Sehr geehrte Damen und Herren,
Die Angst um die eigene Zukunft ist nach Osteuropa, in die baltischen Staaten und sogar nach Skandinavien zurückgekehrt. Kein Wunder, dass nach Russlands Annexion der Krim sich Experten und Politiker nicht nur über dieser Situation angemessene Sanktionen und Sicherheitsmaßnahmen den Kopf zerbrechen. Sie versuchen auch, die passende Sprache für diesen Vorfall zu finden. Historische Analogien gibt es viele, am stärksten aber sind heute die Stimmen zu vernehmen, die an die Zeit des Kalten Krieges erinnern, als sich der Begriff „internationale Sicherheit“ änderte. Ludwig von Mises, der Klassiker des Liberalismus, schrieb einst: „Derzeit sind die am weitesten verbreiteten Chimären Stabilität und Sicherheit.“ Diese Aussage gibt, obwohl sie mehrere Jahrzehnte alt ist, ausgezeichnet die Evolution des Verständnisses von geopolitischer Stabilität wieder. Plötzlich sind diese „Chimären“ in unsere Welt zurückgekehrt – in der griechischen Mythologie sind das menschenfressende Monster mit Löwenköpfen, Ziegenkörpern und Schlangenschwänzen. Heute haben sie sich in den Köpfen von Politikern eingenistet, die bereit sind, einen anderen Staat zu überfallen, seine territoriale Integrität und das internationale Recht zu verletzen.
Putins Strategie bezüglich der Krim macht nicht den Eindruck, der Plan eines Wahnsinnigen zu sein, wie es sich ein Teil der Journalisten wünschen würde. Das ist ein Plan, dessen Erfolg nicht nur die Niederlage der Ukraine, sondern auch die Niederlage von uns Europäern zur Folge hat. Russlands Präsident ist sich durchaus darüber im Klaren, dass der Begriff „Krimkrieg“ für Historiker für das 19. Jahrhundert reserviert ist. Der damalige Konflikt hatte zur Rekonfiguration der globalen Ordnung geführt und Veränderungen innerhalb Russlands eingeleitet, unter anderem die Aufhebung der Leibeigenschaft von Bauern. Heute wird ein ähnliches Szenario – basierend auf dem Wachstum der politischen Solidarität zwischen dem Westen und der Demokratisierung des gedemütigten Russlands – immer unrealer.
Wenn Putin sich in den Beziehungen zum Westen für ein „Tauwetter“ entscheidet, begrüßen die Europäische Union und die Vereinigten Staaten diese Geste sicherlich mit Erleichterung. Die Mehrheit der Bürger Westeuropas wünscht sich vor allem Ruhe. Die Staaten im Ostteil des alten Kontinents können lediglich hoffen, dass das Erwachen der NATO in der Region nicht nur ein Erwachen auf Zeit ist.
In der heutigen Ausgabe von „Kultura Liberalna” stellen wir unterschiedliche Sichtweisen auf die Krimkrise und mögliche Prognosen für ihre Beendigung vor. Andrzej Nowak, Professor der Jagiellonen-Universität in Krakau, sieht Wladimir Putin als einen Politiker, der fasziniert ist von Gewalt und Macht. Der Präsident Russlands wolle ein Übermensch sein: „Mehr noch, er ist in Besitz des Ringes des Gyges, eines mythischen Ringes, der seinem Besitzer vollkommene Straffreiheit schenkt.“ In einem Interview mit Michał Jędrzejek rekonstruiert der Sowjetologe die Trajektorien von Putins Regierung und erklärt den Stil seiner Machausübung.
Ähnlicher Meinung ist Vladislav Inozemtsev, Ökonom der Lomonossow-Universität in Moskau, der mit Wojciech Engelking über das Wesen von Putins Regierung spricht. Experten setzen aus verschiedenen Mosaikteilchen ein kunstvolles Bild der Rationalität dieses Politikers zusammen. Die Forscher aus Russland und Polen kommen jedoch zu anderen Ergebnissen. Inozemtsev postuliert, dass das einzige Rezept für eine Reanimierung des Dialoges zwischen Brüssel und Moskau, das für die Russen attraktiv wäre, das Angebot eines Assoziierungsabkommen von der EU an Russland sein könnte. Nowak hingegen verwirft die Vision jedweder Zusammenarbeit mit diesem Land im Hinblick auf die gänzlich anderen Werte, die seiner Meinung nach der europäischen Gemeinschaft zugrunde liegen.
Dmitri Trenin, Politologe und Leiter des Moskauer Büros der Carnegie Stiftung, sagt im Gespräch mit Łukasz Pawłowski klar, dass die Ereignisse auf der Krim als Zäsur zu verstehen sind, die die labile Partnerschaft zwischen dem Westen und Russland beendet. Werden in Russland keine strukturellen Veränderungen vorgenommen und werde das Modell der „Zarenpräsidentschaft“ nicht aufgehoben, können die Beziehungen zwischen Washington und Moskau schon bald das Spannungsniveau der Zeit des Kalten Krieges annehmen.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Roman Kuźniar im Gespräch mit Karolina Wigura. Er ist Professor der Warschauer Universität und Berater in Internationalen Angelegenheiten von Bronisław Komorowski, dem Präsidenten der Republik Polen. Seiner Meinung nach kann die EU als Ganzes sich nicht der Verantwortung für die Sicherheit in ihrem Umkreis entziehen. Stattdessen sollte sie eine der polnischen Diplomatie im Osten ähnliche Strategie verfolgen.
Wir wünschen eine angenehme Lektüre!
Jarosław Kuisz und Błażej Popławski
Impressum:
Konzept für das Thema der Woche: Karolina Wigura.
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Łukasz Jasina, Błażej Popławski, Marcin Żuraw, Viktoriia Zhuhan.
Koordination seitens der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Joanna Czudec, Magdalena Przedmojska.
Koordination seitens „Kultura Liberalna”: Ewa Serzysko.
Deutsch von Lisa Palmes, Antje Ritter Jasińska und Andreas Volk.
Illustrationen: Magdalena Marcinkowska [marcinkowska.blogspot.com].
Die Ausgabe ist dank der finanziellen Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit entstanden.