die Augen öffnete. Doch bis heute ist das deutsche Ukraine-Bild von Ahnungslosigkeit und Zerrbildern geprägt. Dafür sind Defizite in Bildung und Medien verantwortlich. An den deutschen Universitäten gibt es 60 Professuren für osteuropäische Geschichte. Eine widmet sich unter anderem der ukrainischen Geschichte! Wenn es um ostmitteleuropäische Geschichte geht, steht Polen im Vordergrund. Als historiographischer Gegenstand befindet sich die Ukraine im Abseits. Dasselbe Bild bietet sich in der Slavistik. Ukrainische Sprache, Literatur und Kultur finden in Deutschland praktisch nicht statt! Ähnlich ist die Lage in den Medien. Das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen, die führenden Printmedien wie Der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Süddeutsche Zeitung haben Korrespondenten in Moskau und Warschau, aber keinen in Kiew.
Die prorussische Haltung eines Teils der deutschen Öffentlichkeit ist eine Mischung aus wirtschaftlichen Partikularinteressen, einem wachsenden Relativismus sowie einem verbreiteten Antiamerikanismus
Die Ukraine-Krise hat die schärfste öffentliche Polarisierung in Deutschland seit dem Jugoslawienkrieg ausgelöst. Auf der einen Seite steht eine eigentümliche „Unheilige Allianz” aus Wirtschaftsvertretern, alten Sozialdemokraten wie dem Ex-Kanzler Helmut Schmidt oder dem SPD-Vordenker Erhard Eppler sowie der Partei „Die Linke”, die den Umsturz in der Ukraine als Werk von „Nationalisten, Neonazis, Russophoben, Bandera-Anhänger und Antisemiten” diffamieren, die EU, die Nato und „den Westen” für die Ukraine-Krise verantwortlich machen und vor allem Verständnis für Russland verlangen. Eine Menschenrechtspartei wie Bündnis 90/Die Grünen, Teile der CDU sowie das Gros der Medien verstehen den Maidan dagegen als Fortsetzung der Revolutionen von 1989. Sie unterstreichen, dass die Ukrainer auf dem Maidan für ein Leben in Würde, Gleichheit und Selbstverantwortung, für bürgerliche Freiheiten, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit und gegen ein autoritäres, korruptes und kriminelles Regime gekämpft haben.
Die Diffamierung der Maidan-Proteste als rechtsradikal und antisemitisch spiegelt in einem erstaunlichen Maße die russischen Propaganda. Dass in Russland rechtsextremes Denken hoffähig geworden ist, rechtsradikale Vordenker wie Aleksandr Dugin, Sergej Kurginjan und Aleksandr Prochanov und offene Antisemiten wie Dmitrij Kisselov die öffentliche Debatte bestimmen und Putin ein autoritäres Regime konsolidiert hat, spielt für Lobbyorganisationen wie den Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft, das Deutsch-Russische Forum oder Die Linke keine Rolle. Die prorussische Haltung eines Teils der deutschen Öffentlichkeit ist eine Mischung aus der zynischen Verfolgung wirtschaftlicher Partikularinteressen, einem wachsenden Relativismus gegenüber der Geltung bürgerlicher Freiheitsrechte sowie aus einem verbreiteten Antiamerikanismus, der durch Praktiken wie die illegalen weltweiten NSA-Abhöraktivitäten neue Nahrung bekam.
Herrschaft eines unerklärten Krieges
Mit der Annexion der Krim durch Russland und der gewaltsamen Destabilisierung der Ostukraine hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland von der Ukraine auf Russland verlagert. Nun stehen wieder Fragen wie „Was sind die russischen Interessen?” oder „Was treibt Putin”? im Zentrum des Interesses. Wo ein „unerklärter Krieg” herrscht, ist für die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Probleme der Ukraine in den Medien kein Platz.
In seiner Fixierung auf die Großmacht Russland und seinem Unverständnis für die ukrainische National- und Freiheitsbewegung reproduziert Helmut Schmidt die Ignoranz, die er bereits gegenüber der Solidarność zeigte
Gleichzeitig zwingt der Anschluss der Krim an Russland sowie die Destabilisierung der Ostukraine die Große Koalition in Deutschland, ihre Russlandpolitik und damit auch ihre Osteuropapolitik zu überprüfen. Das gilt selbst für die Sozialdemokraten. In der Tradition der Ostpolitik von Willy Brandt stehend, waren sie neben der deutschen Wirtschaft die treibende politische Kraft, die sich für eine „strategische Partnerschaft” mit Russland, eine „Modernisierungspartnerschaft” und die Politik eines „Wandels durch Verflechtung” eingesetzt hatten. Dabei ignorierten sie innenpolitische Entwicklung in Russland seit Putins Amtsantritt 1999 weitgehend, der von Beginn an den Kurs hin zu weniger Demokratie, weniger Freiheit, weniger Rechtsstaatlichkeit einschlug. Heute müssen selbst die entschiedensten Verfechter der deutsch-russischen Annäherung wie etwa Außenminister Frank-Walter Steinmeier einräumen, dass diese Ansätze gescheitert sind. Die politische Elite des Putin-Regimes hat weder ein Interesse an Modernisierung, noch an Verflechtung mit Europa, geschweige denn an Demokratisierung. Denn all das würde ihre Machtbasis bedrohen. Insofern stellt das Jahr 2014 eine Zäsur dar!
Allerdings herrscht darüber unter den Sozialdemokraten und in der deutschen Öffentlichkeit keineswegs Konsens. Führende Sozialdemokraten von gestern wie Ex-Kanzler Helmut Schmidt verlangen Verständnis für die Sicherheits- und Stabilitätsinteressen Russlands und bezweifeln gar – im offenen Widerspruch zur ukrainischen Nationsbildung des 19. Jahrhunderts – die Existenz einer ukrainischen Nation. In seiner Fixierung auf die vermeintliche Großmacht Russland und seinem völligen Unverständnis für die ukrainische National- und Freiheitsbewegung reproduziert er die Ignoranz, die er bereits gegenüber der Solidarność zeigte, als er den Dialog mit Moskau der Solidarität mit der polnischen Arbeiter- und Freiheitsbewegung vorzog. Schmidts Position löst unter deutschen Intellektuellen nur noch Kopfschütteln aus. Doch daraus erwächst noch keine neue Russland- oder Osteuropa-Politik. Das Nachdenken, wie diese aussehen soll, hat gerade erst begonnen.