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Die EU wird zur Gefahr für unsere Souveränität

Ein Gespräch mit Zdzisław Krasnodębski. Von Tomasz Sawczuk · 24 January 2022

„In der Tat bezahlen wir einen gewissen Preis für unseren internen Konflikt. Diese Teilung ist unsere Schwäche und unsere Gegner spielen uns damit aus. Heute brauchen wir an beiden Seiten Umsicht und kein Spiel mit den Stimmungen” – meint PiS-Europaabgeordnete Zdzisław Krasnodębski.

Tomasz Sawczuk: Europäische Politiker bekunden ihre Unterstützung für Polen im Hinblick auf die Lage an der Grenze zu Belarus. Im Sejm hat sich der Ministerpräsident bei den Partnern für ihre Solidarität gedankt. Ist das ein gutes Zeichen? 

Zdzisław Krasnodębski: Ja, das ist ein gutes Zeichen. Gewissermaßen selbstverständlich. Gefährdet sind auch die Interessen der EU. Obendrein ist diese Migrationskrise bekanntlich anders als die im Süden Europas. Diesmal wurde sie politisch motiviert verursacht und alle sind sich dessen bewusst. Die Migranten kamen an die belarussich-polnische Grenze, da sie durch das Lukaschenko-Regime geholt wurden, der zuvor zivilgesellschaftliches Leben zerstört und Wahlen gefälscht hat.

Geändert hat sich auch die Stimmungslage in der EU. 2015 herrschten unrealistische Vorstellungen von offenen Grenzen. Ich darf daran erinnern, dass Swetlana Tichanowskaja unlängst den Sacharov-Preis des Europäischen Parlaments bekommen hatte. Aus all diesen Komponenten ergibt sich die Unterstützung der EU, die allerdings sehr unterschiedlich ausfällt.

Der Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte, man dürfe Polen und Deutschland bei der Verteidigung der Grenzen nicht alleine lassen. 

Bei Seehofer war die Aussagekraft am stärksten, aber hat war schon immer den Schutz der Grenzen, auch 2015, befürwortet. In Deutschland ist seine Position eher Einzelfall. Die Grünen sind meistens dafür, Migranten aufzunehmen und auf die EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. Die Unterstützung für Polen ist eher verbal und je nach Staat unterschiedlich. In Deutschland ist sie sicherlich geringer als woanders. Die Änderung besteht darin, dass heute die Idee einer aktiven Grenzsicherung öffentliche Akzeptanz findet.

Die EU bietet Polen Hilfe beim Schutz der Grenzen. Warum will Polen die Unterstützung nicht annehmen?

Bis jetzt war kein Bedarf da. Bedarf gäbe es lediglich an finanzieller Hilfe. Zweitens gehört die Verteidigung der Grenzen vorrangig zu Eigenaufgaben des Staates. Drittens sieht es beim Zugangsverbot für die Journalisten in der grenznahen Region ähnlich aus. Auch das wird kritisiert. Wenn man aber Kommentare liest und die Rolle der Medien aus den Anfangszeiten der Krise beobachtet, kann man feststellen, dass es nicht nützlich war. Die Medien haben vielmehr die Gefühle hochgeschaukelt.

Internationales Engagement könnte zu Verschärfung der politischen Krise führen. Vielleicht wird es irgendwann unvermeidlich. Es würde allerdings eine gewisse Einheit in der Einschätzung der Lage von Seiten der Staaten erfordern. Jetzt ist sie vielleicht größer als sonst, aber es ist offen, ob die Konflikte unter den Polen vielleicht doch auch das restliche Europa spalten werden. Die EU ist kein Staat, kein einheitliches politisches Gebilde. Im Gegenteil. Sie erlebt turbulente Spaltungen und wird durch politische Unterschiede erschüttert. Ich weiß somit nicht, ob die Internationalisierung des Konflikts u.U. zur Schwächung unserer Position gegenüber Lukaschenko und Putin führen würde.

Während der Parlamentssitzung hat die Regierung die Gemüter doch selbst erhitzt, vor einer ernstzunehmenden Gefahr gewarnt und der Ministerpräsident Morawiecki hat um Einheit appelliert. In der Praxis sieht das Narrativ der Regierung gar nicht danach aus, als ob man die Lage im Griff hätte. Vielmehr ist die Rede davon, es sei eine Mobilisierung notwendig. Es gibt auch ein Argument, dass soweit Polen Fronten in Brüssel eröffnet hat, wäre eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der EU zum Thema Grenze für uns politisch von Vorteil, auch wenn es, wie Sie sagen, nicht notwendig sei.

Die Lage ist ernst, aber momentan haben wir sie im Griff. Der Schutz der Grenze ist eine Aufgabe des Staates. So behält der Staat seine Subjektivität. Bekanntermaßen soll der Staat für den Fall eines hypothetischen Krieges mit Russland davon Gebrauch machen, dass wir NATO-Mitglied sind und sich in einem Bündnisfall gemeinsam verteidigen. Ich glaube aber nicht, nachdem ich die politischen Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten kenne, dass eine Internationalisierung des Problems positive Auswirkungen hätte. Es würde die Position Polens und folglich auch die der EU schwächen.

Ich bin aber der Auffassung, dass die Sitzung des Parlaments ziemlich aufbauend war, denn in der Vergangenheit war das Niveau der parlamentarischen Debatte erschreckend. Jetzt waren sich alle einig, dass es in unserem Interesse liegt, es zu verhindern, Polen zur Migrationsroute oder einem Ort werden zu lassen, an dem die Entwicklungen von den Diktatoren aus dem Osten ausgespielt werden. Ich erkenne die Tragöde von einigen Personen, von den ersten Migranten, die Opfer der Desinformation sein konnten. Heute hat aber die Angelegenheit einen ganz anderen Charakter. Ich glaube nicht, dass Personen, die die polnische Grenze stürmen, nicht Bescheid wüssten. Sie kommunizieren untereinander ausgezeichnet. Also das Signal, die Grenze wäre offen und man kann versuchen, über Polen nach Deutschland und in andere Länder zu gelangen, würde die Lage in Polen und schließlich in der ganzen EU vollständig destabilisieren.

Und ist die Ablehnung einer Unterstützung parteipolitisch motiviert – um zu zeigen, dass das Regierungslager der ausschließliche Garant der Sicherheit in Polen ist? Das würde zu dem breiter angelegten Narrativ passen, PiS sei eine Partei der Souveränität und Sicherheit  und alle, die daran zweifeln, gegen das polnische Interesse handeln. Wenn die Lage außerordentlich ist, läge es dann nicht in der Verantwortung der Regierung, die Stimmung zu beruhigen und selbst die Hand zu politischen Gegnern auszustrecken?

Ich hatte nicht den Eindruck, dass es sich im Sejm darum ging, einen Gegensatz von Regierung und Opposition herzustellen.

Minister Kamiński hat vom Rednerpult die Opposition angegriffen. Kurz, nachdem Ministerpräsident Morawiecki in seiner Rede zur Einheit aufgerufen hatte. 

Er sagte, man sollte nicht stören. Entschuldigung, aber an der Grenze haben sich beschämende Szenen abgespielt. Da waren zwei First Ladies, ein Abgeordneter, der mit Proviant herumläuft, usw.

In der Tat bezahlen wir einen gewissen Preis für unseren internen Konflikt. Diese Teilung ist unsere Schwäche und unsere Gegner spielen uns damit aus. Soweit es aber darum geht, der Sache eine EU-Dimension zu verleihen und Medien zuzulassen, kommen Fragen des Vertrauens und der gemeinsamen politischen Ziele ins Spiel. Es gab zu viele falsche Nachrichten über Polen. Abscheuliche und weit verbreitete falsche Nachrichten.

Zum Beispiel?

In einem Webinar, das ich in letzter Zeit veranstaltet habe, hat ein Philosoph darüber gesprochen, die Polizei hätte in Polen die Demonstranten brutal angegriffen. Das ist horrend. Oder die „LGBT-freie Zonen”, definiert als Zonen, in die die Homosexuellen keinen Zutritt haben. Das sind allesamt falsche Nachrichten. Das gilt auch für die Situation an der Grenze.

Wir brauchen politische Unterstützung, um diese bemühen uns. Sicherlich sollten wir diplomatische Bemühungen verstärken. Ein Teil der durch die Opposition während der Parlamentsdebatte gemeldeten Bemerkungen hatte wohl Sinn. Sicherlich ist eine inhaltsbasierte Diskussion möglich. Aber bei einem Teil der Opposition kommt auch die Bestrebung, die Verantwortung auf die UE zu übertragen. Die EU wird rituell als magisches Rezept gegen alle Probleme dargestellt. So ist es nicht. Dieser Standpunkt ist irrational und ein Anzeichen des naiven Europäismus. Die Polen sind sehr oft gerne bereit, an die EU in jeder Angelegenheit zu appellieren. Der Stärkung des polnischen Staatswesens dient das nicht.

Der von Ihnen genannte Philosoph meinte wahrscheinlich die Geschichte der weiblichen Abgeordneten, gegen welche die Polizei während einer Demonstration Tränengas eingesetzt hatte. Mit dem Slogan „LGBT-freie Zonen” sollen LGBT-Personen ausgegrenzt werden – es ist klar, dass es sich hier nicht um den physikalischen Zutritt handelt. Kommen wir aber zurück zu dem vom Ministerpräsidenten geäußerten Appell zur Einheit. Gleichzeitig zeigt der Fernsehsender TVP einen Bericht von der Grenze und deutet im Live-Ticker an, die Opposition hätte den Ansturm auf Polen unterstützt. In einer solchen Situation fällt es schwer, Aufrufe zur Einheit ernst zu nehmen.

Polnische Polizei greift außerordentlich sanft. Und ich weiß nicht, was Sie mit der „Ausgrenzung” meinen.

Das Fernsehen ist eine andere Geschichte. Ich bin kein großer Fan der polnischen öffentlich-rechtlichen Medien bis auf TVP Kultura. Aber um sich ein Bild zu machen, schalte ich auch die andere Seite ein – sie ist noch stärker verbissen.

Man kann doch PiS von den öffentlich-rechtlichen Medien nicht trennen. Das ist die zentrale Komponente der Politik der jetzigen Regierung. 

Meines Erachtens gibt es die Frage der Verletzung des grundlegenden Vertrauens zwischen den politischen Gruppierungen in Polen – nach den Szenen an der Grenze und in anderen Angelegenheiten; wegen dem beschämenden Niveau einiger Abgeordneten, die Happenings veranstaltet haben.

Herr Professor, ich spreche über das politische, aus Steuergeldern in Milliardenhöhe finanzierte Räderwerk und Sie kommen wieder auf den Abgeordneten mit einer Tüte zurück. Es ist wirklich eine andere Dimension, ich kann es kaum glauben, dass Sie es nicht bemerken.

In die gegen die Regierung gerichtete Propaganda wurden auch Milliarden Zloty oder Euro investiert. Also ich würde diese Aktivitäten nicht unterschätzen. Wobei ich nicht ausschließe, dass die Motivation in einigen Fällen aus dem abstrakten Humanismus kommen könnte, aus den im Grunde genommen edlen Beweggründen, die jedoch keineswegs Wirklichkeitsbezug haben.

Manchmal muss man harte Entscheidungen treffen und sich nicht von Emotionen leiten lassen, die in der heutigen Politik leider enorme Rolle spielen. Diese Emotionen spielen auch Putin und Lukaschenko aus. Ich darf an dieses berühmte Foto eines toten Jungen am Strand aus dem Jahr 2015 erinnern… Aus verständlichen Gründen erregen solche Bilder eine Welle des Mitleids und der Empathie und führen zu Entscheidungen, die der Lösung des Problems nicht dienen.

Heute brauchen wir an beiden Seiten Umsicht und kein Spiel mit den Stimmungen. Das ist sehr schwer bei einem internen Konflikt zu erreichen, der seit sechs Jahren dauert. Aber im Gegensatz zu Ihnen würde ich die Situation eher positiv einschätzen. In einer existenziellen Gefährdungssituation, nicht in der ersten, denn Pandemie war in dieser Dimension ähnlich, auch wenn es mühsam voranschreitet, finden wir eine gemeinsame Sprache. In solchen fundamentalen Fragen kann man noch einen Konsens finden, obwohl es schwierig ist insbesondere mit all diesen Abgeordneten und Celebrities an der Grenze, die jede Gelegenheit nutzen, um Verwirrung zu stiften.

Es fällt wirklich schwer, es ernst zu nehmen, wenn bei einer jeden Antwort auf die Frage nach der Politik der Regierung das Celebrities und Sterczewski, der nicht einmal Mitglied der Bürgerplattform ist, auf den Plan gerufen werden.

Irgendjemand hat ihn ausgesucht und auf die Liste gesetzt. Außerdem war er nicht der einzige – an der Grenze waren auch andere zu sehen. Einige Äußerungen im Sejm hatten auch einen ähnlichen Charakter – den eines Happenings.

Ich habe den Ministerpräsidenten und die Minister erwähnt und Sie reden von den Celebrities. Können wir bei den Vergleichen auf vergleichbarem Niveau bleiben? 

Sie wissen sehr wohl, dass die Opposition die Straße und die Celebrities ausgenutzt hat. Und ich meine hier auch einige Abgeordnete und andere Politiker der Opposition.

Gehen wir weiter. Das Thema der Grenze wäre ein Hinweis darauf, eine normale Zusammenarbeit zwischen Warschau und Brüssel sei möglich. Warum ist das eigentlich nicht alltäglich? In der jüngsten Zeit kamen von den Vertretern des Regierungslagers viele schlicht und ergreifend EU-feindliche Aussagen. Da hat etwa der Abgeordnete Suski gesagt, wir leben unter Brüsseler Besatzung. Warum ist ein solches Denken im Regierungslager vertreten? 

Legen wir die Rhetorik beiseite. Zum Glück fragen Sie nicht nach konkreten Äußerungen, sondern nach allgemeiner Einschätzung. Diese ist in der PiS-Partei vertreten, mehr noch – ich teile sie. Das kann ich gerne erläutern, ohne Wörter zu benutzen, die breite Wellen bei den Wählern schlagen und mit Wucht in die Medien kommen, wie „Besatzung”…

Halten wir jedoch fest, dass die Wörter ihre Bedeutung haben und Konsequenzen auslösen.

Selbstverständlich haben die Wörter ihre Bedeutung. Genauso so wie das Verhalten vom Abgeordneten Sterczewski und vielen anderen.

Das stützt auf unserer Einschätzung der Beziehungen mit der EU. In diesen manchmal übertriebenen, manchmal zu dick aufgetragenen Worten, steckt die Überzeugung, dass die europäische Integration nicht im Sinne der Verträge verläuft. Sie führt dazu, die Rolle der Mitgliedstaaten zu schmälern und bei einigen Ländern, darunter Polen, führt sie zur Einmischung in die internen Angelegenheiten. Somit wird die EU zur Gefahr für unsere Souveränität.

Selbstverständlich passiert es so, dass die in Brüssel getroffenen Entscheidungen, auch wenn sie Polen kurzfristig nicht passen, langfristig von Vorteil sind. Es sind allerdings Entscheidungen, die in Brüssel getroffen werden und einige Regeln unserer Wirtschaft, Energiewirtschaft usw. bestimmen. – und sind für uns sehr schwierig, häufig mit unserem Interesse nicht vereinbar. Immer stärkerer Eingriff von Seiten der EU weckt immer stärkere Befürchtung, dass wir immer mehr Fremdbestimmung erfahren werden. Die Bestrebung nach Zentralisierung der EU kann zu einer solchen Unterordnung Polens führen, dass unsere Souveränität gefährdet sein wird und es schon jetzt ist. Das hat mit starken Worten der Abgeordnete Suski zum Ausdruck gebracht. Obwohl meine Ansichten zum Thema EU nuancierter sind, teile ich diese Meinung  – und auch deswegen unterstütze ich PiS.

In der letzten Zeit wird die Rechtsstaatlichkeit zum Hauptthema zwischen Warschau und Brüssel. Da stellt sich eine juristische Frage, auf die Sie sich beziehen, inwieweit europäische Institutionen die Arbeitsweise eines Mitgliedstaats mitgestalten können. Es gibt auch eine politische Frage danach, ob andere Mitgliedstaaten gerne damit einverstanden sind, dass immer stärker autoritäre Staaten ein Teil der EU sind. Aber warum könnte man es so nicht einrichten, dass die Gerichte ohne Kontroversen reformiert werden? Alle werden dem beipflichten, dass die Gerichte schneller arbeiten und gerechtere Urteile fällen sollen. Da ist selbst die erste Vorsitzende des Obersten Gerichts Prof. Manowska, von der man doch nicht behaupten kann, sie würde die Einstellung der Opposition mittragen, der Meinung, jetzige Ausgestaltung des Justizlandesrates sei nicht richtig. Sie hat auch in einem Interview für die Zeitung „Dziennik Gazeta Prawna” angedeutet, sie könne aus Protest zurücktreten, falls der neue Entwurf des Reformgesetzes in Kraft tritt, an dem gerade in der PiS-Partei gearbeitet wird. Gibt es keinen einfachen Weg, das Problem zu lösen, also Änderungen einzuführen, deren Rechtsmäßigkeit und Übereinstimmung mit guten Praktiken nicht zu beanstanden wären? 

Sie machen eine idealistische Annahme, dass man einen Zustand erreichen kann, in dem sich alle darüber einig werden, was rechtmäßig ist.

Was die Erfüllung von demokratischen Standards angeht, so könnte man sich wohl in den meisten Fragen wohl einigen. In der Vergangenheit war es häufig so.

Das Recht unterliegt einer Auslegung, es hat Lücken. In der UE sind einige Abläufe völlig unvollendet. Letztens habe ich einen Juristen nach Strafen gefragt, mit denen Polen belegt wurde. Niemand weiß, wie sie beigetrieben werden sollen. Als Donald Tusk für die zweite Amtszeit des Präsidenten des Europäischen Rates gewählt werden sollte, hat es sich doch herausgestellt, dass es keine Verfahren zur Wahl des Vorsitzenden gibt.

Sie reden wie ein philosophischer Skeptiker: man kann nichts richtig wissen, nichts kann wirklich festgestellt werden. Begnügen wir uns bitte nicht mit solchem inhaltsleeren Argument.

Ich wollte nur sagen, dass das Gesetz immer Gegenstand von Kontroversen ist.

Und was ergibt sich daraus? Wir können einfach nach einer Lösung suchen. 

Man sollte eher den Einfluss der Politik auf die Justiz in einer breiteren Perspektive betrachten. Als Donald Trump seine eigene Kandidatin zum Obersten Gericht benannt hat, hatten alle den Verdacht geschöpft, dass sie selbst nach einer Niederlage Trumps den konservativen Standpunkt forcieren und die Ausgestaltung des amerikanischen Rechtssystems beeinflussen wird…

Argumentieren sie also, dass man alles machen und das Gesetz willkürlich auslegen kann?

Erstens zieht man überall vors Gericht und die Urteile hängen von der Weltanschauung der Richter ab. Zweitens ist die Frage des politischen Einflusses auf die Justiz überall kontrovers. In einer jeden Demokratie haben wir das Problem mit dem gegenseitigen Verhältnis der drei Gewalten. Die meisten polnischen Probleme sind nicht nur polnisch.

Sie sagen, man könnte die Reform weniger kontrovers durchführen. Da bin ich mir dessen nicht sicher. Aber auch nach meinem Gefühlt hätten viele Konflikte vermieden werden können. War die Reform gelungen? Sie war eher nicht gelungen, denn die Ziele wurden nicht erreicht. Aus Sicht der Bürger arbeitet die Justiz nicht besser. War sie notwendig? Meines Erachtens ja. Keine andere Regierung hat früher einen solchen Versuch unternommen. Hätte man die Vorwürfe vermeiden können, die Sie nennen? Das darf ich bezweifeln. Die Judikative kann nur politisch reformiert werden.

Ich stelle es überhaupt nicht in Frage, dass Vorwürfe und Kontroversen aufkommen können. Es handelt sich um eine konkrete Situation. Sie sagen, die Reform sei nicht gelungen. Man kann aber sagen, dass es in Wirklichkeit keine Reform gab, es gab allerdings Versuche personeller Säuberungen. Und das ist gelungen. Vielleicht ging es also bei dem ganzen Vorhaben einfach darum, die Richter ein wenig zu knechten – und sie wurden mindestens ein wenig geknechtet. 

Sie sind nicht wirklich geknechtet. Ich habe den Eindruck, das Gegenteil ist der Fall. Politische Benennung schließt die Unabhängigkeit nicht aus. In einigen Ländern wird der Status eines Professors ähnlich definiert – Freiheit der Lehre, aber die Benennung ist politisch.

Aber hier geht es nicht um die Unabhängigkeit, sondern um mehr Einfluss. Da wird etwa das Disziplinarverfahren für Parteizwecke genutzt. 

Ich bin auch der Meinung, dass man die Folgen der Justizreform objektiv bewerten soll. Sie war notwendig, Und über die Folgen kann man diskutieren. Aber die Feststellung, die Disziplinarverfahren nutze man für Parteizwecke, ist eine politische Übertreibung. Leider haben auch einige Richter den Berufsethos eines Richters aus den Augen verloren und sind Politiker geworden.

Sie erwähnten eine Ansicht, die den ersten Protesten der Opposition 2015 zugrunde lag und die für unser Land sehr schädlich ist. Und zwar, dass es sich bei der Reform darum handelte, die Justiz einer Partei zu unterwerfen und dass sich Polen in Richtung Autoritarismus bewegt. Unsere naiven Kollegen aus dem Westen haben es bereits 2015 geglaubt. Es sind Übertreibungen genau wie diese, die wir von den Politikern der Regierungspartei hören. Wenn aber jemand im Europäischen Parlament erscheint und so tut, als ob er George Floyd wäre, aber durch ein Wunder überlebt hätte da er der Ermordung durch die polnische Polizei nur knapp entkommen konnte, dann spielt er recht erfolgreich mit den Emotionen und Klischees. Wenn wir schon am Anfang die ganze Welt lautstark alarmiert haben, Polen wäre eine Diktatur und es wäre schlimmer als zu Zeiten des Kriegsrechts bzw. als in Belarus, dann ist so eine Atmosphäre für umsichtige und wirksame Reformen nicht förderlich.

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Schon möglich, aber Sie machen sich die Aufgabe leichter. Einmal betreiben Sie eine Polemik gegen den „naiven Europäismus”, anstatt die Frage zu beantworten, ein anderes Mal sagen Sie, es gebe politische Spaltungen und alle haben ihre eigenen Interpretationen, deshalb könne man im Endergebnis nichts feststellen. 

Nein, ich sage nur, die Lage ist komplexer und es gibt gewisse strukturelle Probleme, sowohl in der Frage der Justiz als auch in unseren Beziehungen zur EU…

Genau, wieder dasselbe. 

Es geht darum, dass es Probleme betreffend liberale Demokratie und EU gibt, die wir allgemein analysieren sollen. Und dann würden wir womöglich polnische Probleme mit anderen Augen betrachten.

In Ordnung, man kann Probleme allgemein sehen. Nun so kann man sehr schnell von einer Diskussion darüber abkommen, was konkret geschieht. Klar, wenn wir uns auf den Terminus „Autoritarismus” fixieren und binär prüfen wollen, ob Polen autoritär ist, dann können wir sagen, es sei nicht der Fall. Aber als Professor der Soziologie wissen Sie, dass das Thema damit nicht abgehandelt ist. Zwischen einer liberalen Demokratie und einem autoritären System gibt ein ganzes Spektrum von Staatsordnungen, es entstehen auch neue autoritäre Staatsformen wie etwa eine „souveräne Demokratie”.

Dann reden wir über etwas Handfestes. Hat irgendein Europaabgeordneter in einer Polen-Debatte Folgendes gesagt: „in Polen gibt es keinen Autoritarismus, das ist eine Übertreibung, reden wir über Probleme, die es auch in andern Ländern wie Frankreich oder Deutschland gibt?? Das wäre ein großer Erfolg.

Nehmen wir also für den Augenblick an, dass es sich tatsächlich um Missverständnisse, um unterschiedliche Auslegungen handelt. Was macht denn also unsere Diplomatie? Ist es nicht die Aufgabe der Diplomatie, die Situation zu klären und einen Zustand zu erreichen, der für Polen nicht schädlich ist, also z.B. die Einstellung von Zahlungen für unser Land zu verhindern, die wegen Ihrer Meinung nach konstruierter Probleme eingetreten ist? Schläft polnische Diplomatie etwa? 

Ich glaube, die polnische Diplomatie ist dabei, es zu klären.

Dann eher ohne Erfolg.

Wohl ohne Erfolg. Aber warum? Herr Minister Szymański stellt doch diese Probleme im UE-Rat fortwährend klar. Wir erläutern, wir tragen vor, wir übermitteln Unterlagen. Gleiches machen die Außenminister und die Botschafter bei ihren Treffen. Dieser Dialog wird sehr intensiv geführt. Warum klappt das nicht? Glauben Sie nicht, dass es eine psychologische Blockade an der anderen Seite gibt? Oder starke Interessen?

Es gibt auch eine einfache Hypothese, dass man gegen die Fakten nur schwer gewinnen kann: es gibt wirkliche Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit und da helfen keine Erläuterungen. 

Welche Fakten? Sie haben eben gesagt, in Polen gibt es keinen Autoritarismus.

Ich erläuterte ebenfalls, dass ein binärer Ansatz keinen Sinn hat. Man kann sagen, dass es eine Übergangsform zwischen einer Verfassungsdemokratie und dem Autoritarismus ist.

Na eben, seit sechs Jahren steuern wir auf eine Diktatur hin, was vielleicht mit dem Sieg der Opposition endet, und dann stellt es sich heraus, alles sei wieder in Ordnung.

Es muss kein planmäßiges „Hinsteuern“ sein und solch eine hybride Staatsordnung kann über einen längeren Zeitraum bestehen. Das wissen Sie doch. 

Machen wir einen Denkexperiment und Sie werden das Ergebnis in zwei Jahren überprüfen. So war es bereits im Zeitraum 2005-2007. Polen ging dem Verfall entgegen, es war bereits autoritär und dann siegte die Opposition und Polen war ein brillanter Leader der EU. Ich bin zuversichtlich, dass in zwei Jahren, soweit die Opposition die Wahlen gewinnt, alles gut sein wird und es sich auf einmal herausstellt, dass der Autoritarismus vom Tisch ist – obwohl man dann die von PiS gebildete Opposition dämonisieren und ihr nahe stehenden Menschen entlassen und ausgrenzen wird. Das wird aber Rahmen der „Liberalisierung” und „Demokratisierung” Polens erfolgen.

Auf der Ebene der Fakten könnten wir über Details diskutieren. Es ist aber nicht so, dass sich die Europäische Kommission immer an die Fakten hält. Vielleicht nimmt sie manchmal Bezug auf die Fakten. Da möchte ich schon das Europäische Parlament und andere Institutionen außen vor lassen, die sich ihr eigenes Bild der Wirklichkeit malen. Selbstverständlich soll man die Absichten der Regierung besser kommunizieren. Es ist ein schwieriges Unterfangen, denn die Politiker werden durch die Medien beeinflusst und uns fehlten von Anfang an solche Kommunikationskanäle, die der Gegenpartei zur Verfügung stehen. Fast sofort wurden Klischees in Umlauf gebracht, denn in Polen entstand eine konservative Regierung was im modernen Europa nie übermäßig gerne gemocht wird. Hätte diese Reformen eine liberale Regierung durchgeführt, hätte es selbst bei großen Fehlern derartige Reaktion nicht gegeben. Aber ich stimme Ihnen zu, dass es insbesondere 2015 an guter Außenkommunikation fehlte. Und auf der diplomatischen Ebene wurden und werden solche Anstrengungen unternommen. Man darf nicht meinen, dass eine Person wie Minister Szymański auf Konfrontationskurs geht.

Sicherlich ist hier Minister Szymański nicht das Problem. Ich glaube, dass hier zwei Komponenten des Problems vorliegen. Die eine betrifft Fakten. Wenn der Justizminister und der Generalstaatsanwalt alle Richter am Obersten Gericht loswerden will, dann ist dies nicht zu verteidigen und es hilft hier kein Maß an Diplomatie. Es gibt eine Reihe von ähnlichen Fakten, was ich sehr bedaure. Die zweite Komponente ist die Diplomatie. In diesem Bereich hat Polen momentan keine kluge und überzeugende Vertretung. Und das bedaure ich ebenfalls sehr, denn es führt zu schlimmen Konsequenzen für das Land. 

Und warum meinen Sie es so? Nennen wir beispielsweise den Botschafter Wilczek oder den Botschafter Magierowski, Professor Czaputowicz, Minister Waszczykowski, Minister Rau…

Aber innerhalb unserer Regierung hat das Außenministerium keine größere Bedeutung, das wissen alle. 

Ich darf Sie nur daran erinnern, dass in Polen der Posten des Ministerpräsidenten neu besetzt wurde. Beata Szydło, die sehr populär war, wurde vom Ministerpräsidenten Morawiecki abgelöst, der auch um die internationalen Verhältnisse Bescheid wusste und sich gut verständigen konnte – und so wurde er in Brüssel wahrgenommen. Eine längere Zeit lang glaubte man, diese Gespräche bringen was. Es ist kein Mensch ohne Kompromiss- und Gesprächsbereitschaft.

Wenn Sie wirklich wissen möchten, warum ich so denke, dann würde ich sagen, dass es mit der Diplomatie aus zwei Gründen nicht klappt. Erstens verwenden die Politiker des Regierungslagers bei ihren Auftritten im Ausland Idiome aus dem polnischen Kulturkreis und insbesondere Lehnübersetzungen aus dem Sprachschatz rechtskonservativer Medien. Und das wird im angelsächsischen Raum überhaupt gar nicht verstanden. Zweitens geht es um die politische Haltung. Sie sagten, Verstöße gegen die Regeln gebe es überall, überall gebe es Kontroversen usw. Normalerweise folgen aber einem Verstoß gegen die Standards Scham, Entschuldigung oder politische Verantwortung. Indessen verletzt die PiS-Regierung die Regel und ist – übrigens ähnlich wie ihre Gleichgesinnten in der ganzen Welt – stolz darauf. 

Unser Gespräch verläuft problematisch, denn den Polen fällt ein Gespräch insgesamt schwer. Sie leben in ihrer Blase. Es ist ähnlich wie die Feststellung, „wenn wir Mitglied in einem Club geworden sind, müssen wir uns an die Clubregeln halten” oder „wenn wir in die feine Gesellschaft aufgenommen wurden, dann müssen wir uns wie diese feine Gesellschaft benehmen”. Das ist kindisch.

Sie wechseln das Thema, darum geht es nicht. 

Ich erzähle Ihnen eine Anekdote, die zeigt, wie ich die EU, aber auch Deutschland, wo ich fast dreißig Jahre verbracht habe und währenddessen die ganze Zeit in Polen gewohnt und auch gearbeitet habe, sehe. Ich war kürzlich zu einem Mittagessen, bei dem der deutsche EU-Botschafter erzählte, was nach den Wahlen in Deutschland passieren werde. Jemand fragte ihn, ob die Deutschen EU-Anhänger seien. Und er sagte, sie seien es selbstverständlich, aber manchmal findet er es merkwürdig, wenn er nach Deutschland fährt und Bekannte und Angehörige trifft, die ein idealisiertes Bild der EU haben, denn er „habe gerade Brüsseler Schützengraben verlassen”.

Hier in Brüssel geraten einfach unterschiedliche Interessen aufeinander und es wird ein harter politischer Kampf geführt. Es gibt einige Europaabgeordnete, die uns einfach hassen. Sie hassen einen bestimmten Typ des polnischen Wesens. Und es gibt Beamte und Juristen, die Regeln missbrauchen, die Recht beugen. Es gibt weit mehr Länder, in denen gegen die Rechtsstaatlichkeit stärker als in Polen verstoßen wird, durch und durch korrupte Länder, in denen Journalisten umgebracht werden.

Soll das bedeuten, dass man die Regeln missbrauchen darf`? 

Nein, aber es bedeutet, dass wir realistische Optik ansetzen sollen und die Welt in richtigen Verhältnissen betrachten sollen. Ich möchte Ihnen etwas sagen: die Wahl des Präsidenten des Europäischen Parlaments rückt immer näher. Und die schmeicheln sich schon ein, denn wahrscheinlich eben unsere Stimmen entscheiden werden, ob Sassoli für die nächste Wahlperiode gewählt wird, oder ob es jemand von der Europäischen Volkspartei sein wird. Und wissen Sie, da gehört etwa die Aussage von Manfred Weber, er unterstütze den Mauerbau, bereits zu diesem Wahlkampf. Da sollen wir also nichts idealisieren.

Ich idealisiere nicht eine Minute lang. Reden wir zum Schluss über Deutschland. Sie haben erwähnt, dass sie in diesem Land fast dreißig Jahre verbracht haben. Beobachten Sie die Koalitionsverhandlungen? Und welche Erwartungen haben Sie? 

Im Hinblick auf die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze, die wir am Anfang besprochen haben, kann man sagen, dass in einigen Fragen unsere Gespräche mit der neuen Regierung wahrscheinlich schwieriger als mit der alten sein werden.

Warum schwieriger? 

In der Klima-, in der Migrationspolitik können wir uns mit den Grünen einig werden, aber insgesamt vertreten sie eine ganz radikale Position. Die Liberalen vertreten einen extremen Standpunkt in Sachen Ethik, indem sie sich auf die Entscheidungsfreiheit berufen und einige Politiker sind Polen abgeneigt. Sie werden die Interessen deutscher Firmen in Polen sehr stark unterstützen und unserer Regierung wegen einiger steuerlicher Ideen zu Leibe rücken. Was SPD angeht, da liegt das Problem in ihren Beziehungen zu Russland. Der Einfluss von Gerhard Schröder ist in der Partei immer noch enorm. Jeder der Koalitionspartner wird eine härtere Position in einigen Punkten vertreten, in denen wir uns unterscheiden. Diese Regierung wird eine stärkere linke Prägung haben.

Selbstverständlich werden wir schauen, wie es in der Praxis aussehen wird. Realpolitik unterscheidet sich ein wenig vom Wahlprogramm. Bekanntlich kann man mit der SPD über historische Fragen besser reden. Die Grünen sehen Nord Stream kritisch und möchten den Staaten der Ostpartnerschaft helfen. FDP ist für weniger Regulierung in der Wirtschaft und wäre auf der EU-Ebene in einigen Fragen günstiger für Polen. Die Rolle Deutschlands in Europa ändert sich auch ein wenig. Jetzt kommt eine Übergangsphase und außerdem werden einige, unter deutschem Einfluss gestaltete Politikbereiche immer stärker kritisiert, wie es z.B. in der Energiewirtschaft beim gleichzeitigen Kohle- und Atomausstieg der Fall ist. Das Problem mit der deutschen Öffentlichkeit besteht darin, dass dieses Land zwischen extremem Idealismus und extremem politischen Brutalismus schwankt. Sie verstehen sich als „moralische Weltmacht”, insbesondere im Verhältnis zu Mittel- und Osteuropa, wo sie gerne als Lehrer auftreten, der einige Muster aufzwingen möchte. Das möchten Sie genauso mit Frankreich machen, aber da fehlen ihnen die Möglichkeiten.

Wir bleiben im Gespräch. Auf der EU-Ebene konnte man mit den deutschen Politikern in einigen Fragen gut zusammenarbeiten – dann aber mit unterschiedlichen Gruppierungen zu unterschiedlichen Fragen. Und da werden wir wohl auf ähnliche Art und Weise mit der künftigen Regierung zusammenarbeiten.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.