Special Reports / Wer hat heute Angst vor den Roma?

“Race zutiefst kriminell.” Die Geschichte von dem Bild der Roma in Europa

Karolina Wigura · 24 June 2014
Die Anti-Roma-Rhetorik ist in den letzten Jahren zu einem überparteilichen Phänomen geworden, das sich von der politischen Rechten bis zur Linken spannt. Aber die Roma-Politik verläuft im vereinten Europa schon seit Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten in diskriminierenden Bahnen.

Vor einem Monat schrieb Wrocławs Stadträtin Wanda Ziembicka eine Interpellation an den Stadtpräsidenten, in der es um die Erweiterung einer unhygienischen Siedlung um einige neue Hütten ging. Sie betonte ihr Entsetzen über eine Situation, in der die Roma sich straffrei fühlten. „Könnte man diese Siedlung nicht mit einem Zaun abgrenzen?”, fragten die schlesischen Kommunalpolitiker. Ihr Urteil zeugte jedoch nicht von politischer Rückständigkeit – ganz im Gegenteil! Beispiele für eine solche Anti-Roma-Rhetorik lassen sich in den unterschiedlichsten europäischen Ländern finden.

„In den Nachbardörfern nehmen schwangere Romafrauen vorsätzlich Tabletten ein und schlagen sich mit Gummihämmern in den Bauch, um behinderte Kinder zur Welt zu bringen und so eine höhere Familienbeihilfe zu erhalten“. Dieser Satz von Oszkár Molnár, Bürgermeister der ungarischen Kleinstadt Edelény, fiel auf einer offiziellen Stadtratssitzung im Jahr 2009.

Werfen wir nun einen Blick auf das Land an der Loire. „Der Grund für dieses Problem, d. h. das Problem der freien Bewegung dieser noch nie akzeptierten und unter miserablen Bedingungen lebenden Population [der Roma; Anm. KW], ist, dass die Europäische Union keine Regelung verabschiedet hat, derzufolge diese Menschen dort bleiben würden, wo sie hingehören: in Rumänien.“ Das sind die Worte des derzeitigen französischen Präsidenten François Hollande, ausgesprochen während der Wahlkampfperiode 2012.

Dieser Wandel geht jedoch nicht nur in der Sphäre politischer Rhetorik vonstatten: Den Worten folgen politische Schachzüge. Die Situation der Roma hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verändert.

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Angefangen bei der Räumung von Romasiedlungen in Frankreich und der Auszahlung von Geldern an die Bewohner, damit diese nach Rumänien zurückkehrten (wofür Kritiker den Satz „Roma bezahlen, damit sie Roma bleiben“ prägten), bis hin zur Diskriminierung dieses Bevölkerungsteils in Tschechien, Ungarn und der Slowakei, wo z. B. Romakinder – wegen ihrer den Beamten zufolge nicht ausreichenden Sprachkenntnisse – in Sonderschulen geschickt werden, die sich hinterlistig „praktische Schulen“ nennen. Auch wurden Fälle von Zwangssterilisation bei Romafrauen beschrieben.

Deportationen und Voyeurismus

Nach dem Fall des Kommunismus suchten zehntausende Roma, vor allem aus Bulgarien, Rumänien und Ex-Jugoslawien, wegen des hohen Lebensstandards und der relativ liberalen Einwanderungspolitik Asyl in Deutschland. Anfangs hielt Deutschland sie an der Grenze zu Polen auf. Im September 1992 handelte das deutsche Außenministerium mit der Regierung Rumäniens aus, dass die Roma dorthin zurückgeschickt werden sollten. Für das Reintegrationsprogramm wurden 20 Millionen Dollar bereitgestellt.

Deutschland war nicht der einzige europäische Staat, der Roma deportierte. Aufgrund der Erinnerung an den Porajmos (die Bezeichnung der Roma und Sinti für den Holocaust) und der Ereignisse direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als die BRD den wenigen überlebenden deutschen Sinti und Roma, die versuchten, in ihre Häuser zurückzukehren, das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft absprach, stießen die Entscheidungen aus Bonn jedoch auf schärfste Kritik. An Beispielen für Deportationen mangelt es auch in anderen Ländern der Region nicht. Über 1000 Roma aus Polen suchten nach dem Pogrom von Mława 1991 Asyl in der Schweiz. Alle wurden deportiert. Die Tschechen wiesen Roma, die keinen festen Wohnsitz nachweisen konnten, in die Slowakei aus.

Nun könnte jemand sagen (und nicht ganz zu Unrecht), dass Gemeinschaften – wie die deutsche, französische, polnische oder, weiter gefasst, die europäische – schließlich das Recht hätten, ihre Kultur zu verteidigen. Dass niemand in der Nachbarschaft der informellen Romasiedlung von Wrocław wohnen wollen würde, oder neben der Wohnblock-Siedlung Luník IX in Košice, deren Google-Fotos zum Internethit avancierten und mit schaudernd-voyeuristischen Kommentare bedacht wurden. Kaum zu bestreiten, dass das Recht des Einzelnen und der Gesellschaft auf ein „Leben nach eigener Fasson“ keinen Mangel an Achtung vor gemeinsamen Regeln bedeuten kann…

Im Fall der Roma darf man es jedoch nicht bei dieser Feststellung bewenden lassen, ist ihr Verhalten doch tief mit der jahrhundertealten Tradition der Diskriminierung und der Xenophobie der Europäer „Fremden“ gegenüber verflochten.

Reifes Gesellschaftsdenken sollte die mit einbeziehen, die von jahrelangem Unrecht betroffen waren. Sie nicht zu bedenken bedeutet, ihnen das Recht auf Würde abzusprechen.

Karolina Wigura

Islamische Spione

Von Anfang ihrer Anwesenheit in Europa an bescherte ihre unklare Herkunft den Roma zweifelhaften Ruhm. Es wurde behauptet, sie seien Anhänger des Islam; man hielt sie für türkische Spione. Den Roma wird vorgeworfen, ein Nomadenleben zu führen, obwohl nur wenigen der Grund für dieses Phänomen bekannt ist. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts besaß der Großteil der Roma, die zur damaligen Zeit an der unteren Donau lebten, keine persönliche Freiheit. Ist das nicht ein Schlag für das kollektive Bewusstsein Europas, das die Sklaverei nach außerhalb der eigenen Zivilisationsgrenzen verlegt hatte?

Erst nach einer Rechtsänderung nahmen die Migrationswellen der Roma ihren Anfang. Sie versuchten, in den verschiedensten Teilen Europas einen anderen Ort zum Leben zu finden – überzeugt, dass das Freilassungsdekret nur eine Laune eines der Herrscher sein konnte. Meistens wurde ihnen jedoch verboten, an einem Ort zu verbleiben. In einigen Teilen des Deutschen Kaiserreichs erwartete die Roma automatisch die Todesstrafe, und den Romni wurden die Ohren abgeschnitten. Bekannt sind auch Jagden auf Roma – wie Tierjagden, als Sport. Eine „Zigeunerfrau und ihr Junges“ verzeichnete ein rheinischer Aristokrat auf seiner Trophäenliste.

Wie ist diese Grausamkeit zu erklären, in einer Zeit, in der die neuzeitliche Vorstellung von einem liberalen Staat geboren wurde, in der die Debatte über Frauen- und Kinderrechte in die entscheidende Phase trat? Es lässt sich ein direkter Zusammenhang zwischen dem „Liber Vagatorum“ – einem im 16. Jahrhundert auf deutschem Gebiet veröffentlichten Pamphlet, in dem verschiedene Arten von Bettlern vorgestellt wurden, darunter auch „der Zigeuner“ – und den Theorien zur Degeneration und Kriminalbiologie aus der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert aufzeigen. Ein bahnbrechendes „Werk“ unter den Studien zur „Zigeunerkriminalität“ war „L’Uomo Delinquente” des berühmten Cesare Lombroso [1]. Darin werden Roma als „durch und durch kriminelle Rasse“ bezeichnet, die „in moralischer Hinsicht zutiefst verkommen und unfähig zu jeglicher kultureller und intellektueller Entwicklung“ sei. Dieses Buch des italienischen Psychiaters trug wie kaum ein anderes dazu bei, dass ein ganzes Spektrum von Begriffen wie „Zigeunerproblem“, „Zigeunerkriminalität“ und auch festen Wendungen zur Charakterisierung von Roma, z. B. „geistig zurückgeblieben“ oder „gesellschaftlich nicht integrierbar“, verbreiten konnte.

Das Rätsel der Andersartigkeit der Roma erklärt der Forscher Ian Hancock, selbst ein Rom, in seinem Buch „Das Paria-Syndrom“ [Originaltitel: The Pariah Syndrome: An Account of Gypsy Slavery and Persecution]. Die spezifische Weise, auf welche die Roma nach Europa gelangten, wirkte sich Hancock zufolge so aus, dass sie hier als zersplittertes Volk in Erscheinung traten, das zwar durch die Kultur, teilweise auch durch die Sprache und die Quelle der Herkunft vereint wurde, aber zugleich jeglicher Mittel entbehrte, mit Hilfe derer andere Gesellschaften ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität aufbauten. Die Roma verfügten weder über politische noch militärische Stärke, noch über ein geographisches Territorium, mit dem sie sich hätten identifizieren können. Sie hatten auch keine Geschichte, Religion, Sprache, die den Völkern um sie herum vertraut gewesen wären. In dieser Situation mussten die Roma sich einen alternativen Selbstschutzmechanismus schaffen. Sie flüchteten sich in die Magie, verbreiteten Schrecken mit Verwünschungen und Bannen, mit denen sie Kinder belegten.

Die Integration erschwerten noch die Vorstellungen von Reinheit und Verunreinigung, die die Roma von ihren Vorfahren vom indischen Subkontinent übernommen hatten und die sich auf viele Sphären des Alltagslebens erstreckten. Ernährung, Nahrungszubereitung, Sorge um die körperliche Hygiene stellten Barrieren bei der Interaktion mit anderen dar. Aus diesem Grund erachteten viele Romagruppen jegliche Ideen einer Verbrüderung mit den Europäern als unerwünscht. Aufgrund deren anderen Lebensstils zählten sie die Europäer sofort zu den „Unreinen“ und drückten dies nicht selten auf heftige Weise aus, was entscheidend zur Vermehrung der eigenartigsten Mythen und Phantasievorstellungen über sie selbst beitrug.

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Ein reifes Gesellschaftsdenken sollte die mit einbeziehen, die von jahrelangem Unrecht betroffen waren. Sie nicht zu bedenken bedeutet, ihnen das Recht auf Würde abzusprechen.

Werden Kultur und Identität der gesamten Roma-Minderheit in den Bereich des Elends und gesellschaftlichen Ausschlusses verbannt, geraten die Säulen der Europäischen Union – die Idee der Integration – ins Wanken. Die Roma sind heute für das Europäische Projekt eine wichtige Prüfung.

(Übersetzung: Lisa Palmes)