Seit die Idee der Repräsentation unter die Demokratie untergeordnet und in Repräsentationsorganen institutionalisiert wurde, dient sie als eine Art Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Regierung. Dabei begründet sie, warum die Regierten die Macht in die Hände von ihnen gewählter Politiker legen und dabei doch souveräne Bürger bleiben können. Eine solche Repräsentation ist Putins Regierung natürlich nicht. Seit der Zeit des Mittelalters funktioniert Repräsentation aber auch in schwächerem Sinne, als Idee, die eine nicht dem Willen des Volkes entsprechende, sondern lediglich vom Volk anerkannte Ausübung von Macht legitimiert. Und einen solchen Charakter hat Putins Regierung. Repräsentation ist hier als gewisser Anspruch auf ein Auftreten im Namen anderer zu denken; wenn dieser Anspruch anerkannt wird, ist die Regierung repräsentativ, wenn nicht, ist sie usurpatorisch.
Mäander der Rechtskräftigmachung
Putins Regierung erfüllt die grundlegenden Bedingungen einer repräsentativen Herrschaft nicht, und ist doch, wie unabhängige Studien zur Meinungsforschung zeigen, eine anerkannte und damit legitime Regierung. Und das lässt sich, leider, verstehen, indem man sich auf die Idee der Repräsentation beruft.
Erstens erscheint Putins Regierung, wenn sie auch keine vor den Regierten verantwortliche Regierung ist, so doch als eine für die Regierten verantwortliche Regierung. Und eine für die Regierten verantwortliche Regierung lässt sich leicht zu Taten hinreißen, die eine vor den Regierten verantwortliche Regierung nur im äußersten Notfall durchführt. Kann man sich in Russland so etwas wie einen Guantanamo-Skandal vorstellen, einen Putin, der sich vor Menschenrechtsschützern dafür rechtfertigt, wie er die imaginären und tatsächlichen Feinde seines Landes behandelt, z.B. die des Terrorismus verdächtigten Tschetschenen?
Zweitens erscheint Putins Regierung, wenn auch die Wahlen gefälscht werden und die Zusammensetzung der Repräsentationsorgane nicht die gesellschaftliche Differenziertheit abbildet, den Russen doch als Kraft, die die ganze Gesellschaft zusammenhält, welche ohne sie sicher auseinanderfallen würde. Haben sie solche Erfahrungen etwa nicht aus Boris Jelzins Zeiten in Erinnerung? Demokratie verbinden sie mit Chaos und scheinen somit die Ansichten Thomas Hobbes’ zu teilen – eines englischen Philosophen, der in der Zeit des englischen Bürgerkriegs Mitte des 17. Jh. lebte – dass es ohne eine starke Herrschaft gar keine Gesellschaft gebe, dass die Herrschaft die Gesellschaft schaffe und deren Zerfall vorbeuge. Hobbes ist zwar heute der meistzitierte politische Philosoph in seinem Land, dennoch wurden seine Ideen in England nie verwirklicht. Sollte Hobbes etwa erst in Putin denjenigen gefunden haben, der sein Projekt umsetzt? Der englische Denker bezeichnete schließlich jegliche Institutionen, die die Allmacht der Herrschenden in Frage stellten und an heutige Körperschaften oder Nichtregierungsorganisationen denken lassen, als „Würmer in den Eingeweiden“ einer gesunden Republik! Diese Ansicht würde Putin doch sofort unterschreiben.
Kann man sich in Russland so etwas wie einen Guantanamo-Skandal vorstellen, einen Putin, der sich vor Menschenrechtsschützern dafür rechtfertigt, wie er die imaginären und tatsächlichen Feinde seines Landes behandelt?
Drittens schließlich erwarten die Russen von den Regierenden im selben Maße wie die Verwirklichung ihrer materiellen Interessen die Erfüllung der historischen Mission des russischen Volkes, eines Elements, das die Grenzen der Russischen Föderation überschreitet. Putins Herrschaft hat also ein gewisses metaphysisches Element, das in Hobbes’ Modell fehlt. Mit Sicherheit leben viele sogenannte gewöhnliche Russen jetzt etwas besser als unter Jelzins Regierung – wenn auch wahrscheinlich die am besten leben, die aus Angst vor einer Konfiskation ihres Vermögens ins Ausland gegangen sind. Aber denen, die geblieben sind, hat Putin die Selbstachtung zurückgegeben. Auf die Frage: „Wann achten sie uns im Ausland?“, antworten über 80 Prozent der Russen: „Wenn sie Angst vor uns haben!“ Und Angst erwecken kann schließlich nur ein starkes Russland. Putin hat also bewiesen, dass er ein einiges, ewiges und unbesiegbares Russland repräsentieren kann. Putin ist Russland, Russland ist Putin – Putins Gegner sind Russlands Gegner.
Führung durch Angst
Betrachten wir Putin aus dieser Perspektive, scheint es verwunderlich, dass er überhaupt eine Opposition duldet. Doch er toleriert sie – und nicht nur die konzessionierte, sondern auch eine authentische. Das tut er aber nicht aus Gründen der gesellschaftlichen Sensibilität und Achtung vor demokratischen Werten.
Der russische Präsident sät keinen Terror wie ein totalitärer Despot – er wendet durchdacht und sparsam Gewalt an. Propaganda wendet er in massivem Ausmaß an, um nicht in massivem Ausmaß Gewalt anzuwenden. Die Gewalt richtet er nicht gegen die ganze Gesellschaft, sondern gegen selbsterwählte Feinde. In Machiavellis Sprache gesagt, stützt er seine Herrschaft auf Liebe und Angst – bemüht sich um die Liebe der einen und will den anderen Angst einjagen. Man könnte sogar sagen, dass die einen ihn deshalb lieben, weil die anderen Angst vor ihm haben.
Die Russen erwarten von den Regierenden im selben Maße wie die Verwirklichung ihrer materiellen Interessen die Erfüllung der Mission des russischen Volkes, eines Elements, das die Grenzen der Russischen Föderation überschreitet.
Putin hat somit ein System geschaffen, das fassadenhafte repräsentative Institutionen mit authentischer Repräsentation koppelt. Die spannendste Frage, die man hier stellen kann, lautet also: Warum hält er diese Institutionen am Leben? In der Literatur finden wir zwei Antworten auf diese Frage. Die erste ist eine Antwort im Geiste François de La Rochefoucaulds und besagt, dass der Grund für eine solche politische Strategie gewöhnlich Heuchelei sei, also „der Tribut, den das Laster der Tugend zollen muss“. Die zweite, perversere Antwort auf diese Frage lautet: Putin unterhält Institutionen, die scheinbar seine Macht beschränken, um so zu beweisen, dass seine Herrschaft… unbegrenzt ist, da sie nicht einmal den wichtigsten Kontrollinstitutionen unterliegt.
Ich weiß nicht, welche Erklärung die richtige ist; vielleicht sind beide richtig, vielleicht auch keine. Ich habe aber das Gefühl, dass die Fassadeninstitutionen wichtiger sind als gemeinhin angenommen, und dass ihre Erhaltung möglicherweise die einzige Sache ist, für die die Russen Putin einmal dankbar sein werden. 2008, kurz vor Ende der zweiten Amtszeit Putins, war Gleb Pawlowski in Warschau zu Gast, damals der erste politische Berater des Präsidenten. Auf die Frage, wer in Russland nach Putin die Macht übernähme, antwortete er ohne nachzudenken: „Wie – wer? Putin.“
Fürs Erste stimmen Pawlowskis Vorhersagen, aber diese Frage wird in einiger Zeit wiederkehren und nach einer ernsthaften Antwort verlangen! Ob bei dieser Antwort die heute in Russland fassadenhaften Institutionen der repräsentativen Demokratie hilfreich sein werden? Bis Februar 1989 nahm niemand in Polen die Institution des Parlaments ernst. Das Parlament bekam erst dann Gewicht, als im Ergebnis der Verhandlungen am Rund Tisch und nach den Juniwahlen in Polen die Opposition, die Solidarność, auf seinen Bänken Platz nahm. Bis zum August 1989 nahm niemand in Polen die Satellitenparteien der PVAP ernst, unterdessen bildeten diese zusammen mit der Bürgerlichen Parlamentsfraktion die Regierungskoalition, an deren Spitze Premierminister Tadeusz Mazowiecki stehen würde. Ich weiß, dass man von der Geschichte keine Wiederholung verlangen kann, aber vielleicht schenkt sie uns ja irgendwann wenigstens ein Lächeln.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes