Wenn in Kürze ein Kanzler den Platz der Kanzlerin nimmt, ändern sich die Emotionen in der deutschen Öffentlichkeit. Für Outsider kann es eine beunruhigende Perspektive werden.
Sozialwissenschaftler seines Zeichens, wohnhaft in Berlin: Georg Simmel schrieb am Anfang des 20 Jahrhunderts ein Essay unter dem Titel „Der Fremde”. Er interessierte sich schon immer für die in sozialen Rollen eingeschlossenen Widersprüche. Und eben die Figur dieses Fremden fokussiert besonders viele Widersprüche. Ein Fremder verbindet, so Simmel, Nähe und Distanz, Gleichgültigkeit und Engagement. Das gibt ihm die Scharfsinnigkeit bei der Beobachtung und die Objektivität.
Selbstverständlich schrieb Simmel gewissermaßen über sich selbst. Er verwies darauf, dass ein klassisches Beispiel für einen Fremden, ein assimilierter Jude ist, und er war selbst ein solcher. Doch sein Essay ist auch heute interessant, da es zeigt, wie man über den persönlichen Rahmen des Autors hinausgehen kann. Simmel bemerkte, dass im Lebenslauf vieler Personen eine besondere Erfahrung vorkommt, die einen befähigt, mehr zu sehen – mindestens eine Zeit lang nach dem Umzug in ein anderes Land, bevor die Reize am neuen Ort alltäglich werden.
Eben aus dieser Position möchte ich nachstehend einige Bemerkungen zur deutschen Politik vor der Bundestagswahl festhalten. Deutschland ist mir seit fast fünfzehn Jahren nah, aufgrund des häufigen Kontakts zur Kultur, auch zur politischen Kultur, sowie durch mein episodisches Wohnen in Deutschland. Gerade jetzt wohne ich in Berlin und es ist eine höchst interessante Zeit hier, die letzten Vorbereitungen vor der Bundestagswahl. Ich bin also eine Art Fremde im simmelschen Sinne und möchte darüber berichten, was ich aus dieser Perspektive sehe.
Was bedeutet das Ende der Ära Merkel?
Nach sechzehn Jahren scheidet Angela Merkel als Kanzler aus (oder eher Kanzlerin, wie man es hierzulande zu sagen pflegt). Im Rennen um den Regierungssessel im großen, mit dem Kokoschka-Gemälde von Konrad Adenauer verzierten Arbeitszimmer, sind mehrere Politiker. Überwiegend machen sie den Eindruck, sie wären als Kandidaten mittelmäßig und was noch schlimmer ist – wenig ernst, insbesondere im Vergleich zu Frau Merkel. Unabhängig davon bringt diese Zeit eine Anregung zur tieferen Reflexion, mit der die sog. „Ära Merkel” resümiert werden kann und uns vielleicht auch in die Zukunft der Bundesrepublik (und dadurch auch die der Europa und die unseren Landes) schauen lässt.
Für Emotionen in der Politik interessiere ich mich beruflich und ich kam nach Berlin, um sie zu untersuchen. Man könnte sagen, einen schlechteren Ort für die Untersuchung von Emotionen als das deutsche öffentliche Leben gibt es kaum. Diese Überzeugung ist hier übrigens allgegenwärtig: deutsche Politik ist mit Höflichkeiten wie mit einem Airbag gefüllt. Sie ist strategisch, vernünftig und frei von Polarisierung, von der viele Länder, darunter Polen, geplagt sind. Wie es kürzlich die Journalisten „Des Spiegels” formuliert haben, schwebt diese Politik irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Langeweile.
Diese Überzeugung wird zusätzlich durch das Verhalten der Kanzlerin selbst bestätigt. Merkel gilt als eine vollkommen rationelle Politikerin. Der Kern ihres politischen Stils besteht in der Suche nach gemeinsamen Interessen und nach Pragmatismus. Bloß keine Leidenschaften.
Dass Merkel pragmatisch ist und dass die deutsche Politik ein wenig langweilig ist, hat schon seine Richtigkeit. Man kann allerdings nicht behaupten, dass die deutsche Politik emotionslos ist. Sie stützt einfach auf deren bestimmten Bandbreite, die Merkel in den letzten dutzend Jahren gewaltig mitgeprägt hat. Momentan ist von „nahtloser Machtübergabe” und einer „Kontinuität der Verwaltung” die Rede. Das ist klar. Aber das Ende der Regierung Merkel wird unausweichlich eine emotionale Neustrukturierung der deutschen Politik bedeuten. Ein Ende der Ära ist ein Wandel im Herzen.
Dominierende Emotion
Um es richtig erklären zu können, worauf die Emotionalität in der deutschen Politik der Ära Merkel beruht, muss man auf die vereinfachten Feststellungen verzichten, die übrigens selbst die Kenner dieser Politik verbreiten.
Erstens: es herrscht die Meinung, dass die deutsche Nachkriegspolitik grundsätzlich dank dem Verzicht auf Emotionen möglich war. Es konnte nicht anders sein, nachdem die Emotionen von den Nazis zynisch ausgespielt wurden. Deswegen wirkten Konzepte wie das von Habermas überzeugend: durch eine Verfassung garantierte demokratische Kommunikation; verfassungsortientier Patriotismus. Anderenfalls droht die Rückkehr zur ungewollten Vergangenheit. Oder in einer milderen Version – zum polnischen Chaos nach 2015.
Zweitens: Frau Merkel ist eine rationale Person, die dem deutschen Argwohn gegen Emotionen im öffentlichen Leben das logische (und gefühlsmäßige) Ende bereitet hat. Während andere Kanzler, Gerhard Schröder etwa, schon mal mit Tränen in den Augen fotografiert wurden, hat sich Merkel fast nie ergriffen gezeigt. Selbstverständlich wird auf Ausnahmen hingewiesen. Ihre Ergriffenheit, als sie 2018 auf den CDU-Parteivorsitz verzichtet hat. Ihre Entscheidung über die Aufnahme der Flüchtlinge 2015 und die damalige Weihnachtsansprache voller Dank an die deutsche Gesellschaft für die Solidarität. Anfänge der Corona-Krise und ihre berühmten Worte: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst”. Diese Beispiele scheinen allerdings Ausnahmen von der Regel zu sein. Sie reichen nicht aus, um von „Emotionalität” zu reden.
Um davon zu erzählen, greife ich tiefer, zu zwei Gedanken der politischen Philosophie, in denen sich Ära Merkel wie im Spiegel betrachtet. Der erste Gedanke ist das Konzept der Apathie, apatheia, etwa im Sinne des neuzeitigen Stoikers Baruch de Spinoza. Der zweite Gedanke ist die Doktrin der dominierenden Emotion in der jeweiligen Staatsordnung, wie sie Tomas Hobbes oder Montesquieu beschriebenen haben. Würde Merkel selbst solchem Gedanken gutheißen? Das ist nicht sicher. Wenn sie in diesem Sinne gefragt wird, gibt sie häufig zu verstehen, man möchte sie nicht belästigten. Notabene, sie selbst zitiert Spinoza gern, obgleich dies eher den Eindruck macht, als ob sie aus einer Zitatensammlung im Internet schöpfen würde. Aber sei es drum. Mir geht es darum, einen zusätzlichen Auslegungsschlüssel darzustellen, die Auslegung der Ära Merkel zu bereichern.
Kein Verstand ohne Emotionen
In der Vergangenheit meinten große Philosophen, Emotionen gestalten die Politik nicht, sondern sie eilen ihr voraus. Sie seien wie die erste Schicht der Wirklichkeit. Heute würden wir sagen: sie sind nicht ganz bewusst, bilden aber doch Grundlagen von allem. Alles stützt sich darauf und alles hängt davon ab. Auch der Verstand. Wenn also Merkel eine rationelle Politikerin ist, muss diese Haltung eine emotionale Grundlage haben.
Welche? Hobbes meinte, der Verstand brauche die Emotionen, um richtig zu funktionieren, aber nicht jede Emotion ist hierzu geeignet. Nur gut gewählte Emotionen veredeln den Verstand, der sonst Fehler macht, in Übermut, übertriebene Eigenliebe, Eifersucht und Ähnliches verfällt. Seines Erachtens gibt es zwei Emotionen, deren Dominanz die Bildung einer stabilen politischen Gemeinschaft möglich macht. Es sind Angst und Hoffnung. Die Angst bezieht sich auf eine dramatische Vergangenheit, zu der man nicht zurück will (bei Hobbes war es der Englische Bürgerkrieg). Die Hoffnung bezieht sich auf ein – in materieller Hinsicht – besseres Leben in der Zukunft. Nur wenn sie dominieren, kann der Verstand Gesetze schreiben. Zur Wahl kann mehr stehen als nur Angst und Hoffnung – Philosophen wie Montesquieu, Tocqueville, Smith haben eigene Tipps.
Liebe zum Geschäft
Was ist also die dominierende Emotion, die der Politik von Angela Merkel zugrunde liegt? Kann man wirklich eine grundsätzliche Emotion einer Politikerin zuordnen, die auf eine Frage, was ihr Wunsch für Deutschland wäre oder worauf sie stolz ist, ziemlich banale Sachen nennt? Laut einer Anekdote über die junge Merkel aus der Zeit der Jahreswende 1989/1990 sei sie in den Veranstaltungen der neuen politischen Gruppierungen in der ehemaligen DDR still und im Plenum nicht aktiv gewesen und als sie endlich ein paar Sätze in einem Nebengespräch gesagt habe, habe sie festgesellt, in der DDR habe sie am meisten die Tatsache gestört, dass man keinen normalen Joghurt kaufen konnte. Als man sie irgendwann fragte, worauf sie in der heutigen Bundesrepublik stolz ist, sagte sie, sie wäre darauf stolz, dass die Deutschen dichte Fenster haben.
In diesem Zusammenhang können wir Montesquieu, einen Philosophen aus dem achtzehnten Jahrhundert, nennen, der viel Wert auf Emotionen legte und auch das Konzept einer Handelsrepublik entwickelte. Eine Handelsrepublik ist nämlich eine besondere Staatsordnung, in der die Menschen von unterschiedlichen Emotionen getrieben werden, aber eine Emotion ist ihnen gemeinsam: die Liebe zum Geschäft. Montesquieu meint, das Glück sei der Zustand, in dem die Leidenschaften zwar die Menschen zu bösen Taten verleiten würden, aber die Menschen haben ein Interesse daran, diese Taten nicht zu begehen. Wenn man Merkels Aussagen über Fenster und Joghurt ernst nimmt, ist Deutschland womöglich eine Art Handelsrepublik nach Montesquieu. Die Leidenschaft, Interessen zu machen – ob es sich um den eigenen hohen Lebensstandard, um die gute Schulbildung für die Kinder, um die Karriere oder um die Entwicklung von neuen Technologien handelt– all das macht eine Gesellschaft aus, die das Geschäft liebt und deswegen nicht durch tiefe Polarisierung geplagt wird sowie – auch wenn ein wenig langweilig – vermögend ist.
Apathische Energie
Hervorragende Politiker, die an der Macht nicht dank Gewalt und Betrug, sondern dank mehrfachem Sieg in allgemeinen Wahlen bleiben, müssen die Gabe haben, Emotionen der Gemeinschaft zu heben und mitzugestalten. Auf rätselhafte Art und Weise sind sie in der Lage, eigene Gefühlslage mit der zu verbinden, die in der jeweiligen Gesellschaft stark ist. Es muss nicht unbedingt eine einzige Emotion sein, sie muss aber stark genug sein, so dass man darauf bauen kann.
Das ist dieses berühmte „soziale Ohr” – einst in Polen Donald Tusk zugeschrieben, dessen „Politik der Liebe” dem Bedürfnis nach Ruhe und der Möglichkeit entsprach, sich um eigene Dinge kümmern zu können. Heute wird behauptet, ein solches soziale Ohr habe Jarosław Kaczyński, der wiederum nach 2015 es geschafft hat, eine Beziehung zwischen eigener Trauer und eigenem Verlustgefühl einerseits und Frustrationen sowie Orientierungslosigkeit der Wählerschaft andererseits aufzubauen.
Es gibt solche Gesellschaften, in denen politische Anführer auf dem Boden der „thymotischen Energien“ gedeihen, wie es einmal ein deutscher Philosoph, Peter Sloterdijk, nach thymos, also griechisch für „Zorn“, benannt hat. Thymos kann die Grundlage für eine breite Palette von Emotionen bieten. Mir persönlich gefallen einige von ihnen besser. So sehe ich die USA unter Joe Biden, der um sich herum die Aura des „gerechtfertigten Zorns” kreiert, des moralischen Zorns in der richtigen Sache, etwa im Kampf um offene Gesellschaft und neulich im Kampf um die Corona-Impfquote. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Emotionen als Resentiment-Zorn, als Frustration, als Empörung auszudrücken. Die Art der thymotischen Energien nutzen Populisten aller Art, von Kaczyński, über Orbán, bis hin zu Bolsonaro.
Doch Angela Merkel bezieht sich nicht auf thymos. Alte Stoiker, ähnlich wie Spinoza, nannten als Gegensatz zum Zorn die Apathie. Entgegen der verbreiteten Meinung gemeint ist hier nicht die Aufforderung, überhaupt auf Emotionen zu verzichten. Apatheia ist ein emotionaler, durch Wissen und Verstand gestalteter Zustand. Zu verstehen, wie die Welt tickt, wie ihre Physik funktioniert, heißt Weisheit zu erlangen. Nur sie erlaubt es, in sich ein neues Spektrum der Emotionen zu entwickeln: apathische Energie. Eben eine solche Energie der abgestumpften Emotionen, durch Interesse, Erfahrung und Wissen geordneten Leidenschaften sehe ich in Merkels Politik. Nicht unbedeutend kann auch die Tatsache sein, dass die Kanzlerin selbst Physik studiert hat, bevor sie sich der Politik gewidmet hat.
So würde ich mit eben die Fähigkeit Merkels erklären, mit einem blauen Auge bei zahlreichen Situationen der drohenden Demütigung davonzukommen. So ist z. B. Wladimir Putin dafür bekannt, Merkel aus dem Gleichgewicht bringen zu wollen. Von Mitführen von großen Hunden, von denen Merkel angeblich Angst hat, bis hin zur notorischen Verspätungen, versucht Putin immer wieder zu zeigen, er stünde höher in der Hierarchie. Doch für eine Demütigung sind zwei Personen erforderlich. Wenn die eine Person Ruhe bewahrt, hat die zweite ihr Ziel nicht erreicht. Parteigenossen Merkels haben sie wiederum von herben Bemerkungen nicht verschont, dass beispielsweise nur eine Frau den politischen Pflichten so schlecht nachkommen kann. Um aber jemand bloß zu stellen, braucht man wieder einmal zwei Personen.
Zukunft: Deutschland und Polen
Was denke ich, wenn ich mir die deutsche Politik aus dem Blickwinkel einer Outsiderin anschaue? Grundsätzlich zwei Dinge. Erstes Ding ist der Vergleich der Emotionalität in der polnischen und in der deutschen Politik.
Modernes Deutschland fällt mit seiner apathischen Energie und mit seiner heißen Leidenschaft zu den – individuellen und gemeinsamen – Interessen auf. Auffallend sind ebenfalls die ausbleibende Polarisierung, die Einheit, die Stabilität, auf die jetzt viele Nationen neidisch sind. Parteien, die diesen grundsätzlichen Konsens verworfen haben, wie etwa die Alternative für Deutschland (AfD), forderten diese emotionale Struktur heraus. Nach und nach bröckelten aber ihre Umfragen, insbesondere unter dem Einfluss der Pandemie, als die im deutschen Mainstream vorhandene Vernunft für die Wähler:innen überzeugender als die zentrifugalen Tendenzen war.
In Polen ist es sicherlich nicht langweilig. In unserer Polarisierung sind wir voll von thymotischer Energie, die unter dem Einfluss einer populistischen Regierung zusätzlich in Richtung einer auf Ressentiments basierenden Frustration hochgepeitscht wird. Das gibt nicht nur eine Vorstellung davon, wie unterschiedlich unsere politischen Kulturen sind, es bewegt aber auch, danach zu fragen, welches emotionale Gefüge für unser Land besser wäre und welches denn überhaupt möglich wäre. Eher konsensorientiert und apathisch, oder aber nach Bidens Vorbild eher thymotisch, aber doch moralisch?
Ich bin keine Anhängerin des Determinismus, wenn es darum geht, politische Fundamente eines Landes zu benennen. Zum Teil gibt es etwas, was man den nationalen Charakter oder einfach die Kultur der kollektiven Kommunikation, eine Sammlung von charakteristischen, aus der Geschichte her entstandenen kollektiven Gewohnheiten nennen kann. Die Politik bedeutet aber etwas mehr. Ein Politiker hört nicht nur zu, er gestaltet auch mit. Als Beispiel: im Jahre 2015 waren der Zorn und die Enttäuschung von der demokratischen Wende nach 1989 vielleicht die stärksten Gefühle in unserem Land. Das bedeutet aber noch gar nicht, dass wir den Punkt erreichen mussten, an dem wir uns jetzt befinden: am konsequenten Entfachen und Festigen der Abneigung gegen das Anderssein, am neurotischen Verlangen nach dem Schutz des Eigenen, am wahnsinnsartigen Souveränitätsgedanken. Dass dieser Zorn so eingespannt wurde, ist ein Werk der Regierenden. Man kann sich ganz andere, für unsere Gemeinschaft viel positivere Szenarien vorstellen.
Die Emotion vergeht
Aus dieser Sicht ist die in Bezug auf die heutige Bundesrepublik am meisten brennende Frage die Frage der Stabilität. Wie stabil ist diese emotionale Struktur? Emotionen, auch die kollektiven Emotionen, sind nicht von alleine stabil. Sie währen so lange, wie lange sie sorgfältig gepflegt und gestaltet werden. Eine Emotion, die heute dominiert, kann morgen in tausend anderen Emotionen aufgehen.
Für die Outsider kann diese Perspektive beunruhigend sein. Die Beobachter erfuhren mit Erschrecken von den der Selbstjustiz ähnelnden Vollstreckungen an kommunalen Politikern, wie es bei dem mit Kopfschuss umgebrachten Bürgermeister Walter Lübcke der Fall war, oder von den Angriffen gegen Synagogen. Ja, solche Dinge passieren auch hier. Mehr noch, einer Studie aus dem Jahre 2019 zufolge sagen 60 Prozent der Deutschen aus Angst vor Ostrazismus nicht laut, was sie tatsächlich denken. Die Liebe zum Geschäft kann in Deutschland dominieren, aber die dominierende Stellung der jeweiligen Emotion bedeutet nicht das Monopol. Fortwährend kommen Versuche, den Konsens anzufechten.
Angela Merkel hat einen grundsätzlichen Fehler, ähnlich wie früher Donald Tusk, gemacht. Sie hat nämlich auf die eine oder andere Art und Weise in ihrem Umfeld – und einige meinen, insgesamt in der deutschen Politik – alle Personen ins politische Abseits geschickt, die auffallen. Immer lauter werden heutzutage Stimmen, dass es ein großer Fehler war, als Kanzlerkandidaten Armin Laschet zu benennen. Würde er gewinnen, wäre er Ewa Kopacz von Angela Merkel – das wird sich aber eher nicht bewahrheiten.
Aber auch Olaf Scholz von der SPD, der sein politisches Kapital mit der kuriosen Idee schlägt, Merkels Stil – einschließlich der berühmten Raute – nachzuahmen, erscheint eher als eine Attrappe denn als ein Kanzler für anspruchsvolle Zeiten. Frau Annalena Baerbock von den Grünen ist potenziell die interessanteste Kandidatin von den drei Hauptrivalen, den Umfragen zufolge hat sie jedoch keine Aussichten auf einen Wahlsieg.
Wenn auf dem Sessel der Kanzlerin ein Kanzler sitzt, beginnt in Deutschland ein ernster und unausweichlicher Umbau der emotionalen öffentlichen Struktur, vermittelt von einer neuen Person, die den ehrwürdigen Platz einnimmt. Wie es ausgeht – ist wahrlich schwer zu sagen. Es beginnt aber die Entfremdung, die Simmel als Verlust der Einzigartigkeit versteht. Sicherlich wird eine Einzigartigkeit durch eine andere ersetzt. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass wir die Zeiten Merkels – stabile, pragmatische, apathisch energische und für das Geschäft leidenschaftliche Zeiten – bald sehr vermissen werden.
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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.