Latest / Auswirkungen von Klima und Pandemie auf die Demokratie

Drei Herausforderungen, die Angela Merkel nicht bewältigt hat

Yascha Mounk · 25 January 2022

Angela Merkel hat – obwohl sie die Menschenrechte und die wichtigsten demokratischen Werte zweifellos bewegen – in ihren vier Legislaturperioden als Kanzlerin eigentlich nicht viel getan, um sie zu verteidigen. Auch ihre Nachfolger werden in diesem Bereich höchstwahrscheinlich mehr reden als tun und obendrein werden sie manchmal in Versuchung geraten, faule Kompromisse mit Aurokraten zu schließen.

Vor einer nicht allzu zu langen Zeit, an den dunkelsten Tagen der Trump-Ära, schien Angela Merkel die wirklich letzte ernste Person auf der politischen Bühne zu sein. In einer Welt, in der die Vereinigten Staaten von einem Extremisten regiert wurden, Großbritannien immer tiefer in Chaos versank, Indien sich in Richtung Autokratie bewegte und Russland und China waren als Staaten immer repressiver, wurde eben die deutsche Kanzlerin fast einstimmig „Anführerin der freien Welt” genannt.

Als sie vor sechzehn Jahren das Amt der Kanzlerin übernommen hat, waren ihre Pendants im Ausland George W. Bush, Tony Blair, Jacques Chirac und Silvio Berlusconi. Jetzt geht sie in die Rente und die ganze Welt grübelt, wie es weiter geht – steht Deutschland vor Trumpisierung? Wird das Image eines Landes, das sich immer für den Schutz demokratischer Werte eingesetzt hat, in Vergessenheit geraten?

Diese Fragen stützen sich aber auf falsche Annahmen. Merkel war tatsächlich eine besonnene und humane Leaderin, sie war aber nie die letzte Hochburg des Anstandes in der Weltpolitik. Wenn sie ihren Posten räumt, wird Deutschland wahrscheinlich weiter von einem maßvollen Leader der Mitte regiert. Was noch betont werden soll, hat Merkel, obwohl sie zweifellos um die Menschenrechte und die wichtigsten demokratischen Werte tief besorgt war, in ihren vier Legislaturperioden als Kanzlerin eigentlich nicht viel getan, um diese Werte zu verteidigen. Und auch ihre Nachfolger werden in diesem Bereich höchstwahrscheinlich mehr reden als tun und zusätzlich werden sie manchmal in Versuchung geraten, faule Kompromisse mit Aurokraten zu schließen.

Merkels Abgang als Kanzlerin scheint nahezu den Lauf der Geschichte zu durchschneiden. Aber sowohl zum Guten als auch zum Schlechten wird sich ihr Land nach ihrem Abschied nicht viel ändern.

Dreifache Outsiderin

Um die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses einschätzen zu können, bedienen sich die Sozialforscher der statistischen Modellierung. Hätte jemand vor Jahren einschätzen wollen, welche Chance Merkel hatte, Bundeskanzlerin zu werden, würde die Antwort lauten: bestenfalls 1 zu 1 Million.

Als Frau, als Protestantin und dazu noch jemand aus der DDR, war Merkel in einer von Katholiken aus Westdeutschland dominierten Partei eine dreifache Outsiderin. Sie hatte weder Charisma noch oratorische Begabung – langen und geschwollenen Reden zog sie kurze und sachliche Statements vor. Selbst nachdem ihr geistiger Ziehvater Helmut Kohl sie zur Ministerin für Frauen und Familie ernannte, nannte er sie immer noch öffentlich „mein Mädchen”.

Der Status einer Outsiderin stellte sich aber überraschend als Merkels Trumpf heraus. Ende Neunziger Jahre – Anfang Nullerjahre brach in Deutschland ein Finanzskandal aus, in dem – wie es sich herausgestellt hat – führende CDU-Politiker verwickelt waren. Obwohl die meisten Christdemokraten damals schwere Zeiten erlebten, konnte die Öffentlichkeit anscheinend nicht glauben, dass das „kleine Mädchen“ Kohls irgendwas von den schmutzigen Geschäften der Jungs wissen konnte, die in der Partei an den Stricken zogen. Und eben dann – mit Entschlossenheit und kühlem Kopf, die ihr die Parteikollegen nicht zutrauten – nahm Merkel kategorisch Abstand von ihrem langjährigen Mentor und machte sich den Weg an die Parteispitze frei.

Nachdem sie die Wahl gewonnen und die Mehrheit erlangt hat, hat sie ziemlich schnell ihren eigenen, charakteristischen politischen Stil entwickelt. Ohne den großen Ehrgeiz, politische Agenda zu gestalten, hat sie taktisch alle großen Debatten ihrer Zeit „ausgesessen“, bis offensichtlich wurde, wie der Wind weht. Frei von Eitelkeit hat sie ihre Auftritte und die Teilnahme am öffentlichen Leben auf das Minimum reduziert. Merkel blieb so konsequent im Hintergrund, dass die Wähler:innen keine Gelegenheit hatten, von ihr müde zu werden, was mit ein Grund für die Dauer ihrer Karriere sein konnte.

Die Geschichte von Angela Merkel hilft uns, ihre politischen Stärken zu verstehen. Sie wuchs in einer Diktatur auf, konnte also glaubwürdig und mit tiefer Überzeugung über die Bedeutung der Freiheit und der Demokratie erzählen. Sie war „anders” und somit fähig, sich in die Lage der Ausgeschlossenen und an den Rand der Gesellschaft Gedrängten einzufühlen. Als Mensch der Mitte kam sie nicht in die Versuchung, mit der konservativen Wählerschaft ihrer Partei zu liebäugeln und ihnen zuliebe aggressive Äußerungen über Migranten oder Flüchtlinge zu machen.

Ein Teil dieser Geschichte hilft uns aber auch, ihre politischen Schwächen zu erläutern. Gemessen an ihrem Worten war Merkel eine bewundernswerte Leaderin. Gemessen an ihren tatsächlichen Maßnahmen – nicht immer. Unter Ihrer Regierung hat nämlich Deutschland drei größte Herausforderungen in den letzten zwei Jahrzehnten nicht gemeistert.

Foto: German Federal Government;

Drei Herausforderungen der Ära Merkel

Erste große Herausforderung kam nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, als südeuropäische Staaten in eine gefährliche Schuldenspirale gerieten. Ein entschlossener Leader hätte ihnen ein großzügiges Rettungspaket angeboten oder, alternativ, sie aus der Eurozone verdrängt. Stattdessen robbte die Europäische Union unter Merkels Führung durch ein tief destruktives Jahrzehnt ihrer Geschichte. Selbstverständlich blieb das schlimmste Szenario der „Verdrängung“ aus der Eurozone aus, aber die sozialen Kosten dieses „Erfolges” waren viel höher als es angesichts der Lage erforderlich war. Zusätzlich können die bis heute ungelösten strukturellen Probleme dazu führen, dass sich der Tragödie bei der nächsten Wirtschaftskrise wiederholt.

Zweite große Herausforderung war mit der Machtergreifung durch autoritäre Populisten in Mitteleuropa verbunden. Als Viktor Orbán seine ersten Wahlen gewonnen hat, konnte die Europäische Union Ungarn mit schmerzhaften Sanktionen belegen und das Abrutschen in Richtung Diktatur stoppen. Merkel sprach sich damals gegen entschlossene Schritte aus, und ließ Orbáns Partei in der christlich-demokratischen Fraktion im Europäischen Parlament bleiben. Jetzt ist Ungarn kein freies Land mehr. Mehr noch, andere rechtsextreme Leader gehen den von Orbán vorgezeichneten Weg – im Endergebnis können Autokraten in der EU einander schützen. Solidarisch sprechen sie ihr Veto gegen sämtliche Sanktionen aus, die Brüssel gegen sie verhängen könnte. Die EU hat den Augenblick verpasst, an dem angehende Diktatoren hätten gestoppt werden können – im Endergebnis sind wir kein „Club der Demokratie” mehr.

Bei der dritten großen Herausforderung handelt es sich natürlich um den Krieg in Syrien, der dazu geführt hat, dass Millionen Menschen angefangen haben, Schutz in Europa zu suchen. Dank den warmen Worte an die Flüchtlinge und dank der (anfänglichen) Verweigerung der Grenzschließung hat Merkel Anhänger in der ganzen Welt gewonnen – sie war aber nie richtig eine radikale Verteidigerin des Rechts auf Asyl, wie sie von internationalen Medien dargestellt wurde. Ihre Entscheidung, die Grenzen offen zu lassen hatte genauso viel mit ihrer eigenen, übrigens charakteristischen Art zu zögern die Entwicklungen abzuwarten sowie mit den bürokratischen Funktionsschwächen des Landes wie mit ihrer tiefen Verbundenheit mit der Idee des Schutzes der Menschenrechte gemeinsam. Und obwohl sich Merkel die ganze Zeit geweigert hat, zu sagen, dass sie die Flüchtlingswelle stoppt, was zur steigenden Popularität der rechtsextremen Alternative für Deutschland beigetragen hat, hat sie alles Mögliche gemacht, um es doch zu tun. Über eine Serie von Verträgen, die sie in all den Jahren mit Autokraten wie Recep Tayyip Erdoğan abgeschlossen hat, hat Deutschland gewisses Outsourcing der schmutzigen Arbeit, hier: der Grenzsicherung vollbracht. Und obwohl Deutschland weiterhin Flüchtlinge aufnimmt, haben die meisten von ihnen nun ein Problem, ins Land zu kommen.

Offenes aber langweiliges Rennen

Um Merkels Platz kämpfen jetzt drei Kandidaten und obwohl die Wahl immer näher rückt, scheint der Ausgang immer noch offen.

Theoretisch gibt es unter ihnen große Unterschiede. Armin Laschet, ein sanftmütiger Katholik aus Nordrhein-Westfalen, ist der Spitzenkandidat der CDU – Merkels Partei. Olaf Scholz, eloquenter ehemaliger Hamburger Bürgermeister – Kandidat des historischen Rivalen, also der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Die letzte Kandidatin ist Annalena Baerbock, junge Juristin aus Hannover, an der Spitze der Grünen, die als Bewegung des zivilen Widerstandes der achtziger Jahre entstanden ist.

Obwohl ihr Alter, Biografien und politischer Hintergrund offensichtlich unterschiedlich sind, positionieren sich alle drei erfolgreich als Politiker der Fortsetzung. Alle drei vertreten liberale Weltanschauung – aber ohne Radikalismus. Alle drei glauben an einen starken Betreuungsstaat, versprechen aber eine verantwortliche Steuerpolitik. Und alle drei verteidigen das Projekt NATO und halten USA für einen engen Verbündeten – aber nicht eng genug, um in das deutsche Militär so stark zu investieren, damit es zum ernsten Akteur in der Welt wird. Bei den Debatten haben die Moderatoren verzweifelt nach Fragen gesucht, die strittig wären und eine Diskussion auslösen könnten. Hinzu kommt, dass alle drei, als man sie gebeten hat, ihre Gegenkandidaten zu kritisieren, es höflich abgelehnt haben.

Im Endergebnis beobachten wir einen sehr spezifischen und von Handlungswenden gespickten, aber paradoxerweise auch außerordentlich langweiligen Wahlkampf. Obwohl die Wähler keine Ahnung haben, wer der nächste Bundeskanzler wird und welche Koalition entstehen kann, scheinen sich die meisten einig zu sein, dass es eh ohne größere Bedeutung bleibt.

Momentan sieht es so aus, dass die Sozialdemokraten gewinnen können, deren Untergang in den letzten Jahrzehnten unzählige Male prophezeit wurde – sooft ihre Umfragewerte nach und nach sanken. Scholz, der Anhänger linker Mitte nach dem Vorbild von Bill Clinton ist, hat seit dem Start des Wahlkampfes fest angenommen, dass sich die Wähler:innen langsam von seiner Ruhe und Kompetenz überzeugen lassen. Da sowohl Laschet als auch Baerbock ihren Wahlkampf „von einem bis zum anderen Fettnäpfchen” führen, kann diese anfangs geschmähte Strategie von Scholz mit Wahlsieg enden.

Zu Beginn des Wahlkampfes ging aus den Umfragen hervor, dass die Sozialdemokraten weit hinten am dritten Platz – hinter den Günen und den Christdemokraten landen. Jetzt haben sie die Nase vorne.

Noch Anfang August gab PredictIt – ein Online-Vorhersagemarkt – Scholz 1:20 Chancen, dass er der nächste Kanzler wird. Jetzt ist er der Favorit.

Können diese Wahlen Deutschland ändern?

Die gute Nachricht ist, dass die kommenden Wahlen das Land nicht wesentlich verändern werden. Unabhängig davon, ob die nächste Kanzlerin Annalena Baerbock bzw. der nächste Kanzler Armin Laschet oder Olaf Scholz wird, bleibt Deutschland – mindestens in der nächsten Zukunft – ein offenes und demokratisches Land. Die vorgenannten Personen haben nämlich weder den Hang noch die Lust, autoritäre Populisten nachzuahmen, die in den letzten Jahren in vielen Ländern dominierten. Zusätzlich ist die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD), die vor vier Jahren ihr Rekordhoch in den Wahlen erreicht hat, wird dieses Mal wahrscheinlich Stimmen verlieren.

Aber die schlechte Nachricht lautet genau gleich: diese Wahlen werden Deutschland nicht wesentlich verändern. In den letzten sechzehn Jahren war Deutschland keine so starke Hochburg der Demokratie und der Menschenrechte, für die es von den meisten internationalen Kommentatoren gehalten wurde. In der Ära Merkel wurden die Wirtschaftsbeziehungen zu China enger, der Bau einer Pipeline, auf die es Kreml ankommt, wurde forciert, die Position der in Polen und in Ungarn aufsteigenden Autokraten wurde gestärkt und es wurde eine Reihe von unmoralischen Verträgen mit Diktatoren, u. a. mit der Türkei geschlossen. Die gleiche Heuchelei wird wahrscheinlich weiterhin den festen Bestandteil der deutschen Außenpolitik darstellen – auch nach Merkels Abschied.

Wer viel Wert auf die Demokratie und Menschenrechte legt, hat keinen Grund zur Sorge. Er sollte aber auch keine allzu großen Hoffnungen auf die deutschen Leader setzen – weder die ehemaligen, noch die gegenwärtigen, noch die zukünftigen.

***

Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.