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Ein AKW bleibt in Polen immer noch eine abstrakte Vorstellung

Ein Gespräch mit Kacper Szulecki. Von Jarosław Kuisz · 24 January 2022

„Polnisches Atom bleibt immer noch im abstrakten Bereich. Als wir 2013 angefangen haben, das Buch zu schreiben, sollte der erste AKW-Block, wahrscheinlich in Żarnowiec, 2021 entstehen. Heute können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass wir es vor 2033 nicht schaffen, irgendeinen Block in Betrieb zu nehmen”, meint Kacper Szulecki.

Jarosław Kuisz: Die Regierung plant, dass 2033 in Polen der erste Block in einem AKW ans Netz geht. Gemeinsam mit Tomasz Borewicz und Janusz Waluszko hast du das Buch „«Bez atomu w naszym domu!».. Protesty antyatomowe w Polsce po 1985 roku” [Kein Atom bei uns zu Hause. Proteste der Atomgegner in Polen nach 1985] geschrieben. Haben die Polen keine Angst mehr vor Atom?

Kacper Szulecki: Ich weiß nicht, ob die Angst tatsächlich das Wichtigste hier ist – und ganz bestimmt möchte ich hier keinen Gegensatz „irrationale Angst gegen rationale Ruhe” darstellen. Bei einem solchen Ansatz wird das Bild der Wirklichkeit im gewissen Grad verzerrt. Erstens war 1986, als sich der Störfall in Tschernobyl ereignet hatte und in der Zeit direkt danach, die Angst wirklich sehr realistisch. Sie bezog sich vielleicht nicht primär auf die Katastrophe selbst, sondern darauf, welch enorme Gefährdung damals ausgeblieben ist. Sie hing auch gewissermaßen mit der Angst vor einer nuklearen Vernichtung zusammen, zu der es im Kalten Krieg kommen konnte. In Polen ist das Thema immer noch nicht erforscht worden und wir unterscheiden uns im europäischen Vergleich insoweit, als es bei uns nie eine Bewegung gegen die Atomwaffen gab.

Zweitens ist die Angst häufig eine andere Art zu empfinden und eine Sensibilität, die für soziale Bewegungen und für die Protestteilnehmer charakteristisch ist. Das sehen wir auch gegenwärtig, wenn wir auf den Schulstreik für das Klima oder auf Extinction Rebellion schauen, die auch die Komponente der Angst und der Gefühle betonen.

In eurem Buch gibt es ein fantastisches Foto von einem Studentenprotest aus Mai 1986, auf dem ein Kind ein Transparent mit dem Satz „ich habe Angst vor Żarnowiec” hält. Ich kann mich selbst daran erinnern, als wir damals in der Grundschule mit der scheußlichen Lugolscher Lösung zwangsgepumpt wurden. Diese Angst resultierte zum großen Teil aus dem Unwissen, aber sie war bei den Protesten und in der Bevölkerung gegenwärtig. Ich habe den Eindruck, es war eine Emotion, die dazu geführt hat, dass das Thema „Atom“ nach 1989 so ungern in Polen angesprochen wurde.

Ja, aber die Angst war selbstverständlich nicht die einzige Komponente. Ich glaube, dass die Befürchtungen im Zusammenhang mit einem AKW heutzutage aus zwei Gründen geringer sind. Erstens ist die Erinnerung an Tschernobyl schon ziemlich stark verblasst. Unlängst rückte dieses Thema ein wenig ins kollektive Bewusstsein dank der Filmserie und dankt dem ukrainischen Spielfilm, diese Beiträge werden aber als historisches Material wahrgenommen. Die Katastrophe in Fukushima hatte wiederum in Polen keine großen Auswirkungen auf die Atomdebatte.

Zweitens ist das Vertrauen in die polnische Technologiekultur größer als Ende der 80er Jahre. Das halte ich aber nicht für so selbstverständlich und wahr. Neben der Technologiekultur sind in der Kernkraft auch das Risikomanagement und das Einhalten von Abläufen wichtig. Vergiss nicht, dass wir über ein Land reden, das drei Viertel seiner politischen Elite am Bord eines Flugzeugs fliegen ließ. Vorbereitungen zu vernachlässigen und Abläufe zu missachten, ist leider immer noch ein ziemlich wichtiger Bestandteil polnischer Kultur.

Die Einstellung der Polen gegenüber dem Atom ändert sich, allerdings ist sie sehr schwer einzuschätzen, nachdem es keine guten und repräsentativen Studien hierzu gibt.

Gibt es sie nicht?

Es gibt diverse Studien, aber deren Methodologie erweckt häufig Bedenken und je nachdem, wer sie macht, bekommen wir unterschiedliche Ergebnisse. Da hängt viel davon ab, wie die Frage gestellt wurde und ob die Studie landesweit repräsentativ durchgeführt wurde, oder man sich auf eine Region fokussiert hat, in der so ein AKW tatsächlich entstehen kann. Wenn ich dich fragen würde, ob du „Atom für eine wichtige Energiequelle hältst”, und jemand anders wiederum fragen würde, „ob du mit dem Bau eines Reaktors im Dorf nebenan einverstanden bist”, würdest du wohl diese Fragen unterschiedlich beantworten, und keine dieser Antworten wird deine Einstellung zur Kernkraft richtig widergeben.

Schlüsselwichtig ist hingegen die Tatsache, dass das polnische Atom immer noch im abstrakten Bereich bleibt. Als wir 2013 angefangen haben, dieses Buch zu schreiben, sollte der erste AKW-Block, wahrscheinlich in Żarnowiec, 2021 entstehen. Heute können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass vor 2033 kein Block in Betrieb genommen wird.

Dieser Horizont verschiebt sich die ganze Zeit und für die Mobilisierung eines gesellschaftlichen Widerstands ist eine realistische Gefahr notwendig. Das konnte man in Polen etwa 2012 beobachten, als es zu Protesten in Gąski kam, die wir auch im Buch beschreiben, oder in Żarnowiec und in der Dreistadt [Gdańsk, Gdynia und Sopot] im Jahre 1989, als der Bau des AKW unvermeidlich schien.

Bist du dafür, dass ein Atomkraftwerk in Polen gebaut wird?

Ich bin kein Anhänger des AKW-Baus in Polen. Vor allem meine ich, dass keine zwingende Notwendigkeit besteht. Es ist ein kostspieliger Zusatz, mit dem Träume einiger Experten der Energiewirtschaft, einiger Wissenschaftler und eines großen Teils der Politiker, insbesondere aus dem Regierungslager, erfüllt werden. Polen kann auch ohne AKWs und zwar erfolgreich auskommen, da das mit der Kernenergie verbundene Risiko, selbst wenn es sehr niedrig ist, doch realistisch bleibt.

Bei der Kernenergie ist solch ein Unglück, auch wenn es wenig wahrscheinlich ist, da dabei mehrere Fehler und Pannen – zum Beispiel ein Konstruktionsfehler, also Menschenversagen und dann irgendeiner unvorausschaubarer externer Faktor – zusammenkommen müssen, viel katastrophaler als bei irgendwelchen anderen Energiequellen. Während man die Tschernobyl-Katastrophe damit erklären kann, es sei im kommunistischen Stil gepfuscht worden und das System sei korrupt gewesen, wie es die Rechten gerne behaupten, ist Fukushima, wie es die Technologieforscherin Majia Nadesan darstellt, ein Beispiel dafür, wie der Kernenergiesektor im Kapitalismus das Risiko privatisiert, indem die Kosten auf die Anwohner und auf die gesamte Gesellschaft abgewälzt werden.

Die Regierung besteht darauf, das Jahr 2033 sei ein realistisches Datum für die Inbetriebnahme des ersten Blocks eines Kernkraftwerkes in Polen. Ich schaue darauf mit fachfremden Augen und es macht mich stutzig, dass die Franzosen gerne ein AKW bei uns bauen würden, während sie zu Hause über die Stilllegung ihres eigenen Atomreaktors diskutieren.

Frankreich hat beschlossen, Anteil der Kernkraft in ihrem Energiemix zu beschränken. Infolgedessen beschwert sich das französische Unternehmen EDF (Électricité de France) – der nationale Energiechampion, der unter anderem Atommeiler baut, wegen Auftragsmangel. Und plötzlich kommt Warschau, das verkündet, man möchte in den kommenden 25 Jahren 9000 MW installierte Kernenergieleistung bauen.

Es ist eine enorme Investition und wenn die Umsetzung gelingen würde, wäre Polen das zweitgrößte Kernenergieland Europas. Alle Unternehmen aus der Branche reißen sich um diesen Leckerbissen.

Genauso haben es die Amerikaner gemacht – die Firma Westinghouse, die vor einer nicht allzu langen Zeit Insolvenz anmeldete, baute zuletzt einen neuen Reaktor im Jahre 2007. Die Vorstellung, man könnte die Geschäftstätigkeit dank lukrativen Aufträgen weitere zwanzig Jahre fortführen, ist sehr verlockend. Kein Wunder, dass die Japaner, die Koreaner, die Franzosen und die Amerikaner daran sehr interessiert sind. Die Russen sind ebenfalls interessiert, aber niemand würde sie hier hereinlassen, das wäre zwar am billigsten, aber aus politischen Gründen haben sie keine Chance.

Enorme Kontroversen erregte in Polen die Gaspipeline Nord Stream 2, deren Bau derzeitig abgeschlossen wird. Den Deutschen gefällt wiederum die polnische Vorstellung betreffend Kernkraft nicht. Gibt es in Berlin den politischen Willen und die Möglichkeiten, den polnischen Plan zur Entwicklung der Kernenergie zu blockieren?

Ich bemühe mich immer, nicht über Nationen, nicht über „die Deutschen“, sondern konkret über eine deutsche Partei – hier: Die Grünen – zu reden, die einen Bericht über potentielle negative Auswirkungen herausgegeben hat, die eintreten würden, falls sich ein ernsthafter Unfall in einem Kernkraftwerk in Polen ereignet. Gerade den Grünen kann man nur schwer die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen dem Atom und dem russischen Gas vorwerfen, denn es ist die einzige Partei im Bundestag, die sich konsequent gegen Nord Stream äußert. Der vorgenannte Bericht wurde durch diverse polnische Organisationen, auch durch die Regierung kritisiert, jedoch vor allem im Sinne der Aarhus-Konvention über die grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen sind alle Staaten, die von den Auswirkungen des jeweiligen AKW-Betriebs betroffen sein könnten, berechtigt, solche Stellungnahmen abzugeben.

Das soll man im Auge behalten, insbesondere im Hinblick auf den Braunkohlebergbau Turów, der den Streit zwischen Polen, der Tschechischen Republik und Deutschland ausgelöst hat.

Ich glaube, die Deutschen sind nicht in der Lage, polnische Kernkraftpläne zu stoppen, Tatsache aber ist, dass einzelne Interessengruppen für Lösungen lobbyieren, die im Widerspruch zur polnischen Strategie stehen. Der deutsche Plan ist anders – keine Kernkraft, nur erneuerbare Energiequellen. Zwangsläufig versuchen die Deutschen dieses Modell auch auf der europäischen Ebene zu bewerben. Rechtsorientierte Publizisten erfinden dazu Verschwörungstheorien, denn sie glauben, dass Deutschland irgendwie zum Großhändler für russisches Gas wird. Und hier geht es vor allem um einen Paradigmenwechsel in der Energiewirtschaft. Soll nämlich die Energieerzeugung auf instabilen erneuerbaren Energiequellen basieren, dann brauchen wir ein Umdenken für das kontinentale System und je schneller dieses Umdenken europaweit und nicht nur in den einzelnen Ländern eintritt, desto besser wird dieses System funktionieren.

Im Narrativ der jetzigen Regierung wird betont, dass dank dem AKW-Bau unsere Souveränität gestärkt wird.

Wenn ich etwa die Stellungnahmen von Jarosław Kaczyński lese, der kein Energieexperte ist, von dem aber am Ende des Tages alles abhängt, dann komme ich zum Schluss, dass er die Kernkraft als Fortschritt auffasst. Somit sind alle modernen, selbstbewussten Staaten in der Pflicht, ein Atomkraftwerk zu haben.

Das stimmt nicht ganz – wenn man die globale Landschaft der Atomkraft sieht, dann kommen viele Staaten ohne sie aus – außer Österreich, zum Beispiel Italien und Australien, also Länder mit vielfach größeren Volkswirtschaften als die polnische. In Polen ist es im hohen Grade die Frage des Nationalstolzes – auch unter den Eliten der Partei Platforma Obywatelska (Bürgerpflattform). Donald Tusk tickte genauso.

Zweiter Aspekt ist der wirklich tief verankerte Autarkie-Gedanke, also die Vorstellung, dass sich unsere Energieversorgung selbst tragen sollte. Es ist einmalig in Polen, denn tatsächlich waren wir Jahrzehnte lang in der Lage, Strom nahezu ausschließlich aus der Verbrennung polnischer Kohle zu erzeugen. Viele Energiefachleute sind der Meinung, dass wir jetzt ähnlich funktionieren sollten.

Doch eine moderne Energiewirtschaft wird in der Zukunft auf Wechselwirkungen basieren. Wir konnten uns davon im Mai überzeugen, als es zu einem ernsthaften Ausfall im Kraftwerk Bełchatów kam, das für 17 Prozent der Energieerzeugung im Lande verantwortlich ist. Ohne Importe und grenzüberschreitende Bilanzierung wären wir nicht in der Lage gewesen, einen landesweiten oder gar europaweiten Blackout zu verhindern, denn dieses System arbeitet synchron.

Das Atomkraftwerk in Żarnowiec, die Quelle: Wikipedia

Als ich das Buch „Bez atomu w naszym domu” gelesen habe, erinnerte ich mich an die Proteste gegen den AKW-Bau in Żarnowiec. Wird ein neuer Standort genannt, dann kann ich mir schwer vorstellen, dass die Gemeinschaften vor Ort einfach anerkennen, es sei ein Symbol des Modernen und des Guten auf Erden.

Ich habe den Eindruck, die Regierung wiederholt nun das Szenario aus Żarnowiec. Die Entscheidung über den Bau des Kraftwerks wurde im Januar 1982 getroffen. Das waren die ersten Tage des Kriegsrechtes und die Regierung wollte die Gunst der Stunde nutzen, um ohne Konsultationen mit der Gesellschaft eine Entscheidung zu treffen, die weitreichende Konsequenzen hatte.

Jetzt sieht alles wirklich ähnlich aus. In den Regierungszeiten der Bürgerplattform wurden bereits drei AKW-Standorte benannt. Die Einwohner dieser Gemeinden erfuhren es häufig aus dem Fernsehen und es bildeten sich lokale Protestbewegungen. Ich vermute, dass es jetzt ähnlich sein wird – alles wird da oben und ohne Konsultationen entschieden. Und alleine aus dem Grund – im Sinne des Slogans „nichts über uns ohne uns” – werden sich diese lokalen Gemeinschaften organisieren, denn der zivile Ungehorsam ist in Polen recht gut verwurzelt. Das haben wir bei unterschiedlichen Situationen beobachtet: im Zusammenhang mit dem Urwald von Białowieża oder bei Protesten gegen das Abtreibungsverbot. Sehr schnell stellt es sich heraus, dass alle sehr wohl wissen, wie die Proteste zu organisieren sind, und wenn es nicht direkt die Protestierenden sind, dann haben sicherlich ihre Eltern oder Großeltern die nötige Erfahrung.

An diese Prozesse erinnert ihr auch in eurem Buch.

Wir beschreiben dort ziemlich viele Strategien und Taktiken, die die Protestierenden einsetzen. Am interessantesten war ein in der polnischen Geschichte sehr seltenes Phänomen eines zivilgesellschaftlich organisierten Referendums 1990 wegen Żarnowiec an der Ostseeküste. Innerhalb einer knappen Woche ist es gelungen, in der ganzen Woiwodschaft einen Volksentscheid zu organisieren, in dem sich 86 Prozent der Stimmberechtigten bei einer Beteiligung von 44 Prozent dagegen ausgesprochen haben. An dem Verfahren haben über eine Million Menschen teilgenommen, es war also enorme und außerordentliche Mobilisierung in einer Krisensituation.

Die Geschichte lehrt uns, dass eine Entscheidung über die Inbetriebnahme eines AKWs im Grunde genommen eine autoritäre Entscheidung ist: sie muss von oben kommen.

Häufig ist es der Fall und man kann sehen, dass aktuell Kernkraftwerke in der Welt eher in nicht demokratischen Staaten gebaut werden. Der größte Absatzmarkt ist China und der größte Hersteller der Reaktoren – Russland. Der russische staatliche Gigant Rosatom baut jetzt zum Beispiel in der Türkei, in Usbekistan, im Nahen Osten und in Afrika.

Interessant sieht hier eine Gegenüberstellung von Deutschland und Frankreich, weil wir alle denken, die Deutschen wären schon immer Atomgegner gewesen, was nicht stimmt – noch in den 60-ger Jahren waren sie eher atomenthusiastisch. Den stärksten Widerstand gegen die Kernkraft gab es hingegen in Frankreich in der ersten Hälfte der 70-ger Jahre. Die Zentralisierung und die Durchsetzungskraft der Regierung in Paris sowie zahlreiche Verbindungen zu den Energiekonzernen, vor allem zu EDF haben bewirkt, dass die Protestierenden nicht viel Spielraum hatten, ihre Argumente zu präsentieren.

Die Polizei ist gegen alle Aktivitäten sehr brutal vorgegangen, vor allem in Elsass. Deutsche Aktivisten, die die Proteste in Frankreich unterstützten, waren der Meinung, die Polizei in der BRD wäre am strengsten, weil sich ihr Personalbestand noch in den 60-ger und 70-ger Jahren zum großen Teil aus ehemaligen Nazis und Anhängern der Rechtextreme rekrutierte, aber sie kamen aus Frankreich völlig zugerichtet und überzeugt von der extremen Brutalität der französischen Beamten nach Hause. In unserem Buch beschreiben wir auch polnische Versuche, den Spielraum und die bürgerlichen Freiheiten im Bereich des zivilen Widerstands um die Kernkraft herum zu beschränken.

Ich habe den Eindruck, dass die Frage des AKW-Baus die ganze Zeit jenseits der einfachen Trennlinien zwischen Links und Rechts, zwischen den Kommunisten und den Postkommunisten oder gar zwischen PiS und PO bleibt. Es ist ein Thema, welches in die Schemata nicht passt, mit denen ein paar vergangene Jahrzehnte beschrieben werden.

Das kann man in den Kapiteln sehen, in denen wir die Debatten im Parlament und im Rahmen der Umweltgruppe des Runden Tisches beschreiben. Am Anfang sind die Experten der kommunistischen Partei dafür und die Vertreter der „Solidarność” dagegen. Anders sieht es schon bei den Abgeordneten aus – ein Teil der „Solidarność”-Fraktion unterstützt die Kernkraft sehr stark, es gibt aber auch Vertreter der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, die gegen das Projekt sind. Alleine die Quellen zu durchforsten, war schon ein sehr interessantes Studium der neusten Geschichte, weil wir da wirklich viele Überraschungen entdeckten. Natürlich ist der Verlauf der Grenzen zwischen den jeweils vertretenen Meinungen auch heute sehr interessant. Dass die Kernkraft Zuspruch bei einem Teil der PiS-Partei, bei den Parteien Razem und Konfederacja findet, ist wohl das beste Beispiel.

In den Protesten in den 80-ger Jahren haben unabhängige Bewegungen und junge Opposition sehr große Rolle gespielt, vor allem war es die Bewegung Wolność i Pokój (Freiheit und Frieden), deren Mitglied einer unserer Co-Autoren Tomasz Borewicz war, der leider inzwischen im Jahre 2015 gestorben ist, bevor das Buch herausgegeben wurde. Eine andere wichtige Komponente war Ruch Społeczeństwa Alternatywnego (Bewegung der Alternativen Gesellschaft), also die erste Generation polnischer Anarchisten – Janusz Waluszko, der zweite Co-Autor, gehörte zu den Gründern.

Von Bedeutung waren auch Erzkonservative Bewegungen, etwa Wolność i Pokój aus Gorzów Wielkopolski. Heute ist es die national-konservative Rechte, die damals eindeutig an der Seite der Atomgegner stand. Die Beweggründe der Menschen waren sehr unterschiedlich, gemeinsam waren für sie hingegen die Frage der öffentlichen Gesundheit und des Schutzes der Gesundheit vor der damals real existierenden Gefahr sowie der Widerstand gegen das kommunistische System und gegen den damit assoziierten Führungsstil: undemokratisch, technokratisch, ohne Respekt für soziale Fragen. Heute wissen wir schon, dass gerade die letzteren Fragen in der polnischen vulnerablen Demokratie genauso aktuell sind.

Ich muss nach dem Rezensenten dieses Buches fragen, nach Piotr Gliński. Wie kam es dazu?

Wir sind sehr stolz auf diese Rezension, zumal wir sie 2014 bekommen haben, also bevor Prof. Gliński stellvertretender Ministerpräsident und Minister geworden ist.

Man muss bedenken, dass Prof. Gliński ein Experte für Umweltproteste in Polen und der ehemalige Mitgründer der ersten Polnischen Partei der Grünen ist. Er hat auch einen Solidarność-Lebenslauf und er kannte viele Teilnehmer der Proteste persönlich, daher sollte seine positive Bewertung nicht wundern. Allerdings werteten wir sie wirklich als eine Medaille, vielleicht eine Art Medaille des Lächelns, die wir unbedingt auf dem Umschlag präsentieren wollten und wir hoffen, Prof. Gliński ist uns nicht böse.

Letzte Frage – glaubst du, dass in Polen ein Atomkraftwerk entstehen wird?

2012 habe ich – leider kann ich mich nicht erinnern, mit wem es war – eine Wette abgeschlossen, dass es nicht passieren wird, eben aus den erwähnten Gründen. Ich denke, dass die Proteste, nachdem die Details öffentlich werden, ein derartiges Ausmaß erreichen werden, bei welchem dieses Projekt scheitert.

Und das fürchte ich sehr, denn die Geschichte von Żarnowiec ist im Grunde genommen eine tragische. Unter den Protestierenden und den bei dem Bauvorhaben beschäftigten Personen gibt es Geschichten der zerstörten Lebensläufe. Die Karrieren der durch die Partei benannten, für den Bau zuständigen Direktoren wurden zerstört, einige Protestierende haben ihr Engagement mit Zerfall ihrer Familien bezahlt und gerieten in der neuen Wirklichkeit ins Abseits, weil sie in der Zeit, in der die anderen ihre Firmen gründeten und Wind in die Segel bekamen, in den Zelten vor dem Gebäude des Ministerrates froren oder Hungerstreik führten. Żarnowiec ist ein Symbol der Vergeudung enormer Ressourcen, menschlicher Energie und Zeit. Deswegen ist es notwendig, Konsultationen mit der Gesellschaft vor der Entscheidung und nicht im Nachhinein als Evaluation durchzuführen.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.