Welche Gruppen als Minderheiten angesehen werden, durch welche Kriterien ihre Mitglieder definiert und auf welche Weise diese geschützt werden, hängt von den Eigenschaften einer Gesellschaft ab. Daher kann der Schutz von Minderheiten – seien es rassische, ethnische oder nationale – viele unterschiedliche Ziele haben, vom Einsatz für gesellschaftsökonomische Gleichheit über die Sicherstellung von Religionsfreiheit bis hin zum Schutz von potenziellen Opfern brutaler ethnischer Auseinandersetzungen. Aus diesem Grund können auch die Gesetze zum Schutz von Minderheiten verschiedene Formen annehmen: von der affirmative action (positiven Diskriminierung) und der Sicherstellung religiöser und politischer Freiheit der gegebenen Gruppen über die Festlegung kultureller oder politischer Autonomie bis hin zur Überwachung extremistischer Gruppen.
Die Besonderheit Mittel- und Osteuropas beim Umgang mit Minderheiten ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Erstens konzentriert sich der Schutz gewöhnlich auf die traditionellen (nationalen) Minderheiten, besonders in Staaten, die selbst eine große Diaspora in ihren Nachbarländern haben. Zweitens erweisen sich die von der Europäischen Union erlassenen Antidiskriminierungsvorgaben in vielen Fällen als inadäquat oder schlecht konstruiert und bieten keine Handhabe gegen die fest verankerten, für den jeweiligen Staat charakteristischen Formen der institutionellen Diskriminierung. Und drittens sind – da es sich weder um eine wohlhabende noch gesellschaftlich oder kulturell besonders inklusive Region handelt – die neuen, nach dem Fall des Kommunismus hinzugekommenen Immigrantengruppen eher klein und haben die ebenfalls eher geringe Fähigkeit, politischen Druck auszuüben.
Die „traditionellen” und die neuen Fremden
Nehmen wir zum Beispiel Ungarn, ein Land, das – auch wenn die Länder Mittel- und Osteuropas noch weit entfernt sind von einer Homogenität der Institutionen, Gesetze und Einwanderungspolitik – viel über die Region als solche aussagt. Das Minderheitenschutzgesetz wurde in Ungarn sehr früh eingeführt: 1993, fast sofort nach dem Fall des Kommunismus. Es wurde darin die weit gefasste kulturelle und politische Autonomie von 13 „traditionellen“ Minderheitengruppen festgestellt: 11 nationalen sowie 2 ethnischen (einer winzigen, aus ca. 3000 Personen bestehenden ruthenischen und einer großen Roma-Minderheit, die offiziellen Daten zufolge etwa 3% der Gesellschaft bildet, in Wirklichkeit aber über dreimal so zahlreich sein könnte).
Eine große kulturelle Autonomie, die den Erhalt der Sprache, staatlich geförderten Unterricht in der Sprache der Minderheiten und sogar eine Minderheitenselbstverwaltung umfasst (hier ist die ungarische Lösung einzigartig und wird von vielen als möglicherweise international übertragbar angesehen), befriedigt gut die Bedürfnisse folgender klassischer Minderheiten: der deutschen, kroatischen, slowakischen, rumänischen oder polnischen. Hier muss allerdings hervorgehoben werden, dass viele Vertreter dieser Gruppen aufgrund der komplizierten Geschichte des 20. Jahrhunderts das ungarische Territorium verlassen oder aber sich assimiliert bzw. eine doppelte nationale Identität herausgebildet haben.
So sehr die den Minderheiten zugestandenen Rechte eine hervorragende diplomatische Verhandlungsgrundlage mit anderen Ländern darstellen, in denen eine ungarische Minderheit Anerkennung fordert, so wenig beziehen sie die Roma-Gesellschaft mit ein. Und damit sind die tatsächlichen Probleme der größten Minderheit nicht gelöst, denn deren Bedürfnisse gehen infolge der gesellschaftlichen Ausgrenzung weit über Fragen der Kultur hinaus.
Wenn Segregation von staatlichen Institutionen gerechtfertigt wird
Die institutionelle Diskriminierung tritt nicht nur in den traditionellen Formen auf, sondern kann auch für einen bestimmten Staat ungewöhnliche Formen annehmen, die nicht nur entsprechend angepasste Lösungen erforderlich machen, sondern auch viel über den jeweiligen Staat aussagen. Um institutionelle Diskriminierung handelt es sich dann, wenn rechtliche Entscheidungen, die einzelne Individuen betreffen – wie zum Beispiel die Zuteilung von Kindern in Schulklassen „mit besonderem Förderbedarf“ oder auch polizeiliche Stichprobenkontrollen von Personen – sich überproportional auf eine gesellschaftliche Gruppe konzentrieren.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrmals befunden, die tschechische, die slowakische und die ungarische Regierung betrieben im öffentlichen Bildungssystem eine unrechtmäßige, diskriminierende Segregation. In Ungarn wird manchmal sogar das Bildungssystem für die Roma, das ursprünglich zum Schutz ihrer Kultur eingeführt wurde, dazu benutzt, um Segregation zu verdecken und zu rechtfertigen. Des Lesens und Schreibens unkundige Roma werden von Schuldirektoren dazu gebracht, Anträge für einen besonderen Roma-Schulunterricht für ihre Kinder zu unterzeichnen. Als Resultat wird diesen Kindern einmal wöchentlich qualitativ minderwertiger Volkskunde-Unterricht erteilt, und den Rest der Zeit sitzen sie in separaten Klassen, wo die Lernbedingungen um einiges schlechter sind.
Der Kampf gegen Vorurteile bei der Polizei ist ebenso schwierig – nicht nur, weil die Polizei laut Datenschutzgesetz keine Angaben zur ethnischen Abstammung der Kontrollierten machen darf, sondern auch, weil in einer so tief von Vorurteilen geprägten Gesellschaft wie der ungarischen selbst der Hinweis auf die niedrige Effektivität von Stichprobenkontrollen nicht als überzeugendes Argument angesehen würde. Leider weckt in Ungarn eine menschenrechtsorientierte Sprache nur Verachtung und ist politischer Selbstmord. In einem Land, in dem der Begriff der „Roma-Kriminalität“ (der kriminelles Verhalten mit Ethnizität verknüpft) das Mantra nicht nur der radikalen Rechten, sondern auch Teil des alltäglichen politischen Diskurses ist, werden die Steuerzahler diskriminierende Handlungen der Polizei immer für nutzbringend und effektiv halten.