Karolina Wigura: Herr Streeck, wie ist es um die gegenwärtige Verfassung des europäischen Wohlfahrtsstaats bestellt?
Wolfgang Streeck: Wir sehen ganz deutlich, dass im Mittelmeerraum, einschließlich Portugal, Italien und Griechenland, 50 Prozent der jungen Menschen arbeitslos sind, die Renten ständig gekürzt werden, die Gesundheitssysteme an ihre Grenzen stoßen und zum Teil bereits zusammen gebrochen sind. Diese seit den 1930er Jahren längste Krise – sie ist ja schon fast fünf Jahre alt- ist der Anlaß dafür, dass in diesen Ländern alles was man mit dem Wohlfahrtstaat, Versicherungen, Arbeitsmarktpolitik usw., mit dem ganzen demokratischen Kapitalismus verbindet, sozusagen radikal abgeräumt wird. Aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur ist Deutschland in einer ganz anderen Situation. Wir sind nicht so auf Finanzen und Banken konzentriert wie zum Beispiel Großbritannien. Und wir können diese wunderschöne Audis und Mercedes und Volkswagen in die Welt exportieren… Man kann aber selbst in Deutschland einen Prozess des Staatsabbaus, des Rückbaus des Staates, beobachten. Überall ist auch die Liberalisierung der sozialen Sicherheitssysteme zu beobachten. Großbritannien ist ein klassischer Fall, aber auch die skandinavischen Länder befinden sich in einem Prozess der systematischen Beschränkung staatlicher Aufgaben im Bereich der sozialen Sicherung.
Was sind die Ursachen dieses Prozesses?
Die Wohlfahrtstaaten sind heute in hohem Masse verschuldet. Und diese Schuldenpyramide hat zur Folge, dass die Kreditgeber – also die Geldmärkte – immer stärkere Beweise dafür verlangen, dass diese Schulden in Zukunft bedient werden können. Das ist eher ein Kampf der Rentiers gegen die Rentner. Verstehen Sie, die Rentiers sind die, die Zinsen bekommen und die Rentner sind die, die Renten bekommen… Wer hat als erster Anspruch auf die Konkursmasse des Wohlfahrtstaats? Die Rentiers sind natürlich der Absicht, es muss durchgesetzt werden, dass sie die ersten sind. Historisch waren aber Staaten immer in erster Linie dem Bürger verpflichtet, und nicht den Finanzmärkten. Es gibt aber keine Möglichkeit im internationalen Recht, womit die Staaten völlig einseitig erklären könnten, dass sie ihre Schulden nicht mehr bezahlen können. Deshalb wird dieses Problem zur Zeit gelöst, indem die Staaten unter Druck gesetzt werden, in erster Linieund zur Not auf Kosten ihrer Bürger ihre Schulden zu bezahlen.
Wenn wir über die wichtigsten Quellen der Legitimität für das europäische Projekts nachdenken, finden wir meiner Meinung nach zwei. Erstens, die Angst von der totalitären Vergangenheit. Zweitens, das Versprechen von Wohlfahrt, das für Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Europäischen Sozialstaat verbunden wurde. Wir sind aber in der Mitte eines Prozesses des Vergessens: Für die neuen Generationen der Europäer ist das Motto „Nie weniger“ immer weniger klar. Mit der Krise des Wohlfahrtstaates ist auch die zweite Quelle der Legitimität hinfällig… Finden Sie diese Situation für die Europäische Union gefährlich? Wo können wir nach neuen Legitimitätsquellen suchen?
Ich bin nicht sicher, ob man das so sagen kann. Was dem ersten Teil betrifft, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Nach dem Krieg ging es darum, den westlichen Teil Deutschlands so anzubinden, dass von Deutschland keine Gefahr mehr ausgehen konnte. Das war zum Teil gesichert durch die deutsche Teilung, und zum Teil dadurch, dass man den Deutschen eine Möglichkeit eröffnet hat, in Europa friedlich zu leben. Und dieses Leben bestand darin, dass die Deutschen, die immer eine starke Industrieproduktion hatten, die gesicherte Möglichkeit bekamen, ihre Waren innerhalb Europas zu verkaufen. Die Sicherung der Absatzmärkte, die für Deutschland immer ein zentrales Problem war, wurde auf diese Weise sichergestellt.
Und was den Wohlstand betrifft?
Der entstand so, dass man die Märkte erweiterte, und dies hatte eine im klassisch liberalen Sinne Herstellung von Wohlstand durch Freihandel zur Folge. Eine notwendige Korrektur der Marktwirtschaft auf nationaler Ebene in Gestalt desWohlfahrtstaats hat stattgefunden. Märkte wurden eingerichtet, man musste diese aber gleichzeitig korrigieren, soziale Sicherheiten einbauen, Streikrechte gewährleisten usw. Diese Korrekturen fanden auf nationaler Ebene statt. Und dies ging bis in die 1990er Jahre gut, als die Liberalisierung der Ökonomie in Westeuropa einen Punkt erreicht hatte, wo sie auch die nationalen – nennen wir sie mal – „Marktbremsungsregime“ anfing, anzugreifen. . Seitdem ist die EU eher zu einer Kraft des Neoliberalismus und weniger des Wohlfahrtstaats geworden. Wir haben heute eine Situation, in der die alten Formen des Schutzes vor Märkten in den westlichen Ländern ständig durch die Europäische Kommission aus Brüssel angegriffen und dominiert werden. Insofern kann man nicht mehr sagen, dass die Legitimität der europäischen Integration heute auf der Korrektur des Marktes basiert, sondern sie basiert auf der Durchsetzung des Marktes.
In ihren Büchern schreiben Sie, dass die Meinung, dass Demokratie und Kapitalismus integriert werden können, in Wirklichkeit eine Illusion war. Denken Sie, dass hier der Fehler gemacht wurde? Ich muss sagen, ihre Diagnose ist aus der polnischen Perspektive nur schwer zu akzeptieren, da in Polen die marktwirtschaftliche Reformen schnell den demokratischen Durchbruch zur Folge hatten…
In Wirklichkeit haben bis 1945 nur wenige Leute geglaubt, dass eine Gesellschaft sowohl kapitalistisch als auch demokratisch sein kann. Es gab immer Angst vor dem Konflikt zwischen den alten feudalen Eliten und der Arbeiterbewegung. Das genau gab es in Deutschland zwischen den Kriegen. Erst nach 1945 – in dieser historisch einmaligen Situation, in der der Westen mit dem Osten konfrontiert wurde – erst da ist es für eine längere Zeit gelungen, diese beide Ordnungen – die kapitalistische Wirtschaftsordnung mit der demokratischen politischen Ordnung in einem Land zu vereinigen. Das hatte aber eine ganze Reihe von Voraussetzungen. Dazu gehörte z. B, dass die Demokratie den Markt korrigieren konnte. Kapitalismus ohne Umverteilung ist nicht akzeptabel für die Menschen. Das bedeutete weniger Ungleichheit, mehr soziale Sicherheit, progressive Besteuerung, kostenlose Gesundheitssysteme usw. Seit den 1970er Jahren sehen wir, das die Möglichkeit diese Forderungen durchzusetzen immer mehr zurückgeht. Denken sie nicht, dass hier nur die Krise wirkt. Diese Abbauprozesse, die hier stattfinden sind von Dauer. Wir haben die Kapitalmärkte soweit liberalisiert, dass diejenigen, die in Griechenland Steuern kassieren konnten mittlerweile in London sind.
Würden Sie sagen, dass in dieser Situation die Occupy Bewegungen eine Chance haben, eine wirkliche Veränderung durchzusetzen?
Unter dem Druck der Finanzmärkte und der Krise bedeutet Demokratie immer weniger. Und die Menschen sind in diesem Alltag gefangen. Sie werden auch dadurch unter Druck gesetzt, dass die Regierungen sagen, das machen wir nicht, und das auch nicht, damit die Zinsen auf unsere Schulden nicht wachsen. Die Finanzsysteme sind mittlerweile so komplex und abstrakt und undurchschaubar geworden, dass wenn man jetzt von den Leuten verlangt, dass jemand mit einer Alternative kommt, sie ganz erschrocken sind.
Wir haben bis jetzt über die West- und Südeuropäischen Länder gesprochen. Und wenn wir jetzt Mittel- und Osteuropa anschauen? Hat Polen, heute der größte Nutznießer des europäischen Budgets, ähnliche Probleme?
In Polen ist dasselbe Schicksal möglich wie in den Mittelmeerländern, nur zeitverzögert. Wenn sie in die 1980er Jahre zurückschauen, dann haben die Mittelmeerländer aus Brüssel laufend erhebliche Mittel bekommen, genau wie Polen jetzt. Dann kam aber 1989.Südeuropa konnte nicht mehr wachsen. Brüssel hat angefangen die Mittel nach Osteuropa zu schicken.Anfang der 2000er Jahre hat es dann im Mittelmeerraum, unter anderen durch die Währungsunion, eine Senkung der Zinsen auf Schulden gegeben. Die Idee war, dass man mit den Schulden ersetzen konnte, was man aus Brüssel nicht mehr bekommen konnte. Wenn Polen nicht dasselbe Modell widerholen möchte, müsste es, bevor es zu spät ist, strategisch anders über die Zukunft denken. Das heißt, die regionalpolitischen Förderungsmittel so einzusetzen, dass diese nicht nur konsumptiven Charakter haben. Wenn Sie das hinkriegen, dann wird Polen eine große Chance haben. Aber es wird schwierig. Und man muss schnell denken, denn die Europäische Union wird in Kürze den gesamten Balkan aufnehmen und die Mittel dorthin transferieren. Wenn Polen dies nicht tut, wird in dem Moment, wenn die Polen diese Mittel zurückgeben, Angst, Schrecken und Elend ausbrechen.