Special Reports / Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Ein gespaltenes Europa?

Jacek Saryusz-Wolski · 5 March 2013
Im geopolitischen Sinne bildet sich vor unseren Augen eine Union der zwei Geschwindigkeiten und zwei Legitimitäten heraus.

Wird dieser Prozess nicht aufgehalten, wird sich um die Eurozone, die die Integration vertieft, ein Ring aus den übrigen Mitgliedsländern bilden, die mit dem davoneilenden Zentrum nicht mehr mithalten können.

Das Vertrauen wieder aufbauen

Der wirtschaftliche Kollaps hat das Ungleichgewicht und die Schwächen der europäischen Konstruktion enthüllt. Er hat auch die Ausmaße der Wohlstandsstaaten enthüllt und zwingt dazu, diesen Wohlstand zu revidieren. Die Strukturreformen, die die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft sowie ihre Innovativität beeinflussen, sind notwendig, wie schmerzhaft sie auch immer sein mögen. Sie bedeuten ganz und gar nicht ein Abwenden von der Legitimität der EU, die auf Wohlstand basiert, sondern ihre Neudefinierung und die Einführung von Regelungen, die einhaltbar sind, ohne dass die Gesamtkonstruktion in Gefahr gerät.

Jahrelang haben die europäischen Gesellschaften mehr ausgegeben als sie eingenommen haben, während die Politiker die verantwortungsvolle Verwaltung öffentlicher Gelder auf dem Altar des Wahlkampfes opferten. Der Wille, den Wünschen der Gesellschaft und dem Versprechen eines allgemeinen Wohlstandes gewachsen zu sein, hat in vielen Ländern zu einer Überschuldung von Staat und Banken geführt- dies ist die Antithese zur Sorge um das Gemeingut.

Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen Europa zu kämpfen hat, ist es oft schwer, die negativen Folgen langjährigen verantwortungsloser Entscheidungen von Mitgliedsländern, Banken und den Bürgern selbst von reinen EU-Maßnahmen zu unterscheiden. Insbesondere, weil auf das symbolische „Brüssel“ oft die Schuld für Phänomene geschoben wird, auf die Brüssel im Grunde keinen Einfluss hatte. Diese Verformung der Rolle der EU ist besonders in der entstellten öffentlichen Debatte in Großbritannien zu sehen, sie kommt aber auch in anderen Ländern vor, unter anderem in Polen.

Ein gutes Funktionieren der neuen Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion in der Zukunft (hoffentlich erweitert auf alle Mitgliedsstaaten, die dies wollen), in ihren neuen Dimensionen wie die Fiskalunion, die Bankenunion, die wirtschaftliche und politische Union, wird ein wichtiges Legitimationselement des europäischen Projektes sein. Dann wird neben der formalen demokratischen Legitimation, die auf demokratischen Entscheidungsprozeduren basiert, deren wichtigste Stütze und Hoffnung das Europäische Parlament ist, noch einmal die sogenannte Output-Legitimation an Bedeutung gewinnen, sprich die Fähigkeit des europäischen Systems, Sicherheit und Wohlstand zu garantieren.

Das Zentrum entfernt sich

Auf diese Weise wird als Konsequenz der Krise oder vielleicht dank der Krise die mögliche weitere Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses skizziert. Leider ist dieser Prozess nicht frei von Schwachpunkten. Er kann dazu führen, dass ein halbherziges Europa entsteht, das gespalten ist, teilweise flach und territorial reduziert. Deutlich präsent sind nämlich die Absichten, zu einem kleinen karolingischen Europa zurückzukehren, sich zurückzuziehen von der Erweiterung zugunsten einer engeren Integration im Rahmen der Eurozone selbst, hauptsächlich in Westeuropa. Die Wiederherstellung der Teilung Europas in die Eurozone und die übrigen Mitgliedsländer, stellt derzeit die größte Gefahr dar.

Beunruhigend ist die wachsende Solidarität der Eurozone auf Kosten der allgemeinen Solidarität in der EU. Sie stellt die Integrativität und die Legitimation der gesamten Gemeinschaft infrage. Unterdessen denkt man in manchen Kreisen der sogenannten alten EU immer häufiger darüber nach, separate Institutionen für die Eurozone zu gründen und ihr das Recht auf Selbstbestimmung und ein separates Budget zu gewähren. Eine Spaltung kann also Institutionen mit grundlegend gemeinschaftlichem Charakter betreffen, indem sie zwei diametrale Solidaritätslevel sowie zwei divergente ökonomische Zielrichtungen hervorbringt – die der Eurozone und die schwächere, eingeschränkte, die weniger ausgerichtet ist auf beispielsweise Sozialfragen innerhalb der 27, bzw. bald schon 28 Staaten.

Im geopolitischen Sinne bildet sich jedoch vor unseren Augen eine Union der zwei Geschwindigkeiten und der zwei Legitimierungen heraus. Wenn dieser Prozess nicht aufgehalten wird, wird die Eurozone, die die Integration vorantreibt, bald von einem Ring umgeben sein, bestehend aus den übrigen Mitgliedsländern, die mit dem davoneilenden Zentrum nicht mehr mithalten können.

Die Perspektive eines gespalteten Europas, mit einer doppelten Legitimation, birgt die Gefahr, dass sich zwei verschiedene Varianten herausbilden für die Umlegung dieser Werte auf konkrete Entscheidungen, die gemeinsam getroffen werden. Polen steht heute vor einer fundamentalen und strategischen Wahl – entscheiden wir uns für die Peripherie oder für den Kern der europäischen Integration; geben wir uns zufrieden mit einer Legitimation, die auf die „Brüssel-Gelder“ reduziert ist, die nebenbei gesagt zusammenschrumpfen werden, oder suchen wir sie im europäischen zivilgesellschaftlichen Modell sowie im gemeinsamen Wertekanon?