Special Reports / Wer hat heute Angst vor den Roma?

Wer hat heute Angst vor den Roma?

Karolina Wigura · 24 June 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor gar nicht allzu langer Zeit war auf dem Titelblatt des Schweizer Magazins „Die Weltwoche“ das Foto eines dunkelhäutigen Jungen zu sehen, der mit einer Pistole auf den Betrachter zielte. Der Titel unter dem Foto verkündete: „Die Roma kommen. Raubzüge in die Schweiz“. Das Groteske bestand darin, dass das Foto gar nicht in der Schweiz geschossen worden war, sondern im Kosovo. Der abgebildete kleine Junge heißt Mentor Malluta. Tatsächlich präsentierte er dem Fotografen einen Spielzeugrevolver, den er auf der Müllhalde gefunden hatte, wo seine Eltern auf der Suche nach Gegenständen waren, die sie verkaufen und damit etwas Geld verdienen konnten.

Ein Ausrutscher? Mitnichten! Anti-Roma-Parolen und gegen Roma gerichtete politische Maßnahmen sind in den letzten Jahren zu einem überparteilichen Phänomen geworden, das sich von der Linken bis zur Rechten erstreckt. Zur Untermauerung dieser These lassen sich problemlos zahlreiche Beispiele aus Frankreich (erinnern wir uns an den gerade eine Woche zurückliegenden Fall eines 16-jährigen Rom, der in einem Pariser Vorort brutal zusammengeschlagen wurde), Ungarn, der Slowakei usw. anzuführen. Dieser Missstand hat, das muss man hinzufügen, auch in Polen Einzug gehalten. Vor einem Monat schlug eine Stadträtin von Wrocław die Einzäunung einer Romasiedlung vor, damit keine neue Hütten dazugebaut werden könnten. Ein aktuelles Beispiel für Ghettodenken? In Andrychów, einer Kleinstadt bei Wadowice, kommt es seit einigen Wochen immer wieder zu Angriffen auf die Roma-Minderheit. Seit Jahren erfahren die negativen Gefühlsregungen gerade in den Sommermonaten einen Anstieg – sei es wegen der häufigeren Anwesenheit bettelnder Roma auf den Straßen, sei es wegen der zu dieser Jahreszeit zunehmenden Zahl von oftmals illegalen Romalagern.

Die Elemente der gegenwärtigen politischen Rhetorik, nach der die Roma als schmutzig, als Diebe, ja sogar als halbe Tiere bezeichnet werden, haben eine mehrere hundert Jahre alte Geschichte. Heute, wo die Erinnerung an die katastrophalen Folgen der Minderheitendiskriminierung des 20. Jahrhunderts verblasst, die jahrzehntelang als Grundlage für einen kritischen Vergangenheitsblick fungierte, siedeln sich unversehens starke negative Emotionen und die dazugehörigen Figuren in der gemeinsamen europäischen Narration an. Großen Erfolg erzielen die bei Politikern aus extremen Gruppierungen verbreiteten populistischen Parolen, die schleichend bis in die – theoretisch als gemäßigt geltende – politische Mitte vordringen. Die Roma sind – neben den Muslimen, aber auch den Einwohnern mittel- und osteuropäischer Länder – die häufigsten Opfer dieses Diskurses.

Lässt sich in der Richtung der heutigen Anti-Roma-Politik und -Rhetorik eine Fortsetzung der geschichtlich und kulturell verwurzelten Gründe für die Ablehnung der Roma bemerken? Darüber schreibt heute Karolina Wigura, Ideenhistorikerin von der „Kultura Liberalna“. Der hervorragende deutsche Roma-Kulturforscher und Autor des bekannten Buches „Europa erfindet die Zigeuner” Klaus-Michael Bogdal hingegen erklärt, worin die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Antiziganismus und dem häufig mit diesem verglichenen Antisemitismus bestehen.

Ein wichtiges, in der Diskussion um die Roma immer wieder angeführtes Argument betrifft das Recht der – deutschen, französischen, polnischen, oder, weiter gefasst, europäischen – Gemeinschaft zum Schutz ihrer Kultur. Wer würde in der Nachbarschaft des Romalagers in Wrocław wohnen wollen?, fragen die, die der Idee einer Verbrüderung mit den Roma skeptisch gegenüberstehen. Es ist schwer zu bestreiten, dass das Recht des Einzelnen und der Gesellschaft auf ein „Leben nach eigener Fasson“ keinen Mangel an Achtung vor gemeinsamen Regeln bedeuten kann. Ab welchem Punkt sollten sich ein Staat, der den Wert der Multikulturalität anerkennt, und die reifen, sich ihrer Rechte – aber auch Pflichten –bewussten Roma treffen? Stellt sich angesichts dieser komplizierten wechselseitigen Beziehungen die Multikulturalität nicht als bloße Fassade heraus? Auf diese Fragen antwortet Andrzej Szahaj, Philosoph von der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń.

Als Abrundung bieten wir Ihnen noch ein Interview von Błażej Popławski mit dem Roma-Komponisten und Initiatoren des Internationalen Festivals des Romaliedes und der Romakultur Don Wasyl. „Wir möchten unsere Kinder gut ausbilden, sie nicht nur die Roma-Geschichte lehren, sondern auch die polnische und die europäische“, erklärt der beliebte Künstler.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Karolina Wigura


Impressum der Ausgabe:

Das Thema der Woche wurde auch dieses Mal in Kooperation mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit erstellt.

Konzeption des Themas der Woche: Karolina Wigura.

Mitarbeit: Błażej Popławski, Barbara Grodecka, Marcin Żuraw.

Koordination vonseiten der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Magdalena Przedmojska.

Koordination vonseiten der „Kultura Liberalna”: Elżbieta Ber.

Illustrationen: ola.das [http://oladas.blogspot.com/]

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