Special Reports / Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Jarosław Kuisz · 5 March 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wenn der sozialdemokratische Finanzminister eines großen EU-Landes erklärt, der Sozialstaat werde nicht abgeschafft, sehr wohl aber müsse der Sozialstaat auf Schulden abgeschafft werden, dann klingt das wie ein eristisches Kabinettstück – und gibt Anlass zu Besorgnis.

Die beiden Experten Jørgen Goul Andersen und Knut Halvorsen attestieren den europäischen Politikern in ihrem Buch zur Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates eine weitreichende Amnesie: Sie hätten die einfache Wahrheit vergessen, dass dem Wohlfahrtsstaat ursprünglich die Idee zugrunde lag, durch die finanzielle Unterstützung einzelner Bürger könne man ihnen zu größerer individueller Freiheit und zu einer aktiveren Teilhabe an der Gesellschaft verhelfen. Heute ist nur noch die Rede von astronomischen Schulden, nicht konkurrenzfähiger Wirtschaften im Euroraum und unzufriedenen Bürgern. Bisweilen kann man sogar den Eindruck gewinnen, als fühlten sich alle irgendwie betrogen. Vielleicht sollte man also dem Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln für seine Offenheit danken, wenn er konstatiert, der Wohlfahrtsstaat sei Geschichte.

Wenn aber nicht der „Welfare State“, was dann? Die britischen Sozialdemokraten liebäugelten eine Zeit lang mit dem Begriff der „Big Society“, der auf der Idee des zivilgesellschaftlichen Engagements basiert. In Zeiten der Krise wollte man sich nicht dem Vorwurf aussetzen, man befürworte einen aufgeblähten und seine Bürger bevormundenden Staatsapparat. Die britischen Konservativen schieben die Schuld gern auf das „verschwenderische“ Brüssel. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals bastelte die Sozialistische Partei Frankreichs indessen an einer Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 75 Prozent und löste damit eine massive Steuerflucht aus – wahrte jedoch zumindest ihre linke Identität. Und die europäische extreme Rechte macht schon seit Jahren die Einwanderung für sämtliche Probleme verantwortlich.

Tatsächlich träumen die Europäer noch immer von einem Wohlfahrtsparadies. Aber was, wenn dies wirklich nur noch ein schöner Traum ist? Gerät durch den Wegfall eines der Grundpfeiler der europäischen Sozialordnung der letzten Jahrzehnte möglicherweise die Legitimation der gesamten EU ins Wanken?

Diese Fragen beantworten uns vier Autoren. Der namhafte deutsche Soziologe Wolfgang Streeck erklärt im Gespräch mit Karolina Wigura die Feststellung, der Wohlfahrtsstaat sei einer der Grundpfeiler der Europäischen Union für eine grobe Vereinfachung. Genau wie die Prophezeiung ihres Untergangs infolge der Krise von 2008. Ein solcher Grundpfeiler sei vielmehr der demokratisch-gezähmte Kapitalismus, ein Modell, das sich jedoch – aus Mangel an Alternativen – bereits seit den 70er-Jahren allmählich abnutzt.

Richard Sennett, einer der bedeutendsten Forscher zum Thema soziale Ungleichheit, nennt im Gespräch mit Jakub Krzeski zwar einige mögliche Alternativen, zweifelt jedoch an der Durchführbarkeit institutioneller Reformen. „Was mich bei dieser ganzen Krise am meisten beschäftigt, ist die Frage, warum es heute so schwer ist, die Menschen zu Protestkundgebungen zu mobilisieren. Die ganzen Occupy-Bewegungen sind zwar wirklich schön, aber bisher doch ein Phänomen mit einer sehr begrenzten Reichweite, dabei müssten wir längst zu wirklich radikalen Mitteln greifen”.

Jacek Saryusz-Wolski, Abgeordneter der Europäischen Volkspartei im Straßburger Parlament, warnt, dass infolge der Finanzkrise und der Krise des Wohlfahrtsstaates vor unseren Augen ein Europa zweier Geschwindigkeiten und zweier Legitimationen entsteht. Wenn es nicht gelingt, diesen Prozess aufzuhalten, wird die gemeinsame Eurozone bald von einer zweiten Umlaufbahn der übrigen Mitgliedsstaaten, die mit dem schnelleren Zentrum nicht mehr Schritt halten können, umgeben sein.

Łukasz Pawłowski schreibt über die von den britischen Konservativen verbreitete Vision des Wohlfahrtsstaates, dem Projekt Big Society. Dieses Konzept hat seit 2010 mit dem Versprechen starker lokaler Gemeinschaften, die den ausgebauten Staat ersetzen sollen, auch die Linken begeistert. Pawłowski erklärt, warum Big Society sich als Luftschloss entpuppt hat und wie es dazu gekommen ist, dass der Staat nichts im Gegenzug hinterlässt, wenn er sich aus immer mehr Bereichen zurückzieht.

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Das vorliegende Thema der Woche setzt eine Reihe über die Zukunft der Europäischen Union fort, die von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dem Magazin Kultura Liberalna erstellt wird.

Bisher erschienen: “Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?” mit Beiträgen von Ivan Krastev, Clyde Prestowitz, Karolina Wigura und Gertrud Höhler sowie “Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien”, das einzige Interview, das Peter Sloterdijk in den letzten Jahren der polnischen Presse gab. Weitere Ausgaben folgen in Kürze!

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.

Jarosław Kuisz


 

 

Konzept dieser Ausgabe: Łukasz Pawłowski.

Mitarbeit: Jakub Krzeski, Anna Piekarska, Jakub Stańczyk, Jutta Wiedmann.

Koordination des gemeinsamen Projektes der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und der „Kultura Liberalna”: Monika Różalska und Ewa Serzysko.

Illustrationen: Agnieszka Gietko.

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