Karolina Wigura, Michał Jędrzejek: Herr Stürmer, was sagt Sotschi über Putins Russland aus?
Michael Stürmer: Sotschi zeigt, dass der Zar Berge versetzen und Jahreszeiten außer Kraft setzen kann. Oder zumindest fast. Sotschi zeigt eine ungeheure Mobilisierungskraft, aber auch fürchterliche Korruption. Es zeigt sehr viel Wunschdenken. Es zeigt die Angst vor Terror, aber auch die Grenzen des Menschenmöglichen – denn es stellt sich heraus, dass die Pisten ständig im Nebel liegen oder es zu warm ist. Am besten wäre es gewesen, man hätte gesagt, wir verlegen die Spiele an einen Ort, wo es richtige Berge, Kälte und Schnee gibt, statt sie in einem halbtropischen Kurort auszutragen. Und Sotschi zeigt die Phantasie der Macht, aber auch deren Arroganz, und das Scheitern der Macht.
Als wir mit Lilija Schewzowa darüber sprachen, sagte sie: „Sotschi existiert nicht. Das ist nur ein Märchen“.
Doch, Sotschi existiert schon, wenngleich es nicht mehr das alte Sotschi ist, das Sotschi der zaristischen Paläste, der Sanatorien für die Nomenklatura. Es ist jetzt ein anderes Sotschi, ein völlig ahistorisches, künstliches Sotschi. Als ich die Eröffnungszeremonie der Spiele sah, dachte ich, in Russland gibt es eine Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Und gleichzeitig ist man stolz auf das untergegangene Sowjetimperium. Beides versuchte man in dieser Zeremonie miteinander zu verbinden, ohne auf den Stil, den guten Geschmack oder Kosten Rücksicht zu nehmen. Es tut mir leid für die Menschen, die dort leben. Viel von der herrlichen Landschaft wurde ein für allemal zerstört. Aber wo eine solche Olympia-Industrie am Werke ist, passiert das zwangsläufig. Man muss überlegen – nicht nur in Sotschi, sondern überhaupt –, wie man die Olympischen Spiele wieder auf ein vernünftiges Maß bringt.
Putins Russland muss eher an der Sowjetunion unter Stalin und Breschnew gemessen werden als an einem idealen demokratischen Rechtsstaat.
Wir haben Frau Schewzowa auch gefragt, was die Festnahme und Freilassung der Bandmitglieder von Pussy Riot während der Olympiade zu bedeuten hat. Sie hat gesagt, Putin wolle damit seine Allmacht unter Beweis stellen. Gibt es ein solches Bild von Russland auch in Deutschland?
Ich stimme ihr da zu, gleichzeitig ist Sotschi aber auch ein Beweis der Ohnmacht. Putin hat die beiden jungen Frauen vor Weihnachten begnadigt. Er kann sich nicht alles erlauben. Es gäbe einen riesigen Aufschrei, wenn er sie jetzt wieder einsperren ließe. Das zeigt auch die Grenzen von Putins Macht. Putins Russland ist nicht dasselbe wie während der Zarenzeit, obwohl es natürlich dort seine Wurzeln hat. Es ist nicht die Sowjetunion unter Stalin oder Breschnew. Es ist ein Zwischending, in dem sehr viel russische Geschichte nachwirkt und das natürlich auch von den Wunden der Geschichte gezeichnet ist. Der amerikanische Politiker George Schultz hat gesagt, Russland sei wie ein schwer verwundeter Grizzlybär. Ich glaube, das ist ein zutreffendes Bild. Russland ist immer noch sehr mächtig. Der Grizzlybär liest keine juristischen Fachbücher, selbst wenn er studiert hat. Aber er ist leicht reizbar und hat ein enormes Potential. Putins Russland muss eher an der Sowjetunion unter Stalin und Breschnew gemessen werden als an einem idealen demokratischen Rechtsstaat. Damit müssen wir uns abfinden.
Müssen wir die Hoffnung auf eine Modernisierung Russlands begraben?
Wir können uns für Russland eine bessere Zukunft erhoffen, aber wir sollten mit dem Wünschen aufhören. Russland ist ein Land mit einer wunderbaren Kultur. Aber gleichzeitig ist es ein „Petrostaat“ mit einem sehr schwachen Modernisierungspotential. Wer mit zu großem Reichtum beschenkt wird, strengt sich nicht genügend an, ihn zu vermehren. Das gilt für Menschen wie für Staaten – und auch für Russland. Denken Sie an das berühmte Buch von Michael Ross, „The Oil Curse“, der Fluch des Öls. Deshalb gibt es in Russland keinen Modernisierungsdruck, es besteht kein Zwang, den Gesellschaftsvertrag zwischen den Regierenden und den Bürgern ständig neu auszuhandeln. Die Regierung kann sich selbst Geld beschaffen, sie braucht das Volk nicht dazu.