In Ihrem allseits kommentierten Artikel „Welcome to Cold War II”, der in „Foreign Policy” veröffentlicht wurde, haben Sie geschrieben: „Die Entwicklungen in der Ukraine haben ein Vierteljahrhundert der Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Kalten Krieges endgültig abgeschlossen. Die Zeit nach dem Kalten Krieg könnte zur Zeit zwischen den Kalten Kriegen werden.“ Halten Sie diese Behauptung wenige Wochen, nachdem der Text veröffentlicht wurde, aufrecht?
Ja, und die Ereignisse der vergangenen vier Wochen haben weitere Informationen geliefert, die diese These untermauern. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Zeitabschnitt, in den wir nun eintreten, sehr an die Zeit des ersten Kalten Krieges erinnern wird. Dennoch hat sich der Schwerpunkt zwischen Zusammenarbeit und Rivalität in der internationalen Arena deutlich in Richtung Rivalität verschoben.
Sie sprechen von einen neuen Kalten Krieg, erwähnen aber eine Reihe von Kriterien, durch die dieser sich von dem ersten Kalten Krieg unterscheiden wird. Sie weisen darauf hin, dass Russland durch die Sanktionen des Westens gezwungen sein wird, in die Zusammenarbeit mit China zu intensivieren. In dieser Konstellation wird China der stärkere Partner sein. Sie betonen, dass im Gegensatz zur UdSSR-Zeit Moskau keine Ideologie mit globaler Reichweite präsentiert. Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen sei nicht der wichtigste globale Konflikt der kommenden Jahre. In welchem Sinne also soll der kommende Zeitabschnitt an den Kalten Krieg erinnern? Ist dieser Begriff nicht verwirrend?
Vielleicht. Ich bestehe nicht auf diesen Begriff. Ich bin jedoch der Meinung, dass der Hauptgedanke, den ich vermitteln wollte, weiterhin richtig ist: nach einer Zeit der Partnerschaft, die schrittweise immer schwieriger wurde, sind wir in einer neuen Zeit angekommen, in der unsere gegenseitigen Beziehungen von Rivalität dominiert sind. Russland wird immer aktiver versuchen, die globale Ordnung, die im großen Maße auf den Vereinigten Staaten aufgebaut ist, aufzubrechen. Seit dem Untergang der UdSSR hat die Regierung in Moskau nichts dergleichen getan. Das ist das zentrale Element, das mich dazu bringt, von dem Anbruch einer neuen Epoche zu sprechen.
Der Konkurrenzkampf wird sich verschärfen, und zwar in verschiedenen Bereichen, nicht nur in der Geopolitik. Eine ebenso wichtige Rolle werden wirtschaftliche Fragen spielen. Die Sanktionen, die Russland bereits auferlegt wurden, und die, die ihm in der Zukunft auferlegt werden, sind eine ernsthafte
Herausforderung für die russische Wirtschaft. Die Regierung in Moskau wird nicht nur eine Strategie zum Überleben entwickeln müssen, sondern auch für die Entwicklung der Wirtschaft, und das angesichts der starken Konkurrenz seitens der USA. Bisher ist es keinem Land gelungen, sich zu modernisieren und gleichzeitig ein feindseliges Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zu haben.
Russland wird immer aktiver versuchen, die globale Ordnung, die im großen Maße auf den Vereinigten Staaten aufgebaut ist, aufzubrechen. Seit dem Untergang der UdSSR hat die Regierung in Moskau nichts dergleichen getan.
Der Konflikt in der Ukraine war der Funke, der diese Veränderungen in den internationalen Beziehungen ausgelöst hat. Aber war das, was in Kiew vor sich gegangen ist, tatsächlich der Grund für Russlands Vorgehen, oder lediglich ein Vorwand, hinter dem ganz andere Gründe stecken?
Ich glaube nicht, dass das ein Vorwand war. Im Zuge der Ereignisse in der Ukraine haben beide Seiten – sowohl Russland als auch der Westen – bestimmte Grenzen überschritten, die die gegnerische Seite festgelegt hatte. Der Westen hat aus Moskaus Sicht die Grenze überschritten, als er sich in der Innenpolitik der Ukraine deutlich für eine Seite engagiert hat. Russland hingegen hat sich in den Augen des Westens zu weit hervorgewagt, als es seine Armee auf die Krim geschickt hat.
Hat das Engagement des Westens die Antwort Moskaus provoziert? Manche Analytiker sind der Meinung, dass Russland vor dem Bankrott steht. Deren Ansicht nach sollte die Besatzung der Krim von dem schlechten Zustand der russischen Wirtschaft ablenken und gesellschaftliche Unterstützung für Präsident Putin bringen.
Meiner Meinung nach ist das eine falsche Erklärung. Russland steht nicht vor dem Bankrott. Gut, seine wirtschaftliche Entwicklung ist langsamer geworden, ist beinahe stagniert, aber die Währungsreserven sind noch immer beutend, und die Verschuldung verhältnismäßig gering. Die Annexion der Krim war keine „Flucht nach vorn“ vor ökonomischen Schwierigkeiten. Meiner Meinung nach hat Putin in den Ereignissen in Kiew tatsächlich eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands gesehen. Aber durch dieses Vorgehen hat Russland begonnen, die geopolitische Ordnung nach dem Kalten Krieg aufzubrechen. Alle – Präsident Putin eingeschlossen – sind sich darüber im Klaren, dass das, was passiert ist, für Russland sehr riskant ist.
Diese riskante Veränderung sollte gestützt werden von einer starken und stabilen Wirtschaft. Unterdessen hören wir nicht erst seit heute, dass die russische Wirtschaft überholt und wenig innovativ ist und vor allem auf dem Export von Rohstoffen basiert.
Das stimmt. Das russische Wirtschaftsmodell hat keine Zukunft und muss geändert werden.
Sie schreiben, dass sich Russland schon in Richtung Fernen Osten wendet – in Richtung China, aber auch Japan und Korea. Diese Neuorientierung vollzieht sich jedoch nicht von einem Tag auf den anderen. Was kann Russland noch tun?
Das langfristige Ziel sollte eine Reformierung der Wirtschaft sein, die sie unabhängig macht vom Erdgas- und Erdölsektor. Russland muss seinen Industriesektor entwickeln und wieder zu produzieren beginnen. Unerlässlich ist die Förderung des Wissenschaftssektors und der kleinen und mittleren Unternehmen, die sich heute aufgrund von monopolistischen Praktiken der größten Betriebe nicht entwickeln können. Ich bezweifle nicht, dass das Wirtschaftsmodell, das seit dem Untergang der UdSSR in Russland herrscht, geändert werden muss. Oft ist für die Auslösung so grundsätzlicher Veränderungen eine gewaltige Erschütterung notwendig. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Ereignisse in der Ukraine diese gewaltige Erschütterung sein werden.
Bildet das aktuelle Wirtschaftsmodell nicht die Grundlagen für das politische Modell, das von Präsident Putin geschaffen wurde? Ist eine radikale Umstellung der russischen Wirtschaft überhaupt möglich?
Man sagt, dass man das Richtige tut, wenn man keinen anderen Ausweg mehr hat. Ich hab den Eindruck, dass Russland in eine Lage geraten ist, in der es keine anderen Alternativen als Reformen gibt. Bisher hat sich die russische Wirtschaft in einem guten Tempo entwickelt und der durchschnittliche Lebensstandard ist gestiegen. Das BIP per capita gemessen in Kaufkraftparität in Russland hat bereits 70 Prozent des Durchschnittes in der Europäischen Union erreicht. Das ist außergewöhnlich! Nie ging es den Russen so gut wie derzeit, aber das bisherige Entwicklungsmodell ist nicht aufrecht zu erhalten. Europa wird nach Diversifikation der Lieferungen streben und seine Abhängigkeit von Russland wird sich verringern.
Sind Sie der Meinung, dass die wirtschaftlichen Veränderungen, von denen Sie sprechen, auch politische Konsequenzen haben werden?
Das russische System muss sich so ändern, dass die Menschen, die das Staatsvermögen erzeugen – ich denke an die Unternehmer und Investoren – mehr zu sagen haben hinsichtlich der Frage, wie der Staat verwaltet wird. Kein modernes Land im 21. Jahrhundert kann von einer einzigen Person verwaltet werden, in Russland aber ist es so – über alle wichtigen Fragen entscheidet Präsident Putin. Das hat natürlich gewisse Vorteile – die Entscheidungen fallen schneller, es kommt nicht zum Clinch zwischen verschiedenen Ebenen in den Behörden. Aber es hat auch gewaltige Nachteile. Das System muss sich von unten demokratisieren und gleichzeitig ganz oben mehr Pluralismus zulassen. Die wirtschaftlichen Eliten müssen mehr zu sagen haben und mehr Verantwortung übernehmen. Ein solches politisches System lässt sich mit einem Wort beschreiben: eine Republik.
Wenn ich Sie richtig verstehe, sind sie der Meinung, dass die Annexion der Krim, die für viele Analytiker eine Machtdemonstration von Präsident Putin war, auf längere Sicht zur Schwächung seiner Macht führen wird?
Alles verändert sich und wenn Putin keine Möglichkeit findet, ein stabileres politisches System zu schaffen, wird er nicht in der Lage sein, seine politischen Ziele zu erreichen, sprich er macht Russland nicht zu einem starken und modernen Staat.
Man sagt, dass man das Richtige tut, wenn man keinen anderen Ausweg mehr hat. Ich hab den Eindruck, dass Russland in eine Lage geraten ist, in der es keine anderen Alternativen als Reformen gibt.
Was passiert, wenn die Reformen, von denen Sie sprechen, nicht durchgeführt werden?
Das Risiko ist hoch. Wenn Russland sich in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nicht grundsätzlich reformiert, verliert es den Konkurrenzkampf gegen andere Länder, was in Folge zum Untergang des Staates und zu seinem Zerfall führen kann.
Im Westen wird Präsident Putin als mächtiger Politiker dargestellt, der sich sowohl in der politischen Elite als auch unter normalen Russen großer Beliebtheit erfreut. Stimmt dieses Bild? Hat Putin in Russland keine ernsthaften Gegner mehr?
Das Problem Russlands besteht darin, dass der gesamte Staat in hohem Maße von der Macht Putins und seiner Beliebtheit abhängt. Hier geht es nicht nur darum, dass Putin zu viel Macht hat, sondern dass, wenn ihm irgendetwas passiert, das gesamte System gefährdet ist.
Innerhalb der Elite sehe ich niemanden, der der Position des Präsidenten gefährlich werden könnte. Die Mehrheit der ihn umgebenden Leute sind keine Politiker, sondern Bürokraten – zuweilen recht geschickte, die jedoch keinerlei Unterstützung in der Bevölkerung haben. Putin hat schon immer gewusst, wie man enge Beziehungen zu den normalen Russen aufbaut.
Wenn die Fähigkeit, solide Unterstützung in der Bevölkerung zu finden, Putins größte Stärke ist – was ist dann seine größte Schwäche?
Ich sehe nicht viele persönliche Schwächen, aber ich nehme die Schwäche des Systems wahr, in dem die Position des Präsidenten einfach zu stark ist. Wenn er aus irgendwelchen Gründen der Fähigkeit beraubt wird, seinen Pflichten nachzukommen, ist die gesamte Ordnung gefährdet.
Sollte sich der Präsident einen Nachfolger suchen?
Eher das System ändern, indem er Institutionen schafft, die einen Teil der Macht und der Verantwortung übernehmen würden. Putins Nachfolger sollte kein neuer Medwedew sein, sondern eine starke russische Republik. Ob der Präsident seine Aufgabe so wahrnimmt, weiß ich nicht.
Vladislav Inozemtsev hat gesagt, dass Putin Russland in den kommenden zwei Jahrzehnten weiter so regieren will wie bisher, und dass es ihn wenig interessiert, was danach kommt.
Meiner Meinung nach ist Putin ein rationaler Mensch, der sich darüber im Klaren ist, dass er nicht ewig an der Macht sein wird. Ich denke, dass er eine bestimmte Vision für Russland hat und es ihm nicht gleichgültig ist, was mit diesem Land nach seinem Abgang passiert. Wenn das stimmt, wäre sowohl Putin als auch Russland in einer günstigeren Lage, wenn ein System von republikanischen Institutionen geschaffen würde, statt die „Zarenpräsidentschaft“ aufrecht zu erhalten.
Wird Russland eine Republik?
Irgendwann ja, denn die Russen sind keine besondere Menschengattung, die sich von anderen unterscheiden. Aber es kann ein bisschen länger dauern. Es ist nicht ausgeschlossen, das sich ein übermäßiger Optimist bin, wenn ich sage, dass Putin Russland in die Richtung reformieren wird, die ich hier erläutert habe. Vielleicht wird erst Putins Nachfolger dazu gezwungen sein, schon allein weil er nicht über so große Macht verfügen und sich nicht solcher Beliebtheit erfreuen wird. Das System der „Zarenpräsidentschaft“ wird letztendlich zu einer Herrschaft des Rechts. Leider kann das noch eine Weile dauern.
Vieles hängt davon ab, ob dieser neue Kalte Krieg, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, nicht zu einem heißen Krieg wird.
Das hoffe ich nicht, obwohl die Situation in der Ukraine weiterhin unsicher ist und ein offener Konflikt nicht ausgeschlossen ist. Er kann verhindert werden, aber dafür müssen alle die Verantwortung übernehmen – die Russen, die Amerikaner und die Europäer, insbesondere die Polen und natürlich die Ukrainer selbst.
Deutsch von Antje Ritter-Jasińska