Grzegorz Brzozowski: Nicht nur unter polnischen Filmemachern wird Andrzej Wajda mit einem vielschichtigen Einfluss auf die Gesellschaft in Verbindung gebracht – sowohl durch seine Werke als auch durch Aktivitäten auf anderen Feldern. Sie selbst haben sich manchmal u.a. mit Jan Matejko verglichen…
Andrzej Wajda: Matejko, natürlich, er schuf die Akademie der schönen Künste in Krakau und das war sicherlich in gewisser Weise sein Lebenswerk. Am meisten zählte jedoch seine Malerei. Ich wirke nicht nur als Filme- und Theatermacher, sondern habe ebenso schon einige Bürgerinitiativen hinter mir. Manche waren gelungen, andere nicht. Die erste bezog sich auf die Entstehung eines Museums für japanische Kunst und Technik wie unsere Kyoto-Krakau Stiftung (Fundacja Kyoto-Kraków), die wir mit Krystyna noch in der VR Polen Ende der 80er ins Leben riefen. Damals war eine bürgerliche Initiative für einen Museumsbau und das noch aus privaten Mitteln etwas Unvorstellbares.
Łukasz Bertram: Sie beide haben allerdings einen solchen Versuch gewagt – gegen oder vielleicht neben dem System, weil die Initiative nicht im Untergrund stattfand. Bedeutende Narrationen über die VR Polen zu den Einstellungen der polnischen Gesellschaft gegenüber dem kommunistischen System, wie sie etwa der Feder von Krystyna Kersten, Andrzej Friszke u.a. entstammen, konzentrieren sich auf die Spannung zwischen dem Phänomen des Widerstandes und der Anpassung. Unglaublich oft waren diese beiden Haltungen miteinander verflochten. Wo sehen Sie ihren Platz in einer solchen Aufteilung?
Andrzej Wajda: Diese Haltungen waren unvermeidlich. Ich begann meine Arbeit in den 50ern. Den ersten Film „Pokolenie“ (Eine Generation) machte ich in den Jahren 1954-55. Er sollte zum 10-jährigen Jubiläum der Volksrepublik Polen entstehen. Als der Film jedoch vom Politbüro gesichtet wurde, teilte man mir mit, dass er auf keinen Fall das offizielle Werk zu diesem Anlass sein dürfe. Vorbild sollte natürlich die „Junge Garde“ von Sergei Gerasimov sein, wo die Helden das starke Bewusstsein einer patriotischen Mission ausstrahlen. Meine Charaktere waren dagegen Jungs, die zwar keine Mitglieder der Heimatarmee, sondern der Volksgarde waren, aber einfach das Leben der damaligen Zeit lebten. Eine Zeit, an welche ich mich noch gut erinnere.
Der Film beinhaltet die einzige Szene in der polnischen Kinematografie, in der den Aufständischen aus dem Ghetto, die durch die Kanäle fliehen, geholfen wird. Ein gutes Dutzend Jahre später erzählte uns Marek Edelman von dieser Flucht. Seine Geschichte deckte sich wortwörtlich mit dem, wie ich die Szene gedreht habe. Er hatte es selbst erlebt – doch Bohdan Czeszko, Autor der literarischen Originalvorlage von „Eine Generation“, war in der Volksgarde gewesen und kannte solche Geschichten oder hatte sogar an ihnen teilgenommen.
Grzegorz Brzozowski: War das der Moment, in dem ihnen klar geworden ist, dass der Protagonist ihrer Filme in erster Linie eine Gemeinschaft ist, deren Erfahrungen sie auf die Leinwand projizieren werden?
Andrzej Wajda: In diesem Fall war etwas eingetroffen, das schwierig vorherzusagen war. Seit einiger Zeit funktionierte damals schon die Filmhochschule [in Łódź; Anm. der Übers.]. Doch es war der erste Film dieser Art, der durch seine Studenten, solche wie den Kameramann Jerzy Lipman und seine Assistenten realisiert wurde. Viele der Schauspieler bei „Eine Generation“ hatten dabei ihr Debut auf der großen Leinwand. Kurz gesagt war das die Generation – nur nicht die, die sich die politischen Auftraggeber vorgestellt hatten. Es war die Generation der Filmhochschule in Łódź. Die Stimme des polnischen Kinos.
Łukasz Bertram: Für mich persönlich ist es faszinierend, auf welche Weise ein junger Mensch, der sie in den Jahren 1949-50 waren, auf die Frage geantwortet haben, wo sich unter diesen Bedingungen der eigene Platz im Leben befindet? Auf der einen Seite diese Sehnsucht, seine Passion, das Drehen von Filmen, zu verwirklichen. Auf der anderen Seite das Bewusstsein, dass es sich dabei um einen Bereich handelt, der auf dem Feld der Kultur einem besonderen ideologischen Druck seitens des Systems unterliegt. Wie konnten sie das vereinen? Was konnte ein ehrlicher Mensch damals machen, um sich verwirklichen zu können, irgendwie im öffentlichen Leben zu funktionieren und gleichzeitig keine Ehrerbietung zu erweisen.
Andrzej Wajda: Ich hätte damals auf der Akademie der schönen Künste bleiben und weiter Malerei studieren können um nicht unter den Druck der Zensur zu geraten, die in der Kinematografie viel präsenter war. Aber ich hatte davor keine Angst und wollte nicht alleine sondern mit Menschen arbeiten. Und man sollte unterstreichen, dass ich keine Komplexe bezüglich der Vergangenheit hatte. Ich habe meinen Schwur in der Heimatarmee mit 15 Jahren abgelegt. Nach der Verhaftung meiner Anführer im Jahr 1944 versteckte ich mich bei meinem Onkel in Krakau. Aber als die Rote Armee kam, spürte ich keine Versuchung, in den Wald zu gehen.
Nicht ich habe über Polen in Jalta entschieden. Ich habe verstanden, dass jetzt eine Welt hereingebrochen ist, in der ich selbst für mich verantwortlich bin – natürlich mit der Vergangenheit, mit dem wie mich mein Vater und meine Anführer geformt haben. Es sollte sich aber keiner mehr einmischen und mir einreden, wie ich mich in dieser neuen Realität zurechtfinden soll.
Krystyna Zachwatowicz: Die Exilregierung rief dazu auf, den bewaffneten Kampf zu beenden und sich dem Wiederaufbau des komplett zerstörten Landes zu widmen, sich aber nicht in den politischen Strukturen zu beteiligen. Mein Vater war während der Besatzung Bevollmächtigter der Exilregierung im Land (Delegatura Rządu na Kraj) und es war für mich ganz klar, dass man sich sofort an die Arbeit, an den Wiederaufbau, machen sollte. Das war ein ganz klarer Hinweis für die Lebensführung der Menschen, mit denen ich in meiner Jugend zu tun hatte.
Grzegorz Brzozowski: Der Eintritt in die Filmszene in der Hoffnung, der politische Duktus würde sich umgehen lassen, erwies sich als illusorisch. Das Merkmal ideologischen Charakters wurde bald sogar ihrem auf den ersten Blick wohl unpolitischsten Film „Niewinni czarodzieje“ (Die unschuldigen Zauberer) zugesprochen. Kann ein Filmemacher – vor allem wenn er im Namen einer Gemeinschaft spricht und gesellschaftlichen Einfluss ausübt – außerhalb politischer Bedingtheiten und Interpretationen seiner Werke funktionieren?
Andrzej Wajda: Sie müssen eine wichtige Sache wissen: Ich war nicht allein. In Polen hatte die Kinematografie eine zweistufige Konstruktion. Sie wurde – weil es nicht anders sein durfte – durch den Staat und die Hauptverwaltung der Kinematografie gelenkt, doch das Filmmilieu war sich bewusst, dass es alles tun musste, um die Verantwortung für die Filme an sich zu reißen.
Dies war weithegend aufgrund der Existenz von Filmteams möglich. Jedes Drehbuch musste vom politischen Regime gebilligt werden. Im weiteren Verlauf jedoch, bis ich die Aufnahmen nicht beendet, den Film nicht geschnitten und ihn der nächsten Kommission vorgestellt hatte, die sich ihn anschaute und darüber entschied, ob er in den Kinos und auf Festivals gezeigt werden durfte, geschah alles innerhalb des Teams. Deren Chefs oder literarische Leiter waren keine Beamten, sondern meine Kollegen wie zum Beispiel Jerzy Kawalerowicz oder Jerzy Bossak oder als literarischer Leiter Tadeusz Konwicki. Sie spannten einen gewissen Schutzschirm um die am meisten künstlerische Phase der Filmentstehung. Die Aufnahmen wurden, wenn man das so sagen darf, in Freiheit gemacht; polnische Filme schafften es leichter in die Welt , weil man die Freiheit spüren konnte, in der sie entstanden waren – ganz zu schweigen davon, dass man auch die Jugend fühlte.
Grzegorz Brzozowski: Vergleicht man die damaligen Zeiten mit denen nach 1989, dann unterstreichen sie gerne, dass man damals eine gewisse Haltung spüren konnte, eine Verantwortung des Künstlers gegenüber der Allgemeinheit, ein Gefühl, dass sie bei heutigen Filmemachern häufig vermissen. Aber diese Kommunikation mit dem Publikum – das Sprechen im Namen der nationalen Gemeinschaft, ihre Formung –nimmt in ihrem Fall bisweilen die Kontur eines Dichterpropheten an.
Andrzej Wajda: Nein, nein, nein. Ich war nie in meinem Leben bei irgendeiner Sache so aufgeblasen. Ich nahm das Drehbuch von Jerzy Stawiński für den Film „Kanał“ (Der Kanal), weil ich wusste, dass das, was er da beschreibt, der Wirklichkeit entspricht, weil er es erlebt hat. Deshalb fühlte ich, dass ich das Recht hatte, es als ein wirkliches Bild des Aufstandes auf die Leinwand zu projizieren. Persönlich habe ich den Aufstand nicht erlebt, weil ich zu dieser Zeit in Krakau war. Es war eher die letzte Etappe des Aufstandes, also die schwierigsten und schrecklichsten Ereignisse. Das Hinuntersteigen in die Kanäle und der Versuch, sich so zu retten, waren etwas, das die Welt – trotz der vielen Kriegserfahrungen – noch nicht gesehen hatte. In Polen wurde „Der Kanal“ zunächst eher gleichgültig aufgenommen. Aber als man ihn in Cannes gesehen hatte und er seine Reise um die Welt begann, haben die Teilnehmer des Aufstandes erkannt, dass in ihm Mut, Verzweiflung und Heldentum durch das Publikum auf der ganzen Welt wahrgenommen und erlebt werden.
Ich habe verstanden, dass jetzt eine Welt hereingebrochen ist, in der ich selbst für mich verantwortlich bin[…]. Es sollte sich keiner mehr einmischen und mir einreden, wie ich mich in dieser neuen Realität zurechtfinden soll.
Grzegorz Brzozowski: War demnach die Zuschreibung, dass sie die Stimme der Allgemeinheit sind, manchmal nicht unangenehm? War dieses Prädikat nicht damit verbunden, dass man von ihnen erwartete, eine Stimme des sozialen Gewissens, eine moralische Instanz der Wirklichkeit zu sein?
Andrzej Wajda: Mir sind einige Filme über unsere politische Situation gelungen, die, wie ich sagen würde, eine viel objektivere und echte Perspektive einnehmen, was der Grund dafür ist, dass man diese Filme irgendwie für das Abbild der damaligen Wirklichkeit hält. Unabhängig von jeglichen Problemen mit der Zensur war dies deshalb möglich, weil in Polen von der Bewilligung des Drehbuchs bis zur Fertigstellung des Films Freiheiten bei der Ausführung herrschten.
Und was heißt das schon: Allgemeinheit…? Wenn sie einen Film machen, dann machen sie ihn unabhängig davon, ob er eine Komödie oder was auch immer werden soll, nicht für sich. Es ist die Allgemeinheit, die ein Urteil über den Film und seinen Schöpfer fällt.
Krystyna Zachwatowicz: Es gibt Regisseure, die sich darüber keine Gedanken machen und die Filme zum eigenen Vergnügen drehen…
Andrzej Wajda: Vergnügen bleibt Vergnügen, etwas anderes ist jedoch das Bewusstsein dessen, wann der beste Moment zwischen der Leinwand, dem Publikum und dem Filmemacher entsteht. Wenn man den Film so umsetzt, dass das Publikum es sehen will, ohne sich ausmalen zu können, dass so etwas existieren kann. Solche Filme waren „Der Kanal“, „Popiół i diament“ (Asche und Diamant), „Człowiek z marmuru“ (Der Mann aus Marmor), „Człowiek z żelaza“ (Der Mann aus Eisen), aber nicht nur die politischen Filme. Niemand hat erwartet, dass ein Film wie „Ziemia obiecana“ (Das Gelobtes Land) entstehen kann. Niemand! Niemand ahnte, dass ein Film, basierend auf einem – bis heute – wenig bekannten Roman, so hohe Erwartungen befriedigen wird.
Łukasz Bertram: Es ist eine Sache, den Nerv des Publikums zu fühlen und diese Intuition zu haben, was der Rezipient erwartet. Aber ist es nicht eher so, dass diese Relation sich in einem bestimmten Moment wendet? Dann ist es der Film, der Kunstgegenstand, der Künstler, der die Repräsentanz der Vergangenheit gestaltet, die von einem bestimmten Kollektiv geteilten Bilder von Ereignissen, Prozessen und Gemeinschaften. In welche Richtung lenkten, ihrer Meinung nach, ihre Filme die Vorstellungen der polnischen Gesellschaft, wenn wir wahrscheinlich annehmen können, dass sie [die polnische Gesellschaft; Anm. der Übers.] sich zum Beispiel den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts mit den Bildern aus „Das gelobte Land“ und die Nachkriegsdilemmata der Menschen aus dem Untergrund mit dem Tod von Maciek Chełmicki [Hauptfigur aus Asche und Diamant; Anm. der Übers.] vorstellt?
Andrzej Wajda: Sie sprechen hier zu Recht von Bildern – denn das polnische Kino zeichnete sich dadurch aus, dass es bildhaft war. Deshalb konnte es leichter ein Publikum erreichen, das der polnischen Sprache nicht mächtig war. Ich finde, wenn ich etwas mit Bildern vermitteln kann, dann deshalb, weil hinter diesen Bildern etwas steht, was der Zuschauer versteht. Es ging nicht um Portraits von gemeinen Kapitalisten. Das Publikum war begeistert davon, dass die drei jungen Menschen den Mut aufbrachten, gemeinsam eine Fabrik zu bauen, oder sonst irgendetwas. Der Jugend wäre damals nie in den Kopf gekommen, dass man in ihrem Alter so viel erreichen kann. Das war in diesem Film das Wichtigste.
Grzegorz Brzozowski: Mich interessiert das Modell des Patriotismus, das in ihren Filmen auftaucht. Es wirkt, als ob sie versucht haben, die Probleme bei der Haltung eines romantischen Helden aufzuzeigen, der in sein Verderben gehen muss, damit er seine Aufgabe gegenüber der Gemeinschaft erfüllt. Denken sie, dass es ihnen mit ihren Filmen gelungen ist, eine Grundlage für eine moderne Spielart des Patriotismus zu legen, die darauf vorbereiten konnte, was nach 1989 geschehen ist? Wäre es nicht vielleicht besser gewesen, mit dieser Ansammlung von romantischen Referenzen radikal zu brechen und beispielsweise viel mehr von den Polen als Europäern zu sprechen?
Andrzej Wajda: Krysia und ich wussten, wie Europa aussieht, weil sie in Paris die Bühnenbilder für die Stücke von Witold Gombrowicz machte und dann nach Argentinien fuhr, um dort am Theater zu arbeiten. Ich konnte verreisen, um einen Film zu drehen, aber das nur ganz selten. Die Polen wussten nicht, wie der Westen aussieht, wie konnte man sich da auf ihn beziehen? Polen war in unserer Literatur. Wir erzählten über uns selbst und nicht darüber, was in Paris los war.
Krystyna Zachwatowicz: Es ist wichtig, was Józef Pinior einmal über eine Vorführung von „Der Mann aus Marmor“ in Wrocław in den 70er Jahren gesagt hat. Aufgrund der Atmosphäre, die im Kino herrschte, sah er darin – aus heutiger Sicht – die Präfiguration der „Solidarność“. Das hat uns sehr bewegt. Als Reaktion auf den Film haben die Leute die Gemeinschaft gefühlt. Wir haben diese Atmosphäre später in der Zeit der „Solidarność“ während des ganzen Jahres gefühlt, natürlich nur bis zum 13. Dezember.
Andrzej Wajda: Und warum? Es war der erste Film, den man verwirklichen konnte, in dem ein Arbeiter zur Staatsmacht spricht. Normalerweise sprach das Regime mit dem Arbeiter und er hörte zu. Hier fordert Birkut etwas von den Herrschenden, was er mit allen Konsequenzen bezahlen muss. Als das Publikum seinen Einsatz für die Arbeiterklasse gesehen hat, fühlte es eine gesellschaftliche Verantwortung. Genau diese Verantwortung war die „Solidarność“. Wir nahmen die Verantwortung an – ich, als Mensch der „Solidarność“, verhielt mich dementsprechend innerhalb des Filmmilieus.
Versuchen sie mal, das zu verstehen – warum es in Polen zur „Solidarność“ kam und in anderen Ländern nicht? Ich sage es Ihnen. Polen sind Individualisten, sie machen, was sie wollen. Ich zum Beispiel mache Filme und Kantor machte Theateraufführungen und fuhr mit ihnen durch die Welt. Polen erschien als das Land der echten Kunst. Damals entstand die Oppositionsbewegung und es wurden Protestbriefe verfasst. Zu mir kam jedoch niemand mit der Bitte, einen Brief zu unterzeichnen, weil die Oppositionellen wussten, dass es keine weiteren Filme geben würde, wenn ich das täte. Deshalb machte jeder das seine, sie riskierten eine Gefängnishaft und ich machte Filme. Aber all dies floss in die Gemeinschaft, in die „Solidarność“.
Krystyna Zachwatowicz: Das war so ein festgelegter Vertrag: alle Leute, die in der Opposition aktiv waren, ob Adam Michnik oder Kazimierz Brandys, haben zu uns immer gesagt: „Mach Du Filme, wir unterzeichnen“.
Łukasz Bertram: Sie haben meine nächste Frage vorweggenommen. Als sich Adam Michnik an die Zeit des KOR [Komitee zur Verteidigung der Arbeiter; Anm. der. Übers.] und der Niezależna Oficyna Wydawnicza [Unabhängiger Untergrundverlag; Anm. d. Übers.] erinnerte, ging er auf die Abwägungen der damaligen Oppositionellen ein: „Ist der ‚Mann aus Marmor‘ in den Kinos wichtiger als die Unterschrift Andrzej Wajdas unter einem Protestbrief?“. Sie haben schon gesagt, was sie für ein Verhältnis zu diesem Dilemma haben. Tat es ihnen aber nicht ein wenig Leid, dass sie nicht so stark auf der anderen Seite stehen konnten, wie es bei Wiktor Woroszylski, Kazimierz Brandys und Jacek Bocheński der Fall war?
Krystyna Zachwatowicz: Ich denke, dass wir ebenfalls auf der anderen Seite waren. Aber wir wussten ganz genau, wenn wir diesen Schritt gehen, würden wir keine Filme mehr machen können. Kazimierz Brandys hat uns stets gesagt: Ich habe einen Füller auf meinem Schreibtisch liegen und ihr – eure Kamera liegt verschlossen in der Produktionsfirma. Die heutige Jugend kann sich das nicht vorstellen – weil sie hier dieses Telefon nehmen könnte, um damit einen Film zu drehen. Man konnte die Zensur umgehen und ein illegales Buch herausbringen, bei einem Film war das unmöglich.
Grzegorz Brzozowski: Viele Filme, über die wir gesprochen haben, kreierten Helden ihrer Zeit. Nach 1989 haben sie oft erwähnt, dass es schwierig war, eine solche Figur zu fassen. Tut es ihnen manchmal Leid, dass sie kein Projekt realisiert haben, das einen solchen Helden hätte hervorbringen können? Hätte damals ein Film entstehen können, der die Situation des Wandels hätte aufnehmen können, dessen bestimmte Konsequenzen wir heute zu spüren bekommen – beispielsweise im Bereich der sozialen Ungleichheit?
Andrzej Wajda: Nein, ich muss sagen, dass ich mich zur damaligen Zeit als Künstler verirrt habe. Eine Sache könnte mich entschuldigen: Ich hatte zuvor ein Filmteam geleitet, in dem [Agnieszka] Holland, [Janusz] Kijowski und [Ryszard] Bugajski waren. Wenn es um die Kontinuität des polnischen Kinos geht, war dies mein Beitrag. Das war die Jugend, die über ein viel größeres politisches Bewusstsein verfügte als ich. Sie konnten aus ihren Elternhäusern Erfahrungen mitbringen, die ich nicht hatte. Mein Elternhaus hörte 1950 auf zu existieren, als meine Mutter gestorben ist, und eigentlich 1939, als mein Vater in den Krieg zog. Seit dieser Zeit war ich allein. Sie wiederum verstanden, was man sich zu Hause über die Politik erzählte. Das von dieser Gruppe erschaffene „Kino der moralischen Beunruhigung“ (Kino moralnego niepokoju) bildete einen Übergang von der einen Epoche in die nächste. „Przesłuchanie“ (Verhör einer Frau) von Ryszard Bugajski war der Film, der das Ende der Schaffenszeit dieses Filmteams bedeutete. Das waren nicht mehr meine Filme, obwohl ich in diesem Team „Bez znieczulenia“ (Ohne Betäubung) auf der Grundlage des Drehbuchs von Agnieszka Holland, „Mann aus Marmor“ und „Mann aus Eisen“ gemacht habe.
Unsere Euphorie nach 1989 verdeckte uns die dunkleren Seiten der Transformation. Wenn vielleicht Karol Modzelewski Drehbücher schreiben würde, könnte er eben über einen Mann schreiben, der sich in der neuen Situation nicht wiederfinden kann.
Die 90er Jahre waren natürlich die Zeit, in der es die Zensur nicht mehr gab. Man konnte politische Filme machen. Ich tat es nicht. Meine Entschuldigung lautet folgendermaßen: Ich war künstlerisch so in meiner Jugendzeit verankert, dass es schwierig war, nochmal so einen Durchbruch zu landen, wie mit „Asche und Diamant“ oder mit „Mensch aus Marmor“. Außerdem fand ich in der neuen Wirklichkeit nicht die Literatur, die sich kritisch zur Realität verhielt und mir als Drehbuch hätte dienen können. Übrigens erkenne ich in der polnischen Literatur bis heute kein solches Werk.
Außerdem – und das ist für mich sehr wichtig – wurde ich in den Juni-Wahlen 1989 zum Senator für den Wahlkreis Suwałki (Suwalken) gewählt und musste mich mit Sachen beschäftigten, die wichtiger als das Drehen von Filmen waren.
Krystyna Zachwatowicz: In Andrzejs Filmschule gab es damals ein Projekt, das es sich zum Ziel setzte, einen solchen Helden zu suchen. Niemand von den jungen Leuten war jedoch in der Lage, jemanden wie Birkut aus „Mann aus Marmor“ zu finden. Ganz bestimmt hat uns die Euphorie nach 1989, nachdem wir die längste Zeit unseres Lebens im Kommunismus verlebten, die dunkleren Seiten der Transformation verdeckt. Wenn Karol Modzelewski Drehbücher schreiben würde, hätte er möglicherweise über einen Menschen schreiben können, der sich in der neuen Situation nicht zurechtfinden konnte. Andrzej hat hingegen einen Film über Lech Wałęsa gemacht, weil wir es für einen Skandal hielten, dass ein Mann, der uns in die Freiheit führte, bespuckt und verekelt wurde…
Łukasz Bertram: Viele junge Menschen beziehen sich dennoch heute wieder auf das Phänomen der „Solidarność“. Sie haben einen Film über Wałęsa gemacht, der zum Bezugspunkt für viele junge Künstler wird. Was für einen Film über ihn, gemacht von einem aus der jungen Generation, würden sie gerne anschauen? Möglicherweise einen, der seine Tätigkeit als Präsident nach 1989 zeigen würde?
Andrzej Wajda: Ich möchte, dass die Jugend begreift, dass so ein Politiker wie Wałęsa seine Rolle zu einem bestimmten Augenblick gespielt hat. Seine Zeit war die der „Solidarność und er beteiligte sich aktiv an der Herbeiführung des Endes des Kommunismus. Er hat uns die Freiheit ohne Blutvergießen erkämpft und ist ein Held unserer Tage. Ob er für den Posten des Präsidenten geeignet war oder nicht, spielt keine Rolle. Vor allem heute, in einer Zeit, in der man die Geschichte von damals fabriziert und jemand anderen auf diesen Platz schiebt.
Grzegorz Brzozowski: Wenn die Realität nach der Transformation des Jahres 1989 es erschwerte, eindeutig einen Filmhelden zu benennen, so ermöglichte sie vielleicht dessen Kreation auf eine andere Art und Weise? Sie begannen gerade in dieser Zeit mit der Grünung von Institutionen.
Andrzej Wajda: Im Jahre 1989 kam die Freiheit. Wenn das also der Fall war, schmiss ich das Filmemachen und gründete mit Krystyna das Museum der japanischen Kunst, ich schuf die Filmschule, weil ich dachte, dass es nötig war. Überhaupt hatte ich tausende von unterschiedlichen Ideen, die ich in der Realität der VR Polen nicht realisieren konnte. Und was für eine Schule sollte ich aufmachen? Eine private, ich gründete eine Schule ohne staatliche Mittel, weil ich volle Freiheiten in der Lehre haben wollte und keinen, der mich prüfte. Darüber hinaus bekam ich die Unterstützung von Wojciech Marczewski, einen großartigen Regisseur, der in London und an zahlreichen Schulen der Welt Regie lehrte.
Grzegorz Brzozowski: Neben der Tatsache, dass sich nach 1989 schlichtweg neue Felder des sozialen Engagements eröffneten, ging es bei der Gründung einer solchen Institution wie dem Centrum Manggha auch um eine gewisse Staatsbürgerkunde? Wenn ja, wie sollte so ein Prototyp des Bürgers aussehen, den sie mitentwickeln wollten?
Krystyna Zachwatowicz: Nicht, was Polen für dich tun kann, sondern was Du für Polen tun kannst. Das ist für unsere Generation sehr klar, so wurden wir zu Hause und in der Schule erzogen, auch wenn der Kommunismus es – leider sehr erfolgreich – ausmerzen wollte. Deshalb hörten wir nach der Eröffnung des Museums Stimmen wie: „Woher haben die Wajdas so viel Geld? Warum hat es so lange gedauert? Die Preisverleihung war 1987 und sie eröffnen erst 1994. Wo war das Geld? Wahrscheinlich gut angelegt auf irgendeinem Konto.“ Das heißt, dass Menschen nicht wirklich glauben können, dass jemand etwas uneigennützig machen kann.
Andrzej Wajda: Ganz am Anfang, im Jahr 1987, gab es noch eine andere Komplikation. Ich bekam einen eindeutigen Hinweis, dass es angemessen wäre, bei der Preisverleihung 1987 in Kyoto einen Brief von General Jaruzelski vorzulesen.
Łukasz Bertram: In Zusammenhang damit, was wir schon bezüglich der Anpassung besprochen haben, handelte es sich um einen Kompromiss, den man nicht annehmen durfte.
Andrzej Wajda: Ich antwortete, dass ich lieber auf den Preis verzichte, wenn ich das tun sollte und so zogen sie den Vorschlag zurück. Aufgrund dessen konnte ich den Preis annehmen und damit anfangen, die von Feliks Jasieński in den 1920er Jahren an das Nationalmuseum in Krakau übergebenen japanischen Kunstwerke dort publik zu machen. Ich dachte mir, wenn jemand einen solchen uneigennützigen Schritt gegangen ist, diese alte japanische Kunst zu sammeln und sie einem Museum zu schenken, dann muss sich jemand finden, der sich für einen Ort einsetzt, damit diese Sammlung ständig gezeigt werden kann.
Polen ist ein Kulturland, es ist aber nicht zivilisiert. Aber was bedeutet Zivilisation? Das bedeutet, dass der Bürger so strukturiert ist, dass er seine Verpflichtungen gegenüber den anderen versteht.
Krystyna Zachwatowicz: Damals hat keiner geglaubt, dass wir in einem freien Polen leben werden können. So haben wir uns überlegt, was wir mit dem Preisgeld machen können. Es war von Anfang an klar, dass wir uns kein neues Haus bauen werden. Andrzej wollte schon damals eine unabhängige Filmschule gründen…
Andrzej Wajda: Das kam unter den damaligen Bedingungen nicht in Frage. Japan gefiel uns übrigens sehr. Es hat auf uns einen großen Eindruck gemacht, weil es ein zivilisiertes und kulturelles Land ist. Polen ist, man kann wohl sagen, ein Kulturland, zivilisiert ist es nicht. Aber was bedeutet Zivilisation? Das bedeutet, dass der Bürger so vorbereitet und strukturiert ist, dass er seine Verpflichtungen gegenüber den anderen versteht.
Grzegorz Brzozowski: Centrum Manggha fördert interkulturelle Kontakte, während wir es aktuell mit einer Flut von Haltungen des Misstrauens gegenüber dem anderen zu tun haben. Nicht selten werden dafür Symbole der polnischen Widerstandsbewegung [aus dem Zweiten Weltkrieg; Anm. der Übers.] oder der Verstoßenen Soldaten [die polnischen antikommunistischen Untergrundorganisationen; Anm. der Übers.] ausgenutzt, die in dieser Zusammenstellung sowohl einen romantischen als auch fremdenfeindlichen Bezug haben. Die Idee ihrer Institution hat in Bezug auf die Gesellschaft eine komplett andere Ausrichtung. Was fühlen sie, wenn sie mit einem solchen Ausmaß so gegenläufiger sozialer Ansichten konfrontiert werden?
Andrzej Wajda: Dieser scheinbare „Patriotismus“ ist grundfalsch und entsteht aus Angst. Wir haben Angst vor den anderen, deshalb müssen wir uns zusammenraufen, uns auf unsere Vergangenheit und Helden beziehen. Wir müssen zusammenhalten, weil dort, im Ausland, eine Welt existiert, die uns nicht will, nicht versteht und uns sogar falsch bewertet.
Krystyna Zachwatowicz: Es ist für mich schmerzhaft, dass man die Symbole des Widerstandes und des Warschauer Aufstandes nutzt. Ich erinnere mich an den 1. September 1944 in Warschau, als ich nach 5 Jahren deutscher Besatzung [wörtl. Gefangenschaft; Anm. der Übers.] plötzlich die polnische Fahne sah. Heute ist für mich das Benutzen dieser Fahne, überall, auf allen Demonstrationen – auch auf diesen voller Hass und Nationalismus – einfach ein Skandal.
Die „Solidarność“ war nicht nationalistisch. Am Anfang war sie sehr offen. Erst später bildeten sich solche widerlichen Bewegungen, wie die der „prawdziwych Polaków“ (echter Polen). In der „Solidarność“ gab es etwas Fröhliches. Ich erinnere mich an die Demonstrationen, meine Arbeit in der Region Masowien hier in Warschau. Alle waren positiv gestimmt. Es gab nichts Hasserfülltes. Die Kommunisten haben kurz vor der Einführung des Kriegsrechts behauptet, dass wir Erschießungslisten verfasst hätten. Alles eine komplette Lüge. Niemand dachte an so etwas, wir hatten keinen Machthunger, keine Rachegelüste.
Grzegorz Brzozowski: Noch eine Frage bezüglich der Rezeption ihres Gesamtwerks: Es werden ganz bestimmt bald Künstler auftauchen, die mit Ihren Werken in einen kritischen Dialog treten wollen, um sie mutig zu dekonstruieren. Welche Elemente ihres filmischen Stils würden sie besonders gerne in einer künstlerischen Auseinandersetzung sehen? Anders gefragt, wie stellen sie sich ein Anti-Wajda-Kino vor?
Andrzej Wajda: Das ist, glaube ich, nicht mehr meine Sorge. Eine Sache ist es, sich so ein Kino der Zukunft vorzustellen, eine andere, es zu realisieren. Sprechen sie doch mit ihren Altersgenossen, was sie sehen wollen würden. Ich kam 1980 in die Werft während des Streiks, da führte mich ein Werftarbeiter in den Plenarsaal und sagte, dass er sich wünsche, dass ich „Ein Mann aus Eisen“ mache und ich wusste, dass ich einen solchen Film machen muss.
Und heute? Patriotisches, nationales, katholisches? Das ist nicht dasselbe…
Diese Hundertschaften, Tausendschaften Protestierender auf den Straßen wollen ein weltoffenes Kino, so wie früher die polnische Filmhochschule. Sie haben keine Angst, unsere polnische Realität auf der Leinwand zu sehen.
Krystyna Zachwatowicz: Nun bitten wir sie um einen Rollentausch. Wir stellen ihnen eine Frage: Was für einen Film soll Andrzej machen?
* Das vorliegende Interview entstand im Rahmen der Verleihung des 8. Prof. Aleksander-Gieysztor-Preises, der von der Kronenberg-Stiftung der Citibank verliehen wird. Es wurde am 21. Juli 2016 veröffentlicht.
Aus dem Polnischen von Jakub Sawicki und Lukas Becht
*Photo by Kamil A. Krajewski / Muzeum Manggha