Karolina Wigura: Sind Sie von Obamas Auftritt auf dem Gipfeltreffen in Den Haag enttäuscht?
Roman Kuźniar: Ich bin sowohl enttäuscht von dem, was Obama gesagt hat, als auch von dem recht grotesken Verlauf der Debatte über die Krimfrage. Der diplomatische Marathon – die Zusammenkunft des Europarates und der G7 sowie der EU-USA-Gipfel – hat kaum Ergebnisse gebracht. Man kann getrost sagen, dass der Berg kreißte und eine Maus gebar. Ich will nicht ausschließen, dass diese Maus mit der Zeit wächst und in den kommenden Monaten bedrohlich wird. Jedoch befürchte ich eher, dass uns diese Maus abmagert – die jetzige Einstellung des Westens in Bezug auf Russlands Vorgehen wird schwächer werden.
Was steckt eigentlich hinter der Rede von der „Einheit des Westens“? Man hat oft den Eindruck, je energischer die Erklärungen von Politikern sind, desto weniger haben sie tatsächlich zu bieten.
Das Manifestieren von Einheit ist zum Ersatz für politische Aktivität geworden. Die Länder im Westen haben ihre Strategie, auf Zeit zu spielen und Aktivität vorzutäuschen, zur Perfektion getrieben. Wenn die führenden Staaten durchsetzungsfähiger wären, wenn ihre Regierungen wirklich Druck auf Russland ausüben würden, könnte sich die Situation in der Ukraine anders entwickeln.
Im Mittelpunkt der deutschen Medienaufmerksamkeit stand heute ein Interview mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. „Russia Today“ hat aus diesem Interview eine dem Kreml angenehme Stelle zitiert, in der Schmidt die Sanktionen gegen Russland kritisiert. Diese Strategie sei ein gefährliches Instrument, das ebenso gut dem Westen wie auch Russland schaden kann. Außerdem kritisiert Schmidt die Entscheidung, Russland aus den G8 auszuschließen, und ruft zum Dialog mit dem Kreml auf.
Tja, diese Worte kann man als traurige Bestätigung des Niedergangs eines Politikers nehmen, der seine gute Zeit in der Geschichte Deutschlands hatte. Schmidts Argumente sind vollkommen von der Realität losgelöst. Russland nimmt den Dialog nicht auf, weil es gar nicht reden will. Russland erwartet vom Westen, dass dieser sein Vorgehen akzeptiert. Ein Potenzial für einen Dialog hat es vielleicht zu Beginn der Krise gegeben, aber es hat sich schnell erschöpft. Mich persönlich hat es gewundert, dass man, trotz der harten Politik des Kremls, so lange versucht hat, mit ihm zu reden. Die russische Entschlossenheit hat in dieser Sache keine Zweifel gelassen. Die Sanktionen hingegen – in diesem nicht ernst zu nehmendem Ausmaß – verringern lediglich die Glaubwürdigkeit des Westens in den Augen Moskaus. Putin hat die EU und die USA herausgefordert, er hat die Ordnung der Zeit nach dem Kalten Krieg, die Russland schließlich mit geschaffen hat, gänzlich aufgebrochen. Jalta auf der Krim hat heute eine neue, düstere Bedeutung bekommen.
Obamas Auftritt hat den Eindruck hinterlassen, er fürchte sich, sich zur Krim-Frage direkt zu äußern.
Er hat das Thema überhaupt nicht aufgegriffen. Die diskrete Warnung vor weiteren Sanktionen kann man ebenso gut als stillschweigende Akzeptanz des Status quo verstehen. Schauen wir uns einmal die Unwirklichkeit dieser Rhetorik an: Indem für den Fall, dass Russland seine Aggression ausweitet, mit schmerzhaften Sanktionen gedroht wird, wurde das aktuelle Kräfteverhältnis auf der Krim strenggenommen bereits akzeptiert. In Obamas Rede fehlte mir die Erwägung von indirekten Sanktionen. Ratingagenturen, Währungskurse und die Verringerung von Investitionen sind zu schwache Instrumente, um wirklich etwas zu bewirken. Man sollte Russland gegenüber Sanktionen wie einst gegen das Apartheid-Regime von Südafrika anwenden.
Das Manifestieren von Einheit ist zum Ersatz für politische Aktivität geworden. Die Länder im Westen haben ihre Strategie, auf Zeit zu spielen und Aktivität vorzutäuschen, zur Perfektion getrieben
Aber ist es überhaupt möglich, erfolgreich ökonomischen Druck auf jemanden auszuüben, von dessen Rohstoffen wir abhängig sind? Ich denke hierbei natürlich an den Erdgas-Bedarf der EU.
Mit Sicherheit sind Geschäftslogik, wirtschaftliche Interessen und die Aufrechterhaltung des Wohlstandes Gründe für die unentschlossene Reaktion der EU auf Putins Schritt. Der Indolenz in Brüssel liegt ein recht ärgerlicher „Erklärungsmechanismus“ für das Vorgehen Russlands zugrunde. Es wird mit Russlands Komplexen erklärt, die mit dem Untergang der UdSSR und seiner Suche nach Entschädigungen für die „Demütigungen“ zusammenhängen, die das russische Volk erfahren haben soll. Das ist völliger Blödsinn! Ich habe den Eindruck, dass dahinter zumeist die Angst nicht nur vor dem Verlust der Energiesicherheit der EU steckt, sondern einfach vor der Abwanderung der russischen Klientel, deren finanzielle Operationen über das „to be or not to be” der Londoner City entscheiden.
Vielleicht sollte man Russland nicht mit weiteren diplomatischen Sanktionen belegen, sondern ihm lieber die Durchführung von Finanzoperationen auf dem EU-Gebiet erschweren?
Darauf werden sich die Britten nie einlassen. Außerdem erzeugt jede Intervention – ob im Energiesektor oder im Finanzsektor – ernste Konsequenzen auf beiden Seiten. Die Russen können uns beispielweise mit dem Erdgas erpressen, dann stellt die EU unter Schmerzen und Schwierigkeiten ihr System zur Versorgung mit Energierohstoffen um, was auf längere Sicht die Position Russlands schwächt. Aber dabei sollte man kein Risiko eingehen.
Welche anderen Institutionen in den internationalen Beziehungen könnten erfolgreich Einfluss auf die Entscheidungen des Kremls bezüglich der Ukraine nehmen? Der Europarat?
Der Europarat wird traditionell eine prorussische Haltung einnehmen, weil Russland zu ihm gehört. Die Bedeutung dieser Institution wird nach und nach geringer. Heute tritt in Straßburg niemand mehr so entschlossen auf, wie vor 75 Jahren in Genf, als Russland aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde. Die politische Kultur hat sich zusammen mit dem Kräfteverhältnis in Europa verändert. Die meisten Vorwürfe kann man der OSZE machen, weil sie in Bezug auf Russlands Vorgehen die größten Kompetenzen hat. Sie hätte blitzartig auf diese Situation reagieren müssen, aber das hat sie nicht getan.
Die Sanktionen gegen Russland in diesem nicht ernst zu nehmendem Ausmaß verringern lediglich die Glaubwürdigkeit des Westens in den Augen Moskaus.
Ich habe den Eindruck, dass die politische Kultur des Westens, die sich – zumindest offiziell – auf den Menschen- und Bürgerrechten begründet, uns selbst in gewissem Maße verführt hat. Viele Politiker in Brüssel glauben an die Möglichkeit einer allgemeinen Akzeptanz politischer Wahrheiten. Sie denken naiv nach folgendem Schema: „Wenn jemand einen internationalen Vertrag gebrochen hat, hat er das vielleicht aus Versehen getan, ist über das Ziel hinausgeschossen, und jetzt genügt es, Einheit und Ruhe zu demonstrieren, und alles renkt sich wieder ein.“
In Straßburg und in Brüssel herrscht der optimistische Glaube an den osmotischen Effekt der europäischen Idee. Das heißt, dass diese Werte zu Russland durchsickern und es verändern werden. Die Entwicklung der Vorfälle an der EU-Grenze weist jedoch darauf hin, dass diese Diffusion begrenzt ist. Die Realpolitik in Russland läuft nach anderen, logisch schlüssigen Kriterien und Kalkulationen.
Leszek Kołakowski schrieb, dass die Kraft des Westens in dem Bewusstsein über seine eigenen Schwächen und der Fähigkeit, aus ihnen Konsequenzen zu ziehen, besteht. Putin hingegen weiß, mit unseren Schuldgefühlen hinsichtlich unserer eigenen Vergangenheit zu spielen.
Das stimmt. Obama hat in Den Haag gesagt, dass Russlands Verhalten nicht aus seiner Kraft herrührt, sondern aus seiner Schwäche. Schließlich ist heute der Westen in jeder Hinsicht stärker als Russland, ausgenommen vielleicht die Sphäre der Mentalität, ausgenommen die außerordentliche Geistigkeit und das Talent zur Mobilisierung angesichts einer äußeren Bedrohung. Beunruhigend finde ich, dass wir im Bewusstsein über unsere Kraft, aber auch über unsere Sünden der Vergangenheit und voller Verständnis für die Demütigungen Russlands in Kauf nehmen, dass es die politische Ordnung Europas verletzt. Das ist nicht das erste Mal. Wir haben Georgien und Tschetschenien vergessen, und bald werden wir an Transnistrien denken müssen. Leider bleibt die EU bezüglich der Sicherheit ein Gebilde, das schwerfällig, formlos und unfähig ist, sich eindeutig zu verhalten und politische Schachzüge von Subjekten außerhalb seiner selbst vorauszusehen.
Der Abneigung der EU gegen entschlossene Schritte kann die Angst vor der Abwanderung der russischen Klientel zugrunde liegen, deren finanzielle Operationen über das „to be or not to be” der Londoner City entscheiden.
Polen betreibt aufgrund seiner Zugehörigkeit zum euroatlantischen Bündnis seine Ostpolitik im Einvernehmen mit Brüssel und Berlin. Worin sollte, im Hinblick auf das, was Sie vorhin über die Sicherheitspolitik gesagt haben, unsere Priorität in den Beziehungen zur Ukraine und zu Russland bestehen? Was würden Sie dem polnischen Präsidenten raten?
Die Festigung der Sicherheit in der EU sollte verbunden sein mit der Erweiterung der Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der strukturellen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten. Gemeint sind hier Staaten wie Polen, Deutschland, Frankreich, Holland oder Spanien, die bereit sind, in diese Richtung zu gehen. Die unbeholfenen Versuche, in der gesamten EU Entschlossenheit aufzubauen, bringen hier nichts. Die EU ist innenpolitisch ein dermaßen differenzierter Organismus, dass eine Einheit aller 28 Staaten schwer zu erreichen ist. Die letzten Ereignisse in der Ukraine zeigen, dass die EU als Ganzes sich der Verantwortung für die Sicherheit in ihrem Umkreis nicht entziehen kann. Beispielhaft war Polen, das sich in der Ukraine-Krise aus einer europäischen Position heraus engagiert hat, womit es gleichzeitig seine Rolle als wertvoller Partner für Brüssel und Berlin gestärkt hat.
Deutsch von Antje Ritter-Jasińska