Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Schwierige Fragen, zu spät gestellt

Iwan Krastew im Gespräch mit Łukasz Pawłowski · 27 May 2014
Der neue Präsident der Ukraine wird vor der ungeheuren Herausforderung stehen, das Land zu stabilisieren und weiteren Teilungen vorzubeugen. Welcher der Kandidaten eignet sich am besten für diese Aufgabe? Das sei nicht so entscheidend, meint der bulgarische Politologe – wichtiger sei, dass die Regierung in der Ukraine ihre demokratische Legitimation erneuere.

Łukasz Pawłowski: Welche Zukunft erwartet die Ukraine nach der bevorstehenden Präsidentschaftswahl?
Iwan Krastew: Das Wichtigste bei dieser Wahl wird nicht der Name des Wahlsiegers sein, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt anberaumt wurde, und ein verhältnismäßig ruhiger Ablauf. Und selbst wenn sich in einigen Regionen der Ukraine Störungen nicht vermeiden lassen sollten – dass das wahrscheinlich so sein wird, daran hegt wohl niemand Zweifel – so hoffe ich doch, dass ihr Ausmaß geringer sein wird als angenommen. Bitte bedenken Sie, dass die Regionen Charkiw oder Dnipopetrowsk sich nicht Donezk und Luhansk angeschlossen und separatistische Referenda organisiert haben. Daran sieht man, dass ein Teil des Donbas lieber seine Beziehungen zu Kiew ordnet.

Die Referenda in Donezk und Luhansk wurden durchgeführt, obwohl Wladimir Putin selbst sich für ihre Vertagung ausgesprochen hatte. Bedeutet das, dass der russische Präsident die Kontrolle über das Geschehen in der Ostukraine verliert?

Nicht unbedingt. Wir können nicht ausschließen, dass der Appell zur Vertagung der Referenda Teil eines besonders raffinierten diplomatischen Spiels war, und zwar aus mindestens drei Gründen. Erstens wissen wir nicht, ob diese Worte nicht möglicherweise nur für die westlichen Länder bestimmt waren und ob Putin nicht gleichzeitig den örtlichen Separatisten auf weniger formalen Kanälen ein anderes Signal gegeben hat. Zweitens erleichtert die Vertagung der Referenda Putins Bündnispartnern – vor allem in Westeuropa – die Argumentation gegen eine Verhängung weiterer Sanktionen gegen Russland. Und drittens wusste Putin, als er um die Verschiebung der Volksabstimmungen bat, sehr genau, dass diese nur in zwei Regionen durchgeführt werden könnten – und das ist etwas zu wenig, als dass er seine geopolitischen Ziele hätte erreichen können.

Welche Ziele sind das? Will der Kreml in der Ostukraine die Strategie wiederholen, die er auf der Krim verfolgt hat, und auch diese Gebiete annektieren?

Russland will die Ukraine nicht besetzen. Putin will eine Situation erreichen, in der das Land nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu steuern. Die Rolle des Garanten für die Wiederherstellung der Steuerbarkeit könnte dann allein Moskau verkörpern.

Wie wird die Regierung in Kiew sich nach der Präsidentschaftswahl diesen Plänen widersetzen können?

Man darf vor allem nicht vergessen, dass die Ukraine nicht nur aus zwei Teilen besteht: dem proeuropäischen Westteil und dem prorussischen Ostteil. Die Differenzierung ist um Vieles komplizierter. Auch im Osten finden sich Interessensgruppen, die ihre Position lieber mit Kiew aushandeln würden als mit Moskau.
Lohnt es sich, mit diesen zu sprechen?

Ja, das lohnt sich, sogar mit den Radikalen. Die schlechteste Lösung wäre die, bei der Moskau als Verhandlungspartner Gespräche im Namen eines Teils der Ukrainer führen würde.
Bis jetzt ist es der Regierung mit unterschiedlichem Ergebnis gelungen, die Situation im Land zu beherrschen…  

Um die Situation zu beherrschen, hat die Regierung in Kiew einen Teil ihrer Macht an lokale Strukturen und Oligarchen abgegeben, damit diese in den instabilen Regionen „die Brände löschten“. Auf kurze Sicht scheint diese Strategie recht effektiv zu sein. Aber auf längere Sicht kann sie zu einer weiteren Schwächung der Zentralgewalt und weiteren – nicht mehr ethnisch-nationalen, sondern stricte politischen – Teilungen des Landes führen. Eine so verstandene, auf die Politisierung der lokalen Identitäten gestützte Föderalisierung des Landes stellt die größte Bedrohung für die entstehende Bürgergesellschaft in der Ukraine dar.

 

Eine stabile liberale Demokratie ist kein politisches System, das richtige Entscheidungen garantiert. Es ist ein System, das es gestattet, falsche Entscheidungen richtigzustellen.

Iwan Krastew

Warum fällt es den Ukrainern so schwer, miteinander zu reden?

Das bisherige System verlangte von der Mehrheit der ukrainischen Bürger nicht, dass diese sich schwierige und lästige Fragen nach der eigenen Identität, der Geschichte, der Beziehung zu Russland oder dem Verhältnis zwischen ukrainischer und russischer Sprache stellten. Heute müssen sich die Ukrainer die Antworten auf solche Fragen mühsam erarbeiten.

Gelingt das ohne die Hilfe des Westens?

Die Hilfe des Westens ist unzweifelhaft notwendig, aber machen wir uns nichts vor – auch Russland wird in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen. Das Wichtigste ist aber, dass die Ukrainer sich aneinander gewöhnen und lernen, miteinander zu reden.

Warum haben Sie dann zu Anfang des Gesprächs gesagt, es sei nicht so entscheidend, welcher Kandidat genau bei der Präsidentschaftswahl siege? Sind die Programme der Kandidaten alle gleich gut für die Ukraine?

Heute ist die Erneuerung der demokratischen Legitimation der Regierung wichtiger. Und was die Qualität der einzelnen Kandidaten betrifft – ich will nicht ausschließen, dass die Ukrainer möglicherweise nicht den besten von ihnen wählen. Aber eine stabile liberale Demokratie ist kein politisches System, das immer richtige Entscheidungen garantiert. Es ist ein System, das es gestattet, falsche Entscheidungen richtigzustellen.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes.